REV 15.05.2002

Charles Wylie/Maria Morris Hambourg (Hgg.): Thomas Struth

Rezensiert von Annette Emde
Redaktion: Claudia Sedlarz

Spaetestens seit dem Erfolg seiner grossformatigen Museumsfotografien Anfang der neunziger Jahre gilt Thomas Struth, neben Andreas Gursky und Thomas Ruff, als einer der wichtigsten deutschen Fotokuenstler. Dass dem Fotografen nun in den USA erstmals eine umfassende Retrospektive gewidmet ist - von Dallas ueber New York und Los Angeles bis nach Chicago wandert derzeit ein repraesentativer Querschnitt von Struths Arbeiten aus 25 Jahren -, erstaunt daher ebenso wenig, wie die Tatsache, dass die Ausstellung von einem Katalog begleitet wird, der als Struths bislang umfangreichste Publikation gelten darf. Der ueber 180 Seiten starke, schlicht mit "Thomas Struth 1977-2002" betitelte Ausstellungskatalog im Format eines Plattencovers, ist sorgfaeltig produziert und mit einer Tafel- bzw. Exponatenliste sowie einer Auswahl seiner bisher wichtigsten Ausstellungen nebst Literaturhinweisen versehen worden. Begleitet wird das Buch von Texten der jeweiligen Ausstellungskuratoren Charles Wylie, Maria Morris Hambourg, Douglas Eklund und Ann Goldstein.

Betrachtet man zunaechst die ueber 100 exzellent reproduzierten Bildtafeln, zeigt sich schnell, wie unterschiedlich die Facetten und Tendenzen von Struths Werk sind. Allerdings: Die Arbeiten sind weder nach chronologischen, noch nach thematischen oder motivischen Gesichtspunkten geordnet. Vielmehr wurden sie in eine - von Struth selbst zusammengestellte - Reihenfolge gebracht, die zu assoziativen Verbindungen einlaedt und nur in Ansaetzen einzelne Aufnahmen nach Werkgruppen ordnet. So bieten die Katalogseiten teils spannungsreiche Kontrastierungen: Hier steht eine erst in juengster Zeit entstandene, in lichtes Gruen getauchte, ueppige Dschungellandschaft neben einer fruehen, streng zentralperspektivisch angelegten Strassenflucht, die zu beiden Seiten von monotonen Haeuserzeilen flankiert wird. Dort erscheint eine eher triste Detailaufnahme einer Pariser Wohnhaussiedlung neben einer imposanten Innenaufnahme des Mailaender Doms. Eine klare Linie wird man bei Durchsicht des Katalogs vergebens suchen, was es dem in Struths Werk (noch) nicht bewanderten Betrachter nicht gerade leicht macht. Hinzu kommt, dass die Bildformate weder einheitlich noch massstabsgetreu abgedruckt sind - ganz unabhaengig davon, wie gross die Aufnahmen im einzelnen tatsaechlich sein moegen. Was nun hieran offenbar werden soll ist der inhaltliche Zusammenhang der Arbeiten untereinander: "Erst wenn man sieht, wie sich die Fotografien - quer durch Inhalte und Chronologie - gegenseitig praegen", wie Charles Wylie in der Einfuehrung des Katalogs hervorhebt, "erschliesst sich die Kunst Thomas Struths in ihrer ganzen Tiefe und Resonanz." (S. 9) Doch was hat eine dokumentarisch anmutende Strassenansicht mit einem alle Register der Sinnlichkeit spielen lassenden Dschungelbild zu tun? Die Gegenueberstellung von scheinbar Unzusammenhaengendem kann als Imitation von Erinnerung betrachtet werden, ein zentrales Thema in Struths Arbeiten. Denn so unstrukturiert oder doch zumindest unsystematisch wie sich die Katalogbilder zusammengefuegen, so widersinnig erscheinen auch in der Erinnerung oft Bilder, indem sie sich spontan vermischen, simultan erscheinen oder ueberlagern. Darum auch wechseln aeltere, kleinformatige Schwarzweissaufnahmen mit juengeren, grossformatigen Farbaufnahmen, die Struth seit Ende der achtziger Jahre - seit die technischen Voraussetzungen hierfuer existieren - herstellt.

So verwinkelt wie der Zugang zu Struths Werk hier vorgegeben ist, so vielgestaltig sind auch dessen Bezugspunkte und bis in die Gegenwart hineinreichenden Traditionszusammenhaenge. Kennzeichnend fuer Struth ist, dass er in seinen Arbeiten auf bekannte fotografische und/oder kunsthistorische, zuweilen auch filmische Bildtraditionen zurueckgreift, sie neu verknuepft und auf aktuelle gesellschaftliche Verhaeltnisse transformiert. Wylie bemerkt in diesem Zusammenhang, das Kameraobjektiv diene dem Kuenstler nicht dazu, "eine Hommage an das Werk seiner Vorgaenger anzustimmen (das in bezug auf die Architekturfotografie auch die unvergleichlich ruhigen und merkwuerdigen Paris-Ansichten Eugene Atgets einschliessen muesste), sondern dazu, die heutige Welt - unsere Welt - abzubilden." (S. 151) Das heisst aber keineswegs, dass solche Gemeinsamkeiten wie die mit den Stadtansichten Atgets irrelevant sind, steht doch das Gegenwaertige immer auch im Zeichen des Vergangenen.

Die grossformatige Farbaufnahme "Dallas Parking Lot, Dallas, 2001" etwa gibt den Blick auf ein nassgeregnetes, von dramatisch aufragenden Hochhaeusern hinterfangenes Parkdeck frei, auf dem einige Autos abgestellt sind. Struth knuepft hier an klassische Bildkompositionen an, in denen Vorder-, Mittel- und Hintergrund klar voneinander getrennt sind. Seine immer mit handwerklichem Perfektionismus konzipierten Bilder holen ihre Themen aus dem Bereich des Alltaeglichen. Dieser starke Kontrast, der zwischen dem Alltaeglichen und dem hohen aesthetischen Anspruch besteht, baut eine dialektische Spannung im Bild auf.

Bereits das Umschlagfoto des Katalogs, "Boats at Wushan, Yangtse Gorge/China, 1997", das eine weite chinesische Stadtlandschaft zeigt, wo am Horizont die Grenze zwischen Himmel und Erde verfliesst, gibt diese Dynamik zu erkennen. Die Komposition, die von dem Fluss mit den Schiffen im Vordergrund bestimmt wird, orientiert sich dezidiert am Formenkanon der Malerei, waehrend sich das Bild thematisch mit dem Verhaeltnis von Natur und Kultur auseinandersetzt.

In "El Capitan (Yosemite National Park), California, 1999" werden den Senkrechten der Kiefern am Bildrand rechts und links, die Diagonale einer Strasse an der etliche Autos parken, entgegengesetzt. Der im gleissenden Licht erstrahlende Felsen, der sozusagen als Bestandteil eines kulturellen Gedaechtnisses fungiert, ragt symboltraechtig vor dem blauen Himmel auf. Das Bild ist alles andere als ein zufaellig entstandener touristischer Schnappschuss. Im Gegenteil: Hier wurde mit Kalkuel eine eigene Bildwelt in Szene gesetzt. Solche Fotografien sollen sich einpraegen wie Erinnerungen.

Was hier ganz neue Qualitaet erreicht ist der aesthetische Faktor: Struth zielt in seinen Arbeiten auf eine Synthese historisch reflektierter und bildhaft artikulierter Aesthetik ab. Ueber dieses komplexe Eingebundensein in einen aesthetischen Traditionszusammenhang wird der Versuch unternommen, eine Meta-Ebene zu schaffen, auf der die Bedingungen fotografischer Repraesentation selbst mitreflektiert werden. Obwohl oder gerade weil Struth keine konkreten Vorbilder zitiert, hat der Betrachter bei Bildern wie diesen oft das Gefuehl eines Deja-vu-Erlebnisses. Auf diese Weise werden auch die Inhalte und Praegungen unseres kulturellen Bilderrepertoires aufgedeckt. Hierin steht Struth den Aufnahmen Andreas Gurskys, Jeff Walls oder Cindy Shermans sehr nahe, obwohl sich Struth im Gegensatz zu diesen stets innerhalb der technischen Grenzen des Mediums Fotografie bewegt.

Fotografie wird also nicht primaer eingesetzt, um Wirklichkeit abzubilden, sondern um auf andere Kontexte zu verweisen, nicht zuletzt auf den Kuenstler selbst. "Die Selbstreflexion, die seine Methode und die in seinem Werk verkoerperte Reflexivitaet auszeichnet, verbindet Struths Praxis ueber die Geschichte der Fotografie hinaus mit dem groesseren Kontext der zeitgenoessischen Kunst [...] und mit der Rolle, die die Fotografie im kritischen Diskurs zum Thema Repraesentation spielte." (S. 167) Ann Goldstein, beleuchtet in ihrem Textbeitrag diesen zentralen Aspekt in Struths Werk. Vor allem in den Museumsbildern, die Menschen beim Betrachten beruehmter Gemaelde zeigen, gelingt es Struth, das Grundproblem fotografischer Repraesentation anschaulich darzustellen. Wir als Betrachter von Struths Fotografien sehen hier Betrachter, die ihrerseits Bilder bzw. Skulpturen und Architekturteile betrachten, zu sehen beispielsweise in den Innenaufnahmen des Berliner Pergamon Museums. In den Fotografien sind die Haltungen der Menschen wie die sie umgebenden Skulpturen und Reliefs extrem formalisiert. Die Wirklichkeit ist genauso gestaltet wie ein Kunstwerk. Die Aufnahmen geben Aufschluss darueber, wie geordnet und geregelt der Blick auf die Welt ueber die fotografische Repraesentation ist. Eine Fotografie, so Goldstein, entsteht "aus den bildnerischen, formalen und gesellschaftlichen Beziehungen, die die Kamera, den Fotografen, das Motiv und den Betrachter untrennbar miteinander verknuepfen, und andererseits reflektiert sie diese Beziehungen." (S. 166)

Fragen ueber die Repraesentation und die Objektivitaet fotografischer Abbilder finden sich auch in der Architekturfotografie wieder, dem aeltesten, sich kontinuierlich in Struths Werk fortsetzenden Themenbereich. Fruehe Schwarzweissaufnahmen zeigen menschenleere Strassen von New York oder Duesseldorf. Die streng zentralperspektivisch ausgerichteten Strassenbilder erinnern in ihrer seriellen Reihung an die Typologien von Bernd und Hilla Becher. Doch gab Struth den nach einem festen Konzept ausgerichteten Ansatz bald zugunsten individueller, auf das spezifische Gepraege eines Ortes reagierender Bildkompositionen auf.

Obgleich diese Bilder zunaechst Fragen aufwerfen, die unmittelbar die Architektur betreffen, geht es dem Kuenstler nicht um Architekturkritik, wie beispielsweise seine Blicke auf die typisch deutsche Nachkriegsarchitektur zunaechst suggerieren, sondern um die generelle Analyse dessen, was Architektur als visuell gepraegte Form einer Lebenswelt zu repraesentieren vermag. Die Orte, die Struth in seinen Bildern zeigt, sind typisch fuer eine bestimmte Gegend, in der der Kuenstler in der Regel fuer laengere Zeit lebt, beobachtet und Erfahrungen sammelt. Ausgehend von der Frage, wie sich die Geschichte und Kultur eines Landes in seinem urbanen Aussenraum widerspiegelt, begibt sich Struth auf die Suche nach paradigmatischen Topographien, in denen historische Momente und einige Aspekte des kollektiven Gedaechtnisses in einer verdichteten Atmosphaere zum Ausdruck kommen. Fragen nach Erinnerung, Geschichte und kulturellem Kontext werden dabei stets mitreflektiert.

Seine Bilder spielen mit dem Eindruck von Objektivitaet, mit dem vermeintlichen Abbildcharakter der Fotografie, der bis heute auf subtile Weise gueltig ist. Deshalb werden sie oft als sachlich und irrtuemlicherweise gar als dokumentarisch bezeichnet. Tatsaechlich aber sind sie voller Teilnahme. Die poetische Dimension liegt gerade darin begruendet, dass sie nicht unmittelbar zutage tritt. Diese Kombination aus Realitaetserfassung und Poetisierung weist nicht nur zu Fotografen wie Atget. Affinitaeten ergeben sich auch zu Walker Evans oder Stephan Shore, die auf aehnlich sensible Art und Weise Strassen und ihre gebaute Umwelt fotografiert haben.

Struths Interesse nach strukturalen Zusammenhaengen erstreckt sich auch auf Menschen. Am deutlichsten wird das in den Familienportraets, die seit Mitte der achtziger Jahre entstehen. Auch hier geht es darum, verborgene Beziehungen sichtbar zu machen. Einfache, klare Kompositionen erlauben es dem Betrachter, Analogien zwischen den einzelnen Familienmitgliedern zu ziehen. Der Betrachter wird somit gleichsam zu einem Teil des Bildes. Ihre Wirkung erzielen die Bilder wesentlich auch dadurch, dass sie ueber die Aktualitaet der Aufnahme hinaus auf eine gemeinsame Geschichte, auf gemeinsame Erfahrungen verweisen. Die hier auftretende innerbildliche Spannung erzeugt vor allem eines: Dauer.

Die Fotoarbeiten von Thomas Struth sind diskursiv ausgerichtet und gestatten beziehungsweise bedingen einen vielschichtigen Zugang zum Werk. Die drei wissenschaftlichen Beitraege am Ende des Katalogs haben sich dementsprechend zum Ziel gesetzt, sich eingehend mit der Kunst Struths auseinanderzusetzen, "mit ihren Quellen, ihrem Rang und dem Beitrag, den sie geleistet hat." (S. 9).

Insgesamt unterscheiden sich die Texte durch unterschiedliche Blickwinkel auf das Werk, wodurch eine differenzierte Darstellung ermoeglicht wird. Die Texte, die von kleinformatigen Illustrationen untermalt sind - unter anderem von fruehen Gemaelden Struths -, belegen die den Aufnahmen zugrunde liegenden Assoziationsmoeglichkeiten und vertiefen zentrale Themenschwerpunkte.

Nun liesse sich die in den Beitraegen entfaltete Vielschichtigkeit noch praezisieren, etwa indem man den Umgang mit den bildernischen Traditionen noch deutlicher darlegte oder die Bilder auf ihre soziologischen Implikationen hin analysierte. Doch das kann und/oder will der Katalog, der ohne Zweifel eine Investition wert ist, nicht leisten. Der Katalog ist durchaus als eine anspruchsvolle Annaeherung an das ausserordentliche Potential des Werks zu bewerten und eignet sich sehr gut als Gesamtuebersicht zu Struths bisherigem Schaffen.

Wylie, Charles; Hambourg, Maria Morris (Hrsg.): Thomas Struth. 1977 - 2002, München: Schirmer Mosel Verlag 2002
ISBN-10: 3-8296-0045-3, 189 S

Empfohlene Zitation:
Annette Emde: [Rezension zu:] Wylie, Charles; Hambourg, Maria Morris (Hrsg.): Thomas Struth. 1977 - 2002, München 2002. In: ArtHist.net, 15.05.2002. Letzter Zugriff 05.11.2024. <https://arthist.net/reviews/190>.

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