REV 15.02.2002

Thomas Schloz: Die Geste des Sammelns

Rezensiert von Bodo-Michael Baumunk
Redaktion: Claudia Sedlarz
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Zu den bedauerlichen Verlusten im Modernisierungsprozess der akademischen Welt gehoert, dass Dissertationen nicht mehr in Latein verfasst werden muessen. Niemandes Muttersprache und muehsam im Erwerb eines tragfaehigen Wortschatzes, hat es den angehenden Gelehrten einst vor der Gefahr der Redundanz, den Wahlmoeglichkeiten bereitliegender Dialekte und Stile, vor allem aber den Ausfluegen in den Schoss der eigenen Befindlichkeiten bewahrt. Wie gerne wird Thomas Schloz' gedankenreiches Buch ueber die "Geste des Sammelns" jeder loben, dem es gelungen ist, sich durch das Dickicht maeandernder Saetze zu arbeiten und zu der vom Autor erwuenschten, weil dem Sammeln als kultur- und kommunikationsstiftendem Handlung zugrundeliegenden mentalen Disposition des "Sich sammelns" gefunden hat.

Ist vom Sammeln die Rede, liegt Walter Benjamin nicht fern, hinter den Dingen gruesst Martin Heidegger und mithin ein hoher Ton aus der Philosophie der Zwischenkriegszeit, den die Stimmlage der nachgeborenen Interpreten jeweils zu maerchenhaftem Raunen, Hymnus oder Prophetie ausschlagen laesst. Ersteres, das "Es war einmal" fuehrt in diesem Fall in erkenntnisleitende Kinderzeit und Kueche des Autors - "ich selbst ein Sammler? Je nun!". Das Zweite finden wir in versmassverdaechtigen Saetzen wie "Ist's anders dem Menschen ‚anbe-dingt', einer Gestalt zu einer 'Ordnung' zu verhelfen?", vom Dritten wird noch zu sprechen sein. Schloz beschreibt das Sammeln von Dingen gleichsam als Konstitutionsakt des Menschseins: mit Wasserschoepfen beginnt der individuelle Erhalt, mit Vorratshaltung und Ueberschuessen soziale Gemeinschaft und Tausch. Der Entwicklung von Kommunikation und Zeitbewusstsein gehen jeweils spezifische "Dinge" wie Schmuckstuecke, Grabbeigaben oder sakrale Gegenstaende und "Gesten" ihrer Kollektionierung voraus. "Sammeln" wird in diesem anthropologischen und etymographischen Panorama schliesslich zur Chiffre fuer jedes zielgerichtete Denken und Handeln, "Ding" zum universellen Totem an der Schnittstelle zwischen Mensch und Natur. "Dass Gegenstaende ... an der Entstehung und dem Fortschreiten des Sozialwesens 'Mensch' beteiligt sind...und seine emotionale Binnenwelt anreichern" - wer wuerde dem widersprechen, was der Autor so facettenreich belegt? Aber die Weltgeschichte als Sammlungspolitik mit "dinglichem Schweif" muendet in die Utopie einer "habseligen" Erfahrung waermender "Naehe" zu den Gegenstaenden gegenueber der "habgierigen" schierer Akkumulation.

Verklausulierte Kulturkritik, die in Palaeolithikum und "indogermanischen" Wortstaemmen ihre existenziellen Wurzeln sucht, ist in der Tuebinger Empirischen Kulturwissenschaft recht selten geworden. Schloz zufolge entdeckt diese "geschult in der Empathie des kulturell Gegenwaertigen, Thematiken 'fuer sich', in dem sie den Fragefinger auf jene Stellen des sozialen Lebens richtet, wo es allem Anschein nach 'waermer' wird. Was heisst, dass die 'Dinge', die 'Sachverhalte' zur Sprache draengen". Hier irrt der Autor: dies ist keineswegs Empirische Kulturwissenschaft, sondern die gute alte Volkskunde.

Schloz' ge-bildete und geist-volle Dingphilosophie, welche die "zweite Natur" bis auf die molekulare Ebene herab mazeriert, koennte eine segensreiche Entfaltung auf einem Feld finden, mit dem das "Sammeln" landlaeufig verbunden wird, ohne dass es in seinem Buch mehr als marginale Erwaehnung faende: dem Museumswesen. Das Tuebinger Institut, an dem die Arbeit entstanden ist, bildet seit langem einen kritischen "Think tank" jenes diffusen "kulturhistorischen" Museumsmilieus jenseits der Kunsthaeuser, dessen Angebots-Potpourri zur eigenen Legitimation jener von Schloz gelieferten Ontologisierung des "Sammelns" geradezu entgegen gefiebert haben muss. Das "Stadtgeschichtliche Museum Kraehwinkel" - man moechte niemandem zunahe treten - stellt nichts anderes dar als den "Dinghaufen um herausgebildete Lokationen", von dem Schloz spricht. "Das Zuhandene braucht seinen Zeugcharakter nicht zu verlieren, um 'Objekt' einer Wissenschaft zu werden" - Heideggers Satz machte sich gut ueber dem Eingangsportal so manches Museums, das im Zuge der wundersamen Bestandsverdoppelung etwa in Baden-Wuerttemberg waehrend der letzten zwanzig Jahren entstanden ist. Schloz' "'Sprechen' mit den ‚Gegenstaenden' auf allen Frequenzen eines 'hier bin ich...und wo bist du'" erinnert an die verweifelten Beschwoerungen des Kustos, seine historischen Bierhumpen und Vereinsfahnen moegen jene identitaetsbildenden Auskuenfte erteilen, welche seine Kulturdezernentin bei der Gruendungsfeierlichkeit herbeiorakelt hat. Und die Heideggerismen in Schloz' Ableitung des Sammelwesens aus der Nahrungsaufnahme der Urzeit aehneln verblueffend den Aufforderungen zur Handgreiflichkeit, mit denen das moderne "interaktive Museum" seine jugendlichen Besucher vom Denken und Lernen abhaelt: "Be-Greife!"

Schloz, Thomas: Die Geste des Sammelns. Eine Fundamentalspekulation ; Umgriff, Anthropologie, Etymographie, Entlass, Stuttgart: Selbstverlag 2000
ISBN-10: 3-8311-0671-1, XXII, 275 S, DM 68.00

Empfohlene Zitation:
Bodo-Michael Baumunk: [Rezension zu:] Schloz, Thomas: Die Geste des Sammelns. Eine Fundamentalspekulation ; Umgriff, Anthropologie, Etymographie, Entlass, Stuttgart 2000. In: ArtHist.net, 15.02.2002. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/183>.

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