REV 10.04.2002

Alarich Rooch: Zwischen Museum und Warenhaus

Rezensiert von Marc Schalenberg, Berlin
Redaktion: Claudia Sedlarz
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Wo und wie drueckte sich das Buergertum seit dem 19. Jahrhundert im Stadtraum aus? Diese durchaus faszinierende Frage bildet den roten Faden der vorliegenden, aus einer Bremer Habilitationsschrift erwachsenen Untersuchung. Sie verknuepft Aspekte der Kunst-, vor allem aber der Architekturgeschichte mit solchen der Soziologie resp. Sozialgeschichte. Die weiterhin eines festen Methodenkanons entbehrende "aesthetische Kommunikation" soll dabei helfen herauszufinden, "...inwiefern Architektur und Gestaltung in symbolischer Form Sozialsysteme mit strukturieren" (10). Als prima vista ueberraschenden zeitlichen Rahmen waehlt der Autor 1823-1920, - von Schinkels Entwurf fuer das Alte Museum bis zur "Ersten Internationalen Dada Messe". Bereits hierin drueckt sich auch der Fokus der Arbeit auf Berlin aus, wo sich Rooch zufolge "die Entwicklungsprozesse [der Urbanisierungsgeschichte] wie in einem Prisma buendeln" (12).

Fuer die Theoriebildung standen vor allem Pierre Bourdieu (mit seinen "Habitus"- und "Kapital"-Konzepten), aber auch Norbert Elias, Max Weber und Juergen Habermas sowie von ferne noch Marx und Adorno Pate. Sind also die makrosoziologischen Klassiker versammelt, so erstaunt bei einer sich als interdisziplinaer verstehenden Arbeit ueber "Raumaneignungen" der Verzicht auf (sozial- bzw. stadt-)geographische Studien. Die zu Rate gezogene empirische Literatur ist - bei einem derart weitreichenden Thema nicht weiter verwunderlich - breiter gestreut und nicht gerade vollstaendig. Dies zu kritisieren waere wohlfeil, aber bisweilen fragt man sich schon, nach welchen Kriterien der Autor eigentlich bibliographiert hat. Archivarbeit scheint nicht in die Studie investiert worden zu sein. Vielmehr lebt sie weitgehend von der Applikation theoretischer Ansaetze auf bekannte (und anderweitig bereits erforschte) Objekte, gruppiert um die drei "Inszenierungsraeume" Museum, Villa und Warenhaus. Der Autor bewahrt zu den dort zu beobachtenden "Raumaneignungen" des Buergertums grundsaetzlich eine kritische Distanz und wertet Bildung, Kunst und Geschmack primaer als Agenturen sozialer Differenzierung und mithin Herrschaft. Im Gegensatz dazu fallen die Kurzvorstellungen der Heroen der "Klassischen Moderne" wie Adolf Loos, Erich Mendelssohn, Marcel Duchamp oder El Lissitzky geradezu unkritisch aus.

Die Interpretationsleistung des Autors ist nicht gering, geht aber letztlich doch mit einiger Beharrlichkeit in die immer gleiche Richtung, naemlich die "Hegemonial-" ja "Kolonialisierungsbestrebungen der buergerlichen Kultur" (129) herauszustellen, welche den Stadtraum im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend gepraegt haetten. Das mag in der Sache, und zumal fuer die vom Autor ausgesuchten Beispiele, zutreffen; doch sollten, wenn es um symbolische Raumdefinitionen geht, nicht auch gegenlaeufige Tendenzen nachvollzogen werden? Ueber die fortdauernde monarchisch-militaerische Praesenz im (Berliner) Stadtraum erfaehrt man bei Rooch ebenso wenig wie ueber die Bemuehungen der Arbeiterbewegung um oeffentliche Sichtbarkeit. Eine Binnendifferenzierung des "Buergertums", an der von Sozialhistorikern seit Laengerem gearbeitet wird, wird zwar eingeklagt, aber nirgendwo wirklich umgesetzt. So bleibt durchaus unklar, um welches Buergertum es dem Autor eigentlich geht: Das Berliner? Das deutsche? Gar das europaeische? Gab es spezifische Differenzen zwischen den "Raumaneignungen" von Wirtschaftskapitaenen, Universitaetsprofessoren, Aerzten, Rechtsanwaelten, Pfarrern, Gewerbetreibenden...? Immer nur exemplarisch oder "symptomatisch" auf "Signifikanzen" einzugehen, ist dann unbefriedigend, wenn die Frage nach der Repraesentativitaet der gewaehlten Beispiele nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet wird. Eine wirklich genaue und um Vollstaendigkeit bemuehte Analyse etwa der Berliner Innenstadt haette wohl zu aussagekraeftigeren Ergebnissen fuehren koennen als die - mitunter zufaellig anmutende - Selektion einzelner Bauten, die sich mehrheitlich in Berlin befanden, aber wenn es gerade in den Argumentationsgang passt, auch in Chemnitz, Stuttgart, Koeln, London oder Paris stehen koennen.

Aehnlich beliebig wirkt die Wahl der Dada-Bewegung als Fluchtpunkt der Untersuchung. War die Destruktionslust auch im Bereich der Kunst um 1920 nicht doch ein sehr spezifischer Ausdruck der kataklysmischen, fuer die Betroffenen nicht selten traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Im Laufe der 1920er Jahre aufkommende, durchaus wieder "affirmativ" zu verstehende Bewegungen wie Art Deco oder der "Internationale Stil" in der Architektur werden bezeichnenderweise nicht mehr untersucht. Die Debatte um die Persistenz von "Buergerlichkeit" im 20. Jahrhundert, wie sie auch unter Sozialhistorikern gefuehrt wird, benoetigt einen weiteren Blick als den auf die fraglos spektakulaeren kuenstlerischen Avantgarden des ersten Jahrhundertdrittels.

Am schwerwiegendsten erscheint indes die Ausblendung des tatsaechlichen Verlaufs der vom Verfasser postulierten "Aesthetisierungsprozesse". Er verlaesst sich zu sehr auf die Evidenzen der Bauplaene und der urbanistischen Situationen, wohingegen die konkrete Rezeption durch die Zeitgenossen merkwuerdig blass bleibt. Gerade weil dies quellentechnisch nicht leicht zu fassen ist, waere hier die Bemuehung um Systematik wuenschenswert gewesen. Ein wenig zu haeufig betont Rooch zudem, dass die von ihm in den Blick genommenen sozialen Prozesse und deren raeumlich-aesthetische Manifestationen komplex, interdependent und symbolisch-transzendent seien. Fast will es scheinen, als sollte mit derartigen analytischen Allgemeinplaetzen von der schmalen empirischen Basis der Arbeit abgelenkt werden.

So legt man das Buch mit einem gewissen Unbehagen aus der Hand. Der Autor schneidet grosse, wichtige Themen an, ist ein guter Beobachter, insbesondere bei seinen exakten Beschreibungen architektonischer Details, diviniert Bedeutungen und hat ein soziologisch waches Auge. Dennoch vermisst man schmerzlich eine "mittlere Ebene", auf der die soziologische Vogelperspektive und die Grundrisse oder Fassaden einzelner Gebaeude zueinander finden. Eine Konzentration auf bestimmte urbane Milieus in ihren stadthistorischen und -soziologischen Zusammenhaengen haette hier Abhilfe schaffen koennen. Die unklaren Analyseparameter, eine fehlende chronologische und auch topologische Binnenstruktur der Arbeit, die oft willkuerlich anmutende Auswahl verschiedener, fast immer durch fruehere Forschungen erschlossener Bauten, ein im Holzschnittartigen verbleibender Begriff von "Buergertum" sowie oft im Enzyklopaedischen verharrende Kontextinformationen bieten doch Anlass fuer gravierende Einwaende. Vielleicht haette Rooch sich mehr von der strengen Saeulenordnung des Alten Museum als von Dada-Collagen leiten lassen sollen.

Rooch, Alarich: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823 - 1920) (= Artificium), Oberhausen: Athena Verlag 2001
ISBN-10: 3-932740-91-2, 313 S, DM 89.00, EUR 45.50

Empfohlene Zitation:
Marc Schalenberg: [Rezension zu:] Rooch, Alarich: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823 - 1920) (= Artificium), Oberhausen 2001. In: ArtHist.net, 10.04.2002. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/188>.

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