REV 16.04.2002

Dieter Henrich: Versuch über Kunst und Leben

Rezensiert von Ursula Baumann
Redaktion: Claudia Sedlarz
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Das Buch des international renommierten Philosophen - Henrich zaehlt zu den ausgewiesensten Kennern des deutschen Idealismus - verbindet eine sehr ausgearbeitete Theorie der Subjektivitaet mit Ueberlegungen zur Kunst, fuer die der Status von Grundlagenforschung reklamiert wird. Die Frage nach der Resonanz der Kunst "in unserem Leben" leitet dem Autor zufolge zwar nicht zu einer umfassenden Kunsttheorie, aber zu den "wichtigsten Grundlagen der Kunstproduktion". Der Ansatz bei der Subjektivitaet ist gegen alle Kunsttheorien gerichtet, die - wie die von Heidegger, Dewey und Danto - von der Welterschliessung der Kunst ausgehen und dabei vergessen, dass es ein Subjekt geben muss, das Welt ueberhaupt erst vergegenwaertigt.

Henrichs Verklammerung von Kunst und Subjektivitaet ist historisch und systematisch begruendet. Historisch weil beide seit dem Aufkommen der Moderne eine gemeinsame Geschichte haben, deren weiterer Fortgang fuer Henrich offen ist. Der Autonomisierung der Kunst seit dem 17. Jahrhundert entspricht die Freisetzung einer Subjektivitaet, die Henrich als zentrale Struktur des menschlichen Lebens expliziert. In der unhintergehbaren Tatsache des Selbstbewusstseins liegt begruendet, dass unser Leben sich nicht einfach vollzieht, sondern dass wir es zu fuehren haben. Im offenen Prozess unseres je eigenen Lebens bilden wir eine Identitaet aus, die auch deshalb immer wieder erprobt werden muss, weil die Subjektivitaet selbst auf einem fuer uns unverfuegbaren Grund beruht. Diese Rede vom Grund weist ausser dem, was Heidegger als Geworfenheit bezeichnete, auf das Faktum, dass das Wissen von sich als solches nicht weiter ableitbar ist. Durchaus fragwuerdig ist dagegen eine weitere Bedeutung der Rede vom "Grund", die - anknuepfend an eine Denkfigur des deutschen Idealismus - als Basis der wissenden Selbstbeziehung ein wie auch immer gedachtes Absolutes verankern moechte. M.E. ist Henrich zuzustimmen, wenn er gegen einschlaegige "postmoderne" Empfehlungen an der Vorstellung festhaelt, dass die je eigene Lebensgeschichte immer auch auf eine Ganzheit hin orientiert ist, auf eine innere Kohaerenz, die auch so etwas wie Brueche und persoenliche Katastrophen uebergreift. Unplausibel erscheint mir aber die metaphysische These, dass das individuelle Leben auf ein allumfassendes Ganzes bezogen ist, fuer das es Bedeutung bzw. - wie es wiederholt heisst - "Bewandtnis" hat.

Wie wird nun die Beziehung zwischen bewusstem Leben - dem Prozess der Subjektivitaet - und Kunst konzipiert? Henrich grenzt sich gegen zwei extreme Positionen ab. Der aesthetische Idealismus, der eine Identifikation von Kunst und Leben vornimmt und das Leben als Kunstwerk verstehen moechte, wird ebenso abgelehnt wie ein aesthetischer Formalismus, der von einer voelligen Beziehungslosigkeit ausgeht. Demgegenueber besteht Henrich auf einer Entsprechung zwischen Kunst und Leben, die durch ihre Differenz ueberhaupt erst moeglich wird. In ausgezeichneter Weise ermoeglicht Kunst eine Darstellung von Subjektivitaet: "Die Kunst vergegenwaertigt uns Prozesse des bewussten Lebens in einem wirklichen Vollzug und zugleich doch so, dass sie nicht auch schon wirklich von uns vollzogen wird."(S. 132) Gegen Goodman und Gadamer optiert Henrich fuer einen Begriff von Aesthetik, der den Aspekt der Wahrnehmung stark macht. Die semiotische und hermeneutische Sichtweise, Kunst allgemein als Weltverhaeltnis zu fassen, lasse die spezifisch aesthetische Dimension in den Hintergrund treten. Welt- und Selbstverhaeltnis vergegenwaertige das Kunstwerk im Modus aesthetischer Betrachtung, fuer welche die Distanz zur Alltagswelt konstitutiv sei. Analog zur Struktur des Selbstbewusstseins, die sowohl Selbstzentrierung als auch Selbstdistanz erzeuge, ist die aesthetische Wahrnehmung fuer Henrich dadurch charakterisiert, dass sie auf ein einzelnes konzentriert und gleichzeitig in einer ausschwingenden Aktivitaet darueber hinaus greift.

Die zentrale These des Buchs, dass in der Kunst (und nur in der Kunst) eine Vergegenwaertigung von Subjektivitaet moeglich ist, die uns ansonsten nur in abstrakten Denkbewegungen zugaenglich ist, erweist ihre Staerke am deutlichsten in der Anwendung auf die Kunst des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu der Epoche vom 17. bis zum 19. Jahrhundert kann die Kunst in der durch gesteigerte Reflexivitaet charakterisierten entfalteten Moderne Subjektivitaet nicht mehr ganz darstellen, sondern nur noch in einzelnen Zuegen. Gegen eine verfallstheoretische Lesart weist Henrich darauf hin, dass die Partikularisierung auch mit einer Intensivierung einhergeht. Einzelne Zuege des subjektiven Lebens koennen staerker herausgearbeitet werden, als dies eine an der Versoehnung von Widerspruechen orientierte Darstellung zu leisten vermoege. Mit diesem Ansatz wendet sich Henrich gegen Thesen, die vorschnell ein Ende der Kunst und ein Ende der Subjektivitaet proklamieren, ein Ausgang einer 300jaehrigen gemeinsamen Geschichte, den der Philosoph zwar fuer moeglich, aber nicht fuer ausgemacht haelt.

Henrichs Buch leistet zweifellos einen wichtigen Beitrag fuer die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der modernen Kunst. Bedauerlich ist seine Entscheidung, auf Beispiele weitgehend zu verzichten. Dass die umfassende Vergegenwaertigung von Subjektivitaet in erster Linie musikalisch anhand der Werke der Wiener Klassik erfahren wurde, kann man nur vermuten.

Explizit hebt Henrich dagegen das Werk Becketts als hoffnungsvolles Beispiel grosser Kunst in der entfalteten Moderne heraus - was allerdings ebenso risikolos ist - wurde dieser doch laengst als moderner Klassiker etabliert - wie aporetisch, da gerade der Lieblingskuenstler der Philosophen des 20. Jahrhunderts einen wie auch immer vorlaeufigen Endpunkt kuenstlerischer Entwicklungen markiert.

Henrich, Dieter: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität, Weltverstehen, Kunst (= Edition Akzente), München: Carl Hanser Verlag 2001
ISBN-10: 3-446-19857-1, 351 S

Empfohlene Zitation:
Ursula Baumann: [Rezension zu:] Henrich, Dieter: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität, Weltverstehen, Kunst (= Edition Akzente), München 2001. In: ArtHist.net, 16.04.2002. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/185>.

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