Braucht die Menschheit noch ein Buch über die DS? Mit dieser Frage begann eine Rezension über eine Publikation (1999) zur sogenannten „DS“, also dem mythischen Citroën DS.[1] Der Rezensent beantwortete seine Frage selbst mit einem vagen „Nein“. Im vorliegenden Fall jedoch ist sie mit einem entschiedenen „Ja“ zu beantworten. Denn der Medienwissenschaftler Gunnar Schmidt hat nun ein Buch vorgelegt, das die Kunst- und Designgeschichte um eine wichtige Analyse bereichert. Untersucht wird die Mythogenese der DS, die bereits beim Stapellauf 1955 begann und bis heute medial ausgebaut wurde. Schmidt nimmt sich dabei der verschiedensten Bildmedien aus Grafikdesign, Fotografie, Werbe- und Spielfilm sowie der bildenden Kunst an und gleicht sie mit literarischen Quellen ab. So entsteht eine Bild- und Kulturgeschichte jenes Automobils, das unmittelbar nach seiner Markteinführung alle Qualitäten eines Andachtsbildes angenommen hatte. Der Autor geht der Ikonisierung und Sakralisierung eines Industrieprodukts in ihren subtilen, vielfach kontingenten Entwicklungsschritten nach. Der bildanthropologische Ansatz erst lässt die semantische Verwurzelung der Bildpraxis in der Vormoderne deutlich werden. Die Design-Ikone DS – in der französischen Aussprache „déesse“: die Göttin – ist ein Werk vieler Akteure auch jenseits firmeninterner Bildstrategen. Schmidt verortet das Auto und seine Bilder in den Kraftfeldern von Ikone, Kunst und Mythos. Seine Studie steht exemplarisch für die enge Verzahnung von Design- und Kunstgeschichte. Darüber hinaus ist die Bildgeschichte, die die DS umrankt, Beleg dafür, dass Design weit mehr als dienstleistungsorientierter Problemlösungsprozess ist, wie es die gegenwärtige Kreativbranche suggeriert.
Zwei mediale Ereignisse lösten 1955 die Ikonisierung und damit Sakralisierung der DS aus: Zum einen erschien auf dem Titelblatt des Star- und Prominentenmagazins „Paris Match“ das neue Auto unter dem Titel „La nouvelle Citroën“ mit Gina Lollobrigida als Fahrerin, die sich fröhlich aus dem Seitenfenster lehnt. Die damals als „Sexgöttin“ verehrte Schauspielerin sorgte damit für die semantische Aufladung der Autogöttin. Und zeitgleich erschien unter dem selben Titel Roland Barthes’ Essay, der als textliche Reflexion die Deifizierung der DS legitimierte. Barthes’ Ansatz war eigentlich die Mythenkritik, wie Schmidt betont (27). Doch schlug sie unverhofft in Mythenlegitimation um, als die sie bis heute in der Zitationspraxis gehandelt wird. Dazu lieferten Textpassagen ihren Beitrag wie: „Ich glaube, dass das Auto heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist.“ Für Barthes ist die DS „offenkundig vom Himmel gefallen“. Wie der einflussreiche Autor zu dieser Deutung kommt, lässt er in seinem Essay offen. Schmidt vermutet, dass Barthes selbst bereits von der damals einsetzenden, andächtigen Bewunderung der DS und ihrer medialen Inszenierung affiziert war. Dazu mag auch der Salon de l’Automobile beigetragen haben, auf dem die DS im Herbst 1955 erstmals präsentiert wurde. Bezeichnend ist, dass das Auto als Kunstwerk ausgestellt war, von einem Zaun umgeben, damit es nur betrachtet und nicht berührt werden konnte. Die damals kursierenden Pressebilder zeigen dichtgedrängte Menschenmassen um den kreisrunden Zaun, in kontemplativer Betrachtung vertieft.
Das also förmlich vom Himmel gefallene Auto hatte einen fulminanten Start. Interessant an Schmidts subtiler Studie ist der aufmerksame Hinweis, dass die Messebesucher offensichtlich nicht nur auf Distanz zur DS gehalten wurden. Zumindest beschreibt Barthes, dass das Publikum „eifrig die Ränder der Fenster betastet, mit der Hand über die breiten Gummifugen streicht, […]“. Barthes nennt die Berührung der DS „Prostituierung“. Schmidt hingegen sieht darin zurecht das Auto als Berührungsreliquie. Die DS war von Beginn an eine rezeptionsästhetische Synthese aus Kunst und Kult, aus Distanz und Nähe, aus kontemplativer Betrachtung und ebensolcher Berührung, aus Visus und Tactus.
Die von der Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert begonnene Enthierarchisierung des Ästhetischen erfuhr in der DS ihre gänzliche Erfüllung. Letztere setzte sich unmittelbar in weiteren Ausstellungen fort, etwa der Design-Ausstellung „Triennale di Milano“ (1957), auf der Einzelteile des Autos (Lenkrad, Stoßstange, Türgriffe, Lampen etc.) wie skulpturale Kunstwerke in Vitrinen ausgestellt wurden. Der „ästhetische Eigensinn“ (43) der aus ihrem Zusammenhang gelösten Objekte machte aus der Autoschau eine Ausstellung der abstrakten Kunst. Sie wurde 2005 auf der Foire Internationale d’Art Contemporain (FIAC) in Paris in kontextueller Reinform wiederholt, denn nun waren die anatomischen Details der DS im Kunsttempel angekommen – unter dem Titel übrigens: „La DS est une œuvre d’art“.
Der enge Schulterschluss von Kunst und Design ist ein Wesensmerkmal der Mythogenese seit der Nachkriegszeit. Deshalb ist Schmidts Studie wegweisend, weil sie die facettenreiche Bildproduktion rund um das Auto erstmals in den Fokus nimmt, ordnet und damit exemplarisch den Sakralisierungsprozess von Designprodukten offenlegt. Nur so wird verständlich, warum auch in Gelehrtenkreisen bis heute bei der Erwähnung der DS stets von der „Technik- und Design-Ikone“, „zeitlosen Ikone“ oder dem „automotive icon“ die Rede ist. Die Penetranz des Ikonenbegriffs fordert zur Rekonstruktion seiner ursächlichen Bildgeschichte regelrecht heraus.
Schmidt hat die Herausforderung angenommen und reichlich Material gesammelt aus der populären Bildkultur der Broschüren, Magazine und Kinofilme, und seine Fundstücke immer dicht entlang der Schnittstelle zur Bildproduktion elitärer und populärer Kunstsysteme sortiert. Viele dieser Bilder sind von starker semantischer Kraft. Ihre Ikonographie stilisiert die DS als fliegendes Objekt, wenn in Ausstellungen das Auto auf einem dezenten Sockel ohne Reifen, in einem leicht aufstrebenden Neigungswinkel präsentiert wurde, wenn Produktbroschüren die DS (wieder ohne Reifen) schwerelos schwebend, leicht in der Untersicht darstellten, oder wenn die DS an Flughäfen und vor Flugzeugen (Concorde) abgelichtet wurde. In einer Zeit gesteigerter Weltraumeroberungssehnsucht und UFO-Erwartung war das ‚schwebende Raumschiff‘ DS eine ikonographische Meisterleistung. Während in den USA Straßenschlitten vom Fließband liefen, deren Raketenästhetik die Autos bleischwer anmuten ließ und sie optisch der irdischen Schwerkraft hilflos auslieferte, schien im Gegensatz dazu die DS die Verwirklichung des Traums der Schwerelosigkeit zu sein. In den Filmen Fantômas (1965), „Zurück in die Zukunft“ (1989) oder Eureka (2006) hebt sie dann tatsächlich ab. Über das fliegende Auto hinaus, das zeigen die Bildrecherchen Schmidts sehr deutlich, war die ikonische Mythogenese der DS ein entscheidender Beitrag zur nationalen Identitätsstiftung Frankreichs während des europäischen Wirtschaftswunders der 1950er und 1960er Jahre. Helmut Newton nahm sich der fotografischen Assoziation von DS und Eiffelturm an (1974). Und in der Kunstwelt thematisierte Gabriel Orozco die Kunst der Verwandlung hin zu einer fragilen Schmalform des Autos, das nun zur ‚reinen‘, also hinreichend funktionslosen Kunst erstarrt (1993).
Schmidts Studie ist erfrischend und anregend, denn sie ist wie eine, man möchte schon fast sagen: ethnographische Bildanalyse, die am Beispiel der DS den Mechanismus der visuellen Mythogenese des Designs erklären hilft. Sie verläuft wie gesagt zweigleisig: Zum einen sorgten Bild- und Textzeugnisse für eine breitenwirksame Bekanntmachung der DS und ihre Überhöhung zur Ikone. Zum andern wurde sie bewusst in einen Kunstkontext gebracht, der die abstrakte Ästhetik ihrer technischen Form zelebrierte. Der Kunstkontext ist deshalb nicht unerheblich – zu diesen weiterführenden Gedanken regt das Buch an –, weil er jene problematische „Verkunstung“ betrifft, die nicht nur Theodor Adorno (1903-1969) in seiner Ästhetischen Theorie seit den 1960er Jahren generell verdammte, da sie aus der Kulturindustrie hervorgeht. Das avantgardistische Projekt der Enthierarchisierung der Künste war vorerst gescheitert. Design wurde auf Betreiben v.a. US-amerikanischer (Design Methods Movement) und deutscher Designer (HfG-Ulm) zur Natur-, Problemlösungs- und Dienstleistungswissenschaft. Design-Bücher mit Titeln wie „Design ist keine Kunst“ erschienen noch 1998 und verdeutlichen die entstandene Kluft zwischen Kunst und Design. Die Entkunstung des Designs hatte nunmehr die Lufthoheit. Und sie hat bis heute schmerzende Wunden hinterlassen und dem Design als Disziplin einen nachhaltigen Imageschaden beschert. Dieser äußert sich etwa in dem Credo, dass das Schicksal des Designs – wie es Grasskamp einmal geistreich ausdrückte – der Konsum und in letzter Konsequenz die Müllhalde sei.[2]
Strategien der Verkunstung des Designs werden mittlerweile wieder eingesetzt in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz), in der die Star- und Aufmerksamkeitsökonomie die „Verbesonderung“ der Artefakte herausfordern. Designobjekte kommen ins Museum, das im Idealfall von den Unternehmen gleich mitfinanziert wird. Die Strategien sind mannigfaltig und oft unappetitlich. Umso erhellender ist vor diesem Hintergrund die Bildgeschichte der DS, denn sie scheint 1955 eine Pionierleistung dieser gerade beginnenden Verkunstung, die damals zwischen Kunst und Kult oszillierte. Auch wenn der Begriff der Verkunstung bis heute negativ konnotiert ist, beschreibt er, nüchtern betrachtet, einen wichtigen Abschnitt kunstsoziologischer Designgeschichte. Denn aus Sicht der Bildwissenschaft ist nicht entscheidend, ob die DS ein Kunstwerk ist. Entscheidend ist vielmehr, dass und wie sie anfangs von der Automobil- und Designbranche zum Kunstwerk stilisiert wurde, bis die DS knapp 50 Jahre später schließlich auch von den Valorisierungsregimen des Kunstsystems als Kunstwerk gefeiert wurde. Das Buch von Gunnar Schmidt ist eine materialreiche und äußerst instruktive Aufbereitung dieses Prozesses.
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[1] http://www.citroenet.org.uk/resources/books/pressnell.html
[2] Zur negativen Konnotation des Designs nach 1945 vgl. Grasskamp, Walter: Das gescheiterte Gesamtkunstwerk. Design zwischen allen Stühlen. In: Michel, Karl Markus/ Spengler, Tilman: Alles Design, Kursbuch 106, Berlin 1991, S. 67-84, hier S. 70-71; zur Müllhaldenlogik ebd., S. 68, 83.
Schmidt, Gunnar: Mythos-Maschine. Medien- und Kunstgeschichte des Citroën DS (= imorde.instants; 3), Emsdetten: Edition Imorde 2018
ISBN-13: 978-3-942810-42-5, 172 Seiten, EUR 19.80, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Philipp Zitzlsperger: [Rezension zu:] Schmidt, Gunnar: Mythos-Maschine. Medien- und Kunstgeschichte des Citroën DS (= imorde.instants; 3), Emsdetten 2018. In: ArtHist.net, 15.07.2018. Letzter Zugriff 03.11.2024. <https://arthist.net/reviews/18706>.
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