Die Cappella Gregoriana ist der nordöstliche Nebenkuppelraum der vatikanischen Peterskirche, der als erster Bereich des riesigen Innenraums vollständig fertig gestellt wurde. Während die Zeitgenossen diesem Raum eine besondere Wertschätzung entgegen brachten und ihn im Wortsinne als vorbildlich erachteten, wird seine heutige Rezeption seitens der Kunst- und Architekturgeschichte dieser Bedeutung keineswegs gerecht. Kaspars Zollikofers materialreiche und konzise Studie sollte dies ändern und könnte zugleich als Vorbild für weitere Untersuchungen dieser Art dienen, an denen es insbesondere zur scheinbar ‚überforschten‘ Hauptkirche der katholischen Christenheit erstaunlicherweise noch erheblich mangelt. Auf gut 230 Seiten Text, die durch 72 Seiten sorgfältig ausgewählter und transkribierter Quellen, 18 Seiten Bibliographie und 36 Seiten mit zumeist mehreren, überwiegend farbigen Abbildungen ergänzt werden, analysiert der Verfasser in konzentrierter Form und konziser Sprache alle Aspekte dieses hoch interessanten Raumes so anschaulich und überzeugend, dass man eine genauere Besichtigung für den nächsten Rombesuch unbedingt einplanen sollte: Von der architektonischen Gestaltung, die durch die Gesamtanlage des Baus weitgehend vorgegeben war, über die beziehungsreiche künstlerische Ausstattung bis zu deren kultur-, kirchen- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründen entfaltet der Verfasser ein Netzwerk von vielfältigen Bezügen, welches die weit reichenden Intentionen des Auftraggebers, des vor allem für seine Kalenderreform bekannten Papstes Gregor XIII., und ihre Bedeutung – nicht nur für die weitere Ausgestaltung der Peterskirche – überzeugend erkennbar werden lässt. Dies gelingt durch die im besten Sinne interdisziplinäre Methodik mittels der umfassenden Berücksichtigung möglichst aller verfügbaren Quellen und der Beleuchtung des Gegenstandes aus verschiedensten, sich gegenseitig erhellenden Perspektiven.
Einleitend führt Zollikofer dem Leser die sehr knapp, aber ausreichend skizzierte architektonische Stellung des Raumes in der komplexen Baugeschichte Neu-St.-Peters und in seiner – zur behandelten Entstehungszeit – zeitgenössischen Situation in Beziehung zum noch erhaltenen Langhaus von Alt-St.-Peter vor Augen, bevor er sich der Erbauung sowie vor allem der Ausstattung und ihrer bemerkenswert schlüssigen Konzeption zuwendet: Es wird dabei überzeugend deutlich, dass diesem Raum eine Schlüsselrolle nicht nur für die weitere Ausgestaltung von Neu-St.-Peter selbst, sondern auch für unzählige weitere Kirchenräume des beginnenden Barock (nicht nur) in Rom zukommt. Neben der erstmaligen Wiederverwendung von Mosaiken in Rom ist es vor allem die Verkleidung der Wände mit verschiedenfarbigen Steinsorten, die völlig zurecht vom Verfasser besonders ausführlich untersucht wird, stellt sie doch – nach Raphaels kunsthistorisch vereinzelt dastehender Chigi-Kapelle – den eigentlichen Neubeginn dieser Ausstattungsform dar, der nur in der römischen Antike vergleichbare Vorbilder hatte. Dass diese exzeptionelle Bedeutung der Cappella Gregoriana heute – im Gegensatz zur eindrücklich beschriebenen positiven Rezeption durch die Zeitgenossen – nicht mehr als so herausragend wahrgenommen wird, liegt vermutlich an der umfassenden Plünderung der im 16. Jahrhundert in Rom teilweise noch erhaltenen antiken Räume sowie der Ubiquität, welche diese Gestaltungsform gerade eben im Anschluss an die Cappella Gregoriana gewonnen hat: Weder sind der gesamte Innenraum Neu-St.-Peters noch wichtige barocke Kapellen in Rom wie die Sixtina und Paolina in Santa Maria Maggiore ohne dieses Vorbild denkbar.
Wie neuartig diese von Gregor XIII. und seinen Beratern gewählte Form war, mag aus dem Umstand erhellen, dass sie weder in den rekonstruierbaren Planungen Michelangelos noch denen seines Vorgängers Antonio da Sangallo d.J. für St. Peter vorgesehen war und sich markant von der erst kurz zuvor ausgestatteten, nahe gelegenen Kirche des Hospitals von Santo Spirito in Sassia unterscheidet, dem wohl besten Beispiel einer umfassenden ‚manieristischen‘ Kirchenausstattung im Übergang von der Hochrenaissance zum Frühbarock. Der Verfasser untersucht die möglichen Vorbilder und Anregungen dieser neuartigen Auskleidung nahezu des gesamten Kapellenraumes mit bunten, zumeist aus antiken Bauwerken entnommenen Steinplatten und versucht, die Motive ihrer Initiatoren zu rekonstruieren, übersieht dabei aber vielleicht, dass einige der federführend Beteiligten wie (zu Anfang als Architekt von St. Peter) Jacopo Barozzi da Vignola, sein Biograph und Herausgeber Egnatio Danti oder Kardinal Sirleto u.v.a.m. zuvor im Kontext einer um die Rekonstruktion der antiken Architektur in allen ihren Facetten bemühten Gruppe von Gelehrten und Künstlern tätig waren, welche von Zeitgenossen als „Accademia (dello Studio) di Architettura“ (Vasari, Atanagi, Danti) bezeichnet und später in der Forschung zumeist (vermutlich irrtümlich) mit Claudio Tolomeis „Accademia della Virtù“ identifiziert wurde: In ihrem Auftrag vermaß Vignola (laut Vasari und Danti) „alle antiken Bauten Roms“; und unter den erhaltenen Zeichnungen der meist anonym Mitwirkenden finden sich auch detaillierte Aufnahmen antiker Wandverkleidungen z.B. aus der Curia Iulia oder aus Santa Costanza. Vermutlich waren um 1550 in Rom noch weit mehr solcher Buntmarmorausstattungen sichtbar, z.B. in den für die Ausstattung von St. Peter geplünderten Caracalla-Thermen. Damit könnte unter den vielfältigen Beziehungen, die Zollikofer zur Deutung der Kapelle heranzieht, diejenige auf das antike, kaiserzeitliche Imperium hinzugefügt werden, denn die z.T. unter großem Aufwand aus allen Teilen des Reiches nach Rom geschafften Steinsorten hatten schon in der Antike die Funktion, die weit reichende Macht Roms zu demonstrieren. Diese zusätzlich denkbare Bedeutungsebene unterstützte zugleich das vom Verfasser ausgearbeitete Verständnis der räumlichen Situation und ihrer konzeptionellen Ausnutzung: Denn wie Zollikofer überzeugend darlegt, war es offensichtlich Gregors Anliegen, durch die liturgische Ausstattung seiner Kapelle mit den Gebeinen des griechischen Kirchenlehrers Gregor von Nazianz, einem alten, wundertätigen Marienbild aus St. Peter u.v.a.m. eine neuerliche, enge Verbindung der lateinischen mit der orthodoxen Kirche nicht nur symbolisch darzustellen, sondern direkt zu forcieren. Diesem Interpretationsansatz geht der Verfasser bis in die Positionierung und Bedeutung der einzelnen Ausstattungselemente (Altäre, Gemälde, Reliefs, Mosaiken) im Kontext der damaligen Bausituation nach. Zur weiteren Unterstützung seiner bereits aufgrund der Quellen abgesicherten Interpretation macht der Verfasser sogar die ‚Gegenprobe‘, indem er andere Positionierungen in Betracht zieht, die aber sofort zu Irregularitäten oder Widersprüchen führen würden.
Dieses abwägende Vorgehen, durch häufigen Gebrauch des Konjunktivs jedoch trotz bester Belege immer noch als Hypothese erkennbar, überzeugt gerade angesichts vieler jüngerer Fachtexte (nicht nur) der amerikanischen Kunst- und Architekturgeschichtsschreibung, in denen – nach Auffassung des Rezensenten – oft allzu voreilig ‚starke‘ Thesen aufgrund weniger Indizien und unter Nichtberücksichtigung alternativer Erklärungsmöglichkeiten als Tatsachen präsentiert werden, welchen man scheinbar naive, kritische Nachfragen wie „Woher weiß man das?“ oder „Können Sie das belegen?“ lieber gar nicht erst stellen mag…
Wie erwähnt, nutzt Zollikofer zur Deutung des Baus und seiner Ausstattung alle erdenklichen Quellen: Mit Hilfe biblischer, kirchen-, theologie-, dogmen- und religionsgeschichtlicher, liturgischer, architektonischer, geographisch-topographischer und nicht zuletzt textlicher Bezüge zeigt er, wie die einzelnen Elemente ein Netz aus Bedeutungen und Verweisen aufspannen, dessen lesender Nachvollzug eine Vielzahl von ‚Aha-Erlebnissen‘ hervorrufen dürfte. So wird bspw. erläutert, wie Gregor XIII. und seine Berater die Ost-West-Ausrichtung der Kapelle und ihre ursprüngliche Eingangssituation – vor dem Abriss des spätantiken Langhauses von Alt-St.-Peter bildete sie den ersten und zugleich dem Papstpalast nächstgelegenen Eingang in den Kirchenraum des Neubaus – eine quasi kosmische Bedeutung verliehen, indem sie sie zur Symbolisierung des Verhältnisses von Ost- und Westkirche und ihres heilsgeschichtlich und geographisch allumfassenden (= ‚katholischen’) Anspruchs nutzten. Die Erneuerung und Verbesserung der Beziehungen zur orthodoxen Kirche war ein zentrales Anliegen Gregors XIII. – und selbst die weitere geplante Ausstattung der anderen Nebenkuppelräume Neu-St.-Peters und ihr Verhältnis zum Hauptraum hätte, soweit rekonstruierbar, sich diesem Konzept unterordnen sollen. Zwar wurde es nicht vollständig im Sinne Gregors realisiert, es ist aber noch heute durch seine in der Cappella Gregoriana manifestierten Intentionen sowie deren Spuren in den anderen Kapellen erkennbar.
Zollikofers Arbeit, die sich trotz ihrer vielen bedeutenden Erkenntnisse erfreulich unspektakulär liest, verdient nicht nur die intensive Lektüre durch die (wenigen) Spezialisten der Bau- und Ausstattungsgeschichte von Neu-St.-Peter, sondern kann und sollte zugleich als Modell für ähnliche Untersuchungen dienen. In diesem Sinne kann das Buch sowohl in Bezug auf St. Peter als auch als Beispiel fundierten, interdisziplinär argumentierenden und höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden kunsthistorischen Arbeitens als Standardwerk gelten.
Zollikofer, Kaspar: Die Cappella Gregoriana. Der erste Innenraum von Neu-Sankt-Peter in Rom und seine Genese (= Bibliotheca Helvetica Romana; 36), Basel: Schwabe Verlag 2016
ISBN-13: 978-3-7965-3350-1, 382 Seiten
Empfohlene Zitation:
Bernd Kulawik: [Rezension zu:] Zollikofer, Kaspar: Die Cappella Gregoriana. Der erste Innenraum von Neu-Sankt-Peter in Rom und seine Genese (= Bibliotheca Helvetica Romana; 36), Basel 2016. In: ArtHist.net, 30.05.2018. Letzter Zugriff 05.11.2024. <https://arthist.net/reviews/18275>.
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