REV 14.08.2007

Wolfgang Brückle: Civitas terrena

Rezensiert von Stephan Albrecht, Universität Bamberg
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Welchen Einfluss hat der tiefgreifende Wandel in der politischen Theorie auf das Erscheinungsbild des französischen Staates im 14. Jahrhundert? Diese Frage steht im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung zur politischen Ikonographie der späten Kapetinger und der Valois in ihrer Hauptstadt Paris. Der Titel „Civitas Terrena“ ist gut gewählt: Als Antithese zu Augustins „Civitate dei“ verdeutlicht das Motto, dass es um ein neues Staatsverständnis geht. An die Stelle der auf dem christlichen Glauben gegründeten Sozialgemeinschaft Augustins, tritt mit dem wiederbelebten antiken Ideal des „bonum commune“ die Orientierung am irdischen Glück. Zugleich verweist „Civitas“ auf die praktische Auswirkung der politischen Theorie: Die Ausbildung einer Hauptstadt als Mittelpunkt des Staatswesens und Fokus einer neuen politischen Bildrhetorik.

Der Kunsthistoriker argumentiert auch als Politikwissenschaftler, beide Felder werden mit der gleichen Sorgfalt auf hohem intellektuellen Niveau bestellt. Das Thema erfordert eine besondere Akribie: Nur eines der behandelten Objekte hat sich im Original erhalten, alle andere müssen aus der spärlichen Überlieferung rekonstruiert werden. Dass das Buch trotz dieser ungünstigen Voraussetzung nicht spröde oder vage wirkt, ist der geschmeidigen Sprache des Autors und seinem Mut zur Thesenbildung zuzuschreiben.

Die Untersuchung kreist nicht um einen zusammenhängenden Werkkomplex oder eine einzige Herrscherperson. Der Anspruch des Buches reicht weiter. Es möchte die künstlerischen Veränderungen im Paris des 14. Jahrhunderts mit der Rezeption aristotelischer Staatsvorstellungen erklären. So haben die untersuchten Objekte auch exemplarischen Charakter. Sie stammen allesamt aus dem direkten Umfeld der französischen Herrscher und stehen direkt in Beziehung zu seinem Machtzentrum, dem Palais de la Cité. Der Text setzt sich mit der Architektur des Palastes auseinander, der Repräsentation des Herrschers in Standbildern und Figurenreihen, sowie dem Porträt des Staates als Körperschaft in der Buchmalerei. Es liegt an der Natur der heterogenen Auswahl, dass die verschiedenen Abschnitte unterschiedliche Überzeugungsgrade erreichen. Die Überlegungen zum Staatsporträt hinterlassen den stärksten Eindruck. Ausgehend von den um den Sippenheiligen versammelten Bildnissen der Familie Philipps des Schönen am Querhausportal der Ludwigskirche von Poissy, den Kapetingerporträts in Écouis, am Collegium Navarrensis in Paris und an der Galerie des Merciers am Stadtpalast, sowie den Bildnissen der Valois am Zölestinerportal und dem Hôtel Saint-Pol zeichnet der Verfasser den Übergang vom Stifter- zum Staatsporträt nach. Sehr überzeugend räumt Wolfgang Brückle mit dem hartnäckig sich haltenden Vorurteil auf, das Herrscherbild habe nur als pseudoreligiöses Surrogat seine Berechtigung. Seine wichtige Erkenntnis, dass das Herrscherbildnis keiner heilsgeschichtlichen Legitimation bedürfe, ließe sich noch durch eine Reihe zeitgenössischer Beispiele untermauern. Ebenso überzeugend ist der hier erstmals skizzierte Funktionswandel: Dienten die seit dem 12. Jahrhundert vermehrt aufkommenden Stifterporträts an Portalen vor allem dazu, die engen Beziehungen zwischen dem König, dem heiligen Patron und der empfangenden Institution zu veranschaulichen, so ändert sich im 14. Jahrhundert zunehmend der Adressatenkreis. Der Herrscher zeigt sich hier im Sinne der aristotelischen Theorie als Wohltäter für seine Untertanen, als idealer Lenker des Staatswesens, der durch seine Stiftungen Bildung, Kultur und dem Schönen im Allgemeinen zur Blüte verhilft. Tatsächlich tritt an den benannten Portalen die Vermittlung einer Heilstatsache hinter die Repräsentationsform zurück. Die Analyse des Staatsporträts leistet einen wichtigen Beitrag zur Entstehungsgeschichte des profanen Bildnisses. Weniger schlagend sind die Argumente, die die heute verlorene Reihe von 42 französischen Königstandbildern als gleichsam entsakralisierte Nachfolger der Königsgalerien an den Kathedralen interpretieren wollen. Im Unterschied zur Figurenserie der Kathedrale reichen die dargestellten Könige nicht nur bis in die Zeit des frühen Christentums, sondern sogar bis Troia zurück. Zudem fehlen einige Herrscher, aber nicht aus dynastischen Gründen, sondern anscheinend wegen ihrer ungenügenden Amtsführung. Die Gegenüberstellung mit den kaum zu identifizierenden Königsgalerien der Kathedralen erscheint nicht zwingend: Viel näher hätte ein Vergleich mit den Amtsgenealogien in Kloster und Königschroniken gelegen, die vor allem seit dem 12. Jahrhundert auch mit Bildnissen versehen werden und die nicht selten bis zu mythischen nichtchristlichen Herrschern zurückreichen. So spiegelt sich in der Königsreihe im Palais de la Cité wohl weniger ein Profanisierungsprozess, als vielmehr das von Brückle bereits herausgearbeitete neue Bedürfnis nach monumentalisierter Repräsentation mit eher traditionellen ikonographischen Mitteln.

Unser Wissen über die Architektur des Palastes und seiner Benutzung ist sehr vage. Im Referat über den Forschungsstand erweist sich der Verfasser abermals als gewissenhafter Forscher. Seine These von einer zunehmenden funktionalen Differenzierung ist zweifellos richtig. Inwieweit sich hier auch ein neues Staatsverständnis ausdrückt, ist schwer zu entscheiden, lässt sich doch ein ähnlicher Bürokratisierungsprozess bereits im 13. Jahrhundert im kommunalen Bereich auch in anderen Regionen, zum Beispiel am Lübecker Rathaus sicherlich ohne aristotelischen Einfluss beobachten. Auch die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen spielt dort eine Rolle, freilich beschränkt auf politisch-rechtliche Akte und ohne eine Zuspitzung auf die Person des Herrschers.

Die auffällig intensivierten baulichen Aktivitäten Philipps des Schönen und Karls V. interpretiert die Untersuchung ebenfalls als Ausdruck eine Wandels im Herrschaftsverständnis vom christusgleichen Herrscher zum „roi architecte“. Aus dem „rex sapiens“ wird ganz im Sinne von Aristoteles und dessen zeitgenössichen Kommentators Nicolas d‘Oresme ein „rex literatus“. Der König, der sich für die Verschönerung seines Staates und für Kultur und Bildung einsetzt, ist ein guter Herrscher. Allerdings ist diese Forderung nicht so neu: Erst kürzlich haben André Vauchez und Paul Binsky [1] auf ähnliche Phänomene in der englischen Hagiographie um 1200 hingewiesen. Bereits hier wird die Heiligsprechung einiger Bischöfe ausdrücklich mit deren baulichem Engagement und ihrem Einsatz für die Wissenschaft gerechtfertigt. Dies führt zu einer grundsätzlichen Frage in der Einschätzung der Aristotelesrezeption seit dem 13. Jahrhundert: Führt die Wiederentdeckung aristotelischer Schriften zu einer veränderten Weltsicht oder wird diese Rezeption überhaupt erst möglich durch die zunehmende Bedeutung der vita activa im Verlauf des 13. Jahrhunderts? Wolfgang Brückle setzt sich mit diesem Problem intensiv auseinander, besonders unter Berufung auf den erstmals von Wolfgang Kemp [2] beschriebenen Wandel in der bildlichen Argumentation, von der heilsgeschichtlich legitimierten Typologie zur erzählerischen Eigenlogik. Dass der Verfasser schließlich ganz auf Aristoteles setzt, liegt vermutlich an einem Bezugspunkt, der unausgesprochen das gesamte Buch bestimmt: der Vergleich mit Ambroggio Lorenzettis Fresken der „Guten Regierung“ und seine Deutung durch Hans Belting. [3] Man hat den Eindruck, der Autor betrachte das 14. Jahrhundert in Frankreich geradezu mit den Augen Dantes. Besonders deutlich wird dies an der Analyse der berühmten Stadtdarstellungen in der Handschrift „Vie et martyre de saint-Denis“. Aber Wolfgang Brückle geht nicht so weit, Beltings Thesen einfach auf Frankreich zu übertragen. Seine Argumentationskette entwickelt sich eng am Material und aus der aufmerksamen Lektüre der französischen Quellen. Man muss dem Verfasser nicht in allen Thesen folgen, im Einzelfall wie im Ganzen liefert das Buch aber die anregendste Auseinandersetzung mit dem „schwierigen“ 14. Jahrhundert seit langem.

Anmerkungen:

[1] Vauchez, André: Sainthood in the Later Middle Ages, Cambridge 1996; Binsky, Paul: Becket‘s Crown. Art and imagination in Gothic England 1170-1350, New Haven, London 2004.

[2] Kemp, Wolfgang: Sermo corporeus : die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987.

[3] Belting, Hans: Das Bild als Text: Wandmalerei und Literatur im Zeitalter Dantes, in: Malerei und Stadt-kultur in der Dantezeit: die Argumentation der Bilder, hg. von Hans Belting u. Dieter Blume, München 1989; S. 23-64.

Brückle, Wolfgang: Civitas terrena. Staatsrepräsentation und politischer Aristotelismus in der französischen Kunst 1270 - 1380 (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2005
ISBN-10: 3-422-06498-2, 255 S., ca. EUR 51.00, ca. CHF 87.00

Empfohlene Zitation:
Stephan Albrecht: [Rezension zu:] Brückle, Wolfgang: Civitas terrena. Staatsrepräsentation und politischer Aristotelismus in der französischen Kunst 1270 - 1380 (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.] 2005. In: ArtHist.net, 14.08.2007. Letzter Zugriff 30.06.2024. <https://arthist.net/reviews/168>.

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