REV 13.03.2002

Alice Plato: Präsentierte Geschichte

Rezensiert von Carsten Kretschmann
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Der Blick auf das Fremde veraendert auch die Selbstwahrnehmung:
Deshalb habe die Praesentation ferner Laender und Menschen auf den
Pariser Weltausstellungen im 19. Jahrhundert bei den Betrachtern auch
den Sinn fuer die Volksttraditionen im eigenen Land geweckt und das
franzoesische Kulturerbe, das "patrimoine", nachhaltig, naemlich um
die Volkskultur bereichert. Das ist, in knappen Worten, die These
dieses Buches, bei dem es sich um eine bei Irmgard Wilharm in
Hannover angefertigte Dissertation von 1999 handelt.

Diese These wirkt zwar nicht ueberraschend, laesst aber die
Ausstellungskultur in einem neuen Lichte erscheinen. Um zu zeigen,
wie sich das franzoesische Kulturerbe, wie sich Geschichtsbild und -
verstaendnis im Frankreich des buergerlichen Zeitalters
veraenderten, holt Alice von Plato freilich weit aus. Zu diesem Zweck
beschaeftigt sie sich auf knapp 100 Seiten zunaechst mit der
"franzoesische[n] Ausstellungskultur in der ersten Haelfte des 19.
Jahrhunderts", wobei es jedoch gerade nicht um Gewerbe- und
Industrieausstellungen geht, etwa um die beruehmten franzoesischen
Nationalausstellungen von 1798, 1801, 1802 oder 1806, sondern
ueberraschenderweise um zwei Geschichtsmuseen, das "Musée des
Monuments français" (1795-1816), von Plato treffend als "monumentale
Totenhalle der Geschichte" (98) gedeutet, und das "Musée de Cluny"
(1832-1844), das sich durch seine Bevorzugung von
Alltagsgegenstaenden auszeichnete.

Die folgenden 200 Seiten hingegen sind weder Historischen Museen noch
franzoesischen Gewerbe- und Industrieausstellungen gewidmet, sondern
den Pariser Weltausstellungen der zweiten Jahrhunderthaelfte, von der
"Exposition universelle des produits de l'agriculture et des beaux-
arts de Paris" 1855 bis zur Jahrhundertausstellung von 1900. Und weil
diese chronologische Abfolge manch systematischen Aspekt
unterschlaegt, folgt auf 50 Seiten schliesslich noch ein Resuemee.
Auch diese gedankenreiche Zusammenfassung kann indes nicht darueber
hinwegtaeuschen, dass der Zusammenhang zwischen Geschichtsmuseen und
Weltausstellungen keineswegs ein zwingender ist. Wahr ist: Beide
Museen, das "Musée des Monuments français" wie das "Musée de Cluny",
duerfen als "stellvertretend fuer die sich entwickelnde nationale
Museumskultur" (10) gelten. Und zumindest in Alexandre Du Sommerards
Sammlung im Hôtel de Cluny mag man eine lebensweltliche Ausrichtung
erkennen, die auf die grossen kulturhistorischen Tableaus der
Weltausstellungen vorausweist.

Die Geschichtspraesentation dieser Weltausstellungen bildet das
Rueckgrat der Arbeit. Und es ist wichtig, dass Alice von Plato
bereits einleitend auf die "Wechselbeziehung" (10) zwischen Publikum
und Praesentation hinweist. Gerade hier freilich liegt ein
entscheidender Unterschied zwischen Museum und Ausstellung, der in
dieser Untersuchung wo nicht unterschaetzt, so doch vernachlaessigt
wird. Als kommerzielle, gewinnorientierte Unternehmungen hatten
Gewerbe- und Industrie-, erst recht jedoch Weltausstellungen von
Gemeinsam blieb Museum und Ausstellung der planvolle Umgang mit der
Geschichte - und das meinte im Frankreich des 19. Jahrhunderts vor
allem den Umgang mit der Franzoesischen Revolution, die man als
"historisches Schauspiel" (Ernst Schulin) empfand und nicht nur auf
der Weltausstellung von 1889 als solches inszenierte.

Eindringlich zeigt Alice von Plato, wie die Ausstellungen
verschiedene Geschichtsbilder erprobten und popularisierten: 1855
verbuergte die Ausstellung die wiedergewonnene Stabilitaet
Frankreichs nach dem Staatsstreich Louis Napoléon Bonapartes, 1867
unterstrich sie den Glanz des Second Empire, 1878 erwies sie sich als
trotzige Leistungsschau nach dem blutigen Ende des Kaiserreichs, 1889
feierte sich die Dritte Republik im Zentenarium des Bastillesturms
selbst. Indem Alice von Plato diese legitimierende wie kompensierende
Funktion der "Expositions universelles" herausstellt, leistet sie
einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Weltausstellung.

Dieser Beitrag ist auch deshalb wichtig, weil in ihm erstmals das
Publikum, das ein Massenpublikum war (fuer das gesamte 19.
Jahrhundert rechnet Plato mit rund 100 Millionen Besuchern), an
Kontur gewinnt. Dieses Publikum verlangte nach einer unterhaltsamen
Aufbereitung der Geschichte, einer Inszenierung also, die den
Wachsfigurenkabinetten und Panoramen naeher stand als den
wissenschaftlich ausgerichteten Museen. Alice von Plato zeigt
(allerdings ohne Kenntnis der neueren Popularisierungsforschung), wie
die Pariser Weltausstellungen ein teleologisches Geschichtsbild, die
Vorstellung einer Ueberlegenheit der franzoesischen "civilisation",
transportierten und popularisierten. Als besonders einflussreich
erwiesen sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die
Kolonialausstellungen, die bereits 1855 mit lebensweltlichen
Arrangements, gleichsam mit "Lebenden Bildern" hervortraten, deren
skandinavische Vorbilder Alice von Plato nachweist.

Gerade die grossen Inszenierungen wie die "Rue des Nations" von 1878
belegen darueber hinaus, dass sowohl Ausstellungsmacher als Publikum
durchaus mit exotischen Klischees zu spielen verstanden. Die
ethnographischen Inszenierungen, daran laesst Alice von Plato keinen
Zweifel, orientierten sich naemlich nicht an der Wirklichkeit,
sondern an den Erwartungen der Europaeer. Was man fuer die Erfuellung
dieser Erwartungen auf sich nahm, dokumentieren nicht zuletzt die
bierernsten "Dienstregeln" fuer die "Zigeuner von Granada". Gerade
weil das Konstruierte in den exotischen Inszenierungen immer
deutlicher hervortrat, spielten sie eine wichtige Rolle in der
Entdeckung des eigenen Volkes, seines Landes und seiner Geschichte:
"Es ist der ethnographische Blick auf die europaeische Geschichte,
die hier inszeniert wurde und den Besuchern eine neue Perspektive auf
die Entwicklung der eigenen Gesellschaft eroeffnete" (240).

In der Tat entdeckten die Ausstellungen zunehmend das soziale Leben
Frankreichs, etwa die Geschichte der Arbeit wie 1867 oder die
Geschichte des Wohnens wie 1867 und 1889. Ganz generell hielt gegen
Ende des Jahrhunderts eine "europaeische Exotik" Einzug in das
Ausstellungsgelaende, die sich etwa im Alpenidyll eines Schweizer
Dorfes oder in der Wiederentdeckung alter franzoesischer Provinzen
wie der Bretagne, der Auvergne und des Poitou konkretisierte und
bereits auf die Etablierung der Volkskunde als eigener
wissenschaftlicher Disziplin hindeutete. Im Sinne eines "Exotismus
der Naehe" (284) wurden hier Wohnen, Leben und Arbeit von Franzosen
inszeniert. Voelker- und Volkskunde beruehrten sich. Und weil diese
Beruehrung betraechtliche Folgen fuer das Selbstverstaendnis der
Grande Nation hatte, wird Alice von Platos These vom "ethnologischen
Umweg innerhalb der Geschichtspraesentation" (355) nicht nur die
Sammlungs-, Museums- und Ausstellungsgeschichte beschaeftigen.

Dieser Prozess der Identitaetsbildung, die Konstruktion einer
nationalen Tradition - ein wichtiges, ausserordentliches spannendes
Thema - wird in diesem nicht immer elegant geschriebenen Buch
allerdings kaum systematisch behandelt. Dass darueber hinaus die
"Geschichtsrepraesentationen der Expositions universelles von den
Erfahrungen im Bereich der Museen inspiriert" (312) worden seien, ist
eine bedenkenswerte These, die allerdings erst noch hinreichend
belegt werden muesste. Und auch die Auswirkungen der
Ausstellungspraesentationen auf die museale Praxis bleiben im
einzelnen vorerst offen. Dass die Verfasserin einen moralischen
Unterton (z.B. 11, 143, 193, 216f., 231) gelegentlich nicht
unterdruecken konnte, hat zumindest den Rezensenten irritiert. Und
schliesslich haette man angesichts des nicht gerade moderaten
Ladenpreises wohl zumindest ein Personenregister erwarten duerfen.

Dessenungeachtet: Alice von Plato hat ein wichtiges Buch vorgelegt,
das den Einfluss der Weltausstellungen auf das Geschichtsbild der
Masse erstmals in seiner ganzen Bedeutung aufzeigt. Man moechte ihm
viele Leser wuenschen.

Plato, Alice: Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main [u.a.]: Campus Verlag 2001
ISBN-10: 3-593-36728-9, 410 S

Empfohlene Zitation:
Carsten Kretschmann: [Rezension zu:] Plato, Alice: Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main [u.a.] 2001. In: ArtHist.net, 13.03.2002. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/186>.

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