REV 04.11.2017

Deutsch, Kristina: Jean Marot

Rezensiert von Thomas Wilke, Stuttgart
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
Click to enlarge

Monographien über Architekten sind in der kunstgeschichtlichen Forschung im Moment allenfalls für prominente Namen des französischen ‚Grand Siècle’ en vogue, [1] nicht jedoch für einen weitgehend ‚nur’ Fachleuten bekannten Kupferstecher und Architekten wie Jean Marot (1619–1679), der in seinem umfangreichen graphischen Werk allerdings die Architektur der ganzen Epoche dokumentiert. Wie sehr der Kupferstecher als Chronist der französischen Architektur des 17. Jahrhunderts fungiert, wird bei der Lektüre der an der École pratique des hautes études Paris (EPHE) und TU Dresden abgeschlossenen Dissertation Kristina Deutschs evident. Die französischsprachige Untersuchung kombiniert eine ‚klassische’ Grundlagenforschung zum Schaffen Marots mit der Frage nach dem Verhältnis von Authentizität und Fiktion innerhalb der Gattung des Architekturstichs, das exemplarisch an den Kupferstichen Marots zum Louvre und den Tuilerien herausgearbeitet wird. Dabei geht die Autorin differenziert vor und überführt ihre visuellen Beobachtungen in relevante Argumente für ihre präzisen Schlussfolgerungen innerhalb dieser Untersuchung, die einen bedeutenden Gewinn für die Erforschung der Marot’schen Architekturstiche und der Gattung insgesamt darstellt.

Der Band gliedert sich in zwei Teile, wobei die textliche Analyse in vier Hauptkapiteln erfolgt und etwa zwei Drittel des Umfangs ausmacht: I. Einführung mit Fragestellung und Methode (1–52), II. Leben und Werk Jean Marots (53–212), III. Analyse der Stichfolgen zum Louvre und zu den Tuilerien im ‚Grand Marot’ (213–338), IV. Schlussfolgerung (339–344). Es schließt sich ein ausführlicher Katalog der Louvre-Kupferstiche, ein allgemeines Werkverzeichnis der zahlreichen weiteren Kupferstiche und Zeichnungen Marots an (V. Katalog (345–374), VI. Werkverzeichnis, (375–528), VII. Literatur- und Quellenverzeichnis (529–556) und Register.

Der lediglich als ‚Einleitung’ bezeichnete erste Abschnitt der Untersuchung bietet mit einer allerdings knapp referierten Forschungsgeschichte zur unübersichtlichen Baugeschichte des Louvre zur Zeit Marots und vor allem der Erörterung der Kriterien des repräsentativen Architekturstichs im höfischen Umfeld weit mehr, als sich hinter der schlichten Überschrift verbirgt. In ihren Ausführungen zum Architekturstich greift Deutsch unter anderem Überlegungen Michaela Völkels auf, um die Beobachtungen am Ende der Arbeit noch zu vertiefen, wobei eine grundsätzliche – etwa medientheoretische – Analyse der Gattung Architekturstich nicht intendiert scheint [2].

Der chronologische Aufbau des nächsten Kapitels, das Leben und Werk Marots gewidmet ist, entspricht einer traditionellen Künstlergeschichte und beleuchtet die schwierige Situation einer protestantischen Künstlerfamilie in Paris und im ‚staatskatholischen’ Frankreich. Deutsch bringt hier die Ergebnisse der letzten ausführlichen Marot-Biographie André Maubans von 1944 [3] auf den neuesten Stand und fügt zahlreiche weitere Details hinzu, etwa über die Beziehungen zur Familie Gole-Garbran, aus der Marots Frau Charlotte stammt.

Der zweite umfangreichere Abschnitt des Kapitels widmet sich Marots beruflicher Tätigkeit. Neben dem Fertigen von Architekturstichen war Marot von Zeit zu Zeit selbst als Architekt und – ähnlich wie sein Zeitgenosse Jean Lepautre (1618–1682) – als entwerfender Kupferstecher (‚ornemantiste’) tätig [4]. Diese Betätigungsfelder bewusst übergehend präsentiert Deutsch aus dem ‚Œuvre gravée’ Marots chronologisch die Architekturstiche quasi Blatt für Blatt und gewinnt durch Betrachtung von neuen Archivfunden und älterer Forschung zahllose für Fachleute interessante Detailergebnisse. Vor allem die präzisen Erkenntnisse zu den Anthologien des ‚Petit Marot’ und ‚Grand Marot’ bilden die Basis für die anschließende Untersuchung der Stiche zum Louvre und den Tuilerien sowie deren schlüssige Datierung (320 ff.).

Seit seinen Anfängen als Kupferstecher arbeitete Jean Marot im Umfeld von berühmten Architekten – wie Pierre Le Muet (1591–1669) oder Jacques Lemercier (1585–1654) – und hervorragenden Kupferstechern – etwa Jean Lepautre oder Israel Silvestre (1621–1691) –, sodass sich der Künstler im höfischen Umfeld etablieren konnte und bedeutende Aufträge erhielt: Marot fertigte unter anderem für Kardinal Richelieu (1585–1642) die Stichfolge zu dessen heute zerstörtem Landsitz (‚Le magnifique chasteau de Richelieu’) und trug später Blätter zum sogenannten ‚Cabinet du Roi’ bei, das Bauten und verschiedenste Aktivitäten Ludwigs XIV. (1638–1715) in Kupferstichen festhielt. Für diese panegyrischen Staatsaufträge wählte Minister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) nur die besten Kupferstecher der Zeit aus.

Im Unterschied zu diesen späteren staatlichen Auftragsarbeiten entstanden die Kupferstiche zum Louvre auf Eigeninitiative Marots für seine geplante Anthologie französischer Architektur, die um die Jahrhundertmitte begonnen, aber erst 1686 veröffentlicht wurde. Das ursprünglich titellose Werk wird aufgrund des beeindruckenden Formats der Kupferstiche als ‚Grand Marot’ bezeichnet und steht in der Tradition der ‚Plus excellents Bastiments’ Jacques Androuet Ducerceaus (1515–1585), der im späten 16. Jahrhundert mit der zweibändigen Sammlung erstmals eine Art Leistungsschau der französischen Architektur vorlegte. Den lohnenden Vergleich zwischen den Louvre-Darstellungen Ducerceaus und den Arbeiten Marots nutzt die Autorin, um visuelle Kriterien des Architekturstichs herauszuarbeiten. Aufgrund fehlender Vergleichsabbildungen der Louvre Holzschnitte Ducerceaus kann der Leser der überwiegend visuell geführten Argumentation Deutschs allerdings nur blind vertrauen.

Die Kupferstiche im ‚Grand Marot’ zeigen ganz im Sinne einer Leistungsschau weitgehend aktuelle französische Architektur. Die naheliegende Frage, warum ein so zentraler Bau wie der Louvre nicht mit der zeitgenössischen Planung – etwa des ‚premier Architecte’ Louis Le Vau (1612–1670) oder auch François Mansarts (1598–1666) – vertreten ist (242), wird von der Autorin in der Folge überzeugend beantwortet (309 ff.). In mühevoller Detailarbeit referiert und interpretiert Deutsch die Forschungsgeschichte für jeden Kupferstich Marots zum Louvre. Die umfangreichen Beschreibungen der dargestellten Architektur auf den jeweiligen Blättern, hätten nach Auffassung des Rezensenten, sofern sie nicht als Beleg für eine These dienen, ihren Platz auch im Katalog finden können, was zu größerer Übersichtlichkeit im Text beigetragen hätte.

Die Einzelanalyse der Stiche zum Louvre und den Tuilerien fußt auf der komplexen Baugeschichte des Louvre und insbesondere die diffizile Chronologie der Louvre-Ostfassade taucht zwischen den ausführlichen Vergleichen unterschiedlicher Kupferstiche, Zeichnungen und Bauzustände immer wieder auf. Es besteht kein Zweifel, dass die Autorin diese anspruchsvolle Materie komplett beherrscht, doch die präzise Argumentationskette Deutschs wäre noch überzeugender, wenn die Fakten der Baugeschichte und fremde Forschungspositionen bei der Analyse der Stiche etwas ausführlicher referiert worden wären. Bei diesen höchst interessanten Passagen – beispielsweise über die Unterschiede verschiedener Darstellungen und damit weitgehend visuell begründeten Argumenten – fehlen leider erneut die Abbildungen der Vergleichsblätter [5], was insbesondere bei schwer zugänglichen, nicht digitalisierten Zeichnungen über ein sogenanntes ,Bildzitat’ aus anderen Fachpublikationen leicht hätte vermieden werden können, zumal die Autorin auf die entsprechenden Abbildungen verweist.

Hilfreich ist hingegen, dass im Katalog relevante Vergleichsblätter bei den entsprechenden Katalognummern aufgeführt werden. Allerdings hätte eine durchgängige (und gleichartige) Nummerierung in Katalog und Text die Nutzung der verschiedenen Teilkataloge übersichtlicher gemacht. Auch eine die fortlaufende Bezifferung aller Abbildungen im gesamten Band wäre wünschenswert gewesen [6]. Insgesamt sind insbesondere die Abbildungen der querformatigen langen Fassadenabwicklungen des Louvre – vermutlich aufgrund des Formats und des festgelegten Layouts der Schriftenreihe – leider sehr klein. Ebenso bleibt die Teilung der langen Louvre Fassaden in den Abbildungen im Katalog (z.B. 365 ff.), die nicht mit den tatsächlich vorhandenen Kupferplatten übereinstimmt, unverständlich, obwohl diese Einzelplatten in der genauen Analyse berücksichtigt werden und damit für die Argumentation von Bedeutung sind (z.B. 216). Ferner werden im allgemeinen Werkverzeichnis auch bei umfangreichen Stichfolgen in der Regel lediglich einige wenige Blätter abgebildet, was allerdings mit den enormen französischen Bildrechtekosten zu entschuldigen ist.

Inhaltlich analysiert die Autorin sehr überzeugend die visuelle Form und die Zusammensetzung der Louvre- und Tuilerien-Stiche Marots, wobei die Argumente gleichzeitig für eine schlüssige Datierung der einzelnen Kupferstiche herangezogen werden (320 ff.). Ganz einfach lassen sich Marots Kupferstiche mit der Darstellung des dritten Louvre-Projekts Berninis als staatliche Aufträge im Rahmen des ‚Cabinet du Roi’ identifizieren und über Zahlungen datieren (325 ff.). Plausibel begründet Deutsch (312), weshalb Marot beispielsweise seine Kupferstiche der Petit Galerie (Pl. 19) oder eines Mittelpavillons mit geschnittener Treppe (Pl. 20) letztlich nicht in den ,Grand Marot’ aufgenommen hat, obwohl es sich um Darstellungen des Louvre handelt.

Brillant deutet Deutsch die Darstellung der Kupferstiche mit Fassaden-Entwürfen Jacques Lemerciers und Jean Marots zur Louvre-Ostfassade, die häufig auf einem Blatt abgedruckt sind (Pl. 1). Lemercier hat in seinen letzten Lebensjahren um 1652/53 offenbar eine eigene Variante der seit Heinrich IV. (1589–1610) bestehenden Vision des ‚Grand Desseins’ zur Verbindung von Louvre und Tuilerien ausgearbeitet (322 ff.). Anschaulich leitet die Autorin den als Lemercier Entwurf bezeichneten Kupferstich über erhaltene Zeichnungen aus einem verlorenen ‚Grand Dessein’ Lemerciers her, den Marot offenbar kannte. Der auch von Kennern Lemerciers Werk wie A. Gady als untypisch eingeschätzte Kupferstich [7] stellt somit vermutlich eine Marot’sche Interpretation der Ideen Lemerciers zur Louvre Ostfassade dar. Wohl unter Verwendung von heute verlorenen Plänen des Architekten konnte der Stecher so Vision und Wirklichkeit des Gebäudes im Kupferstich kombinieren.

Der eigene Entwurf Marots zur Ostfassade des Louvre (Pl. 1) wird von Deutsch dagegen einleuchtend als aktualisierte Version der seit Pierre Lescot (1515–1578) gebauten Louvre-Architektur und vor allem der Fassaden der ‚Cour carré’ gedeutet (315). Marot passt die bestehende Architektur behutsam an den zeitgenössischen Geschmack an und schreibt auf diese Weise die große französische Vergangenheit ganz im Sinne Colberts fort (334) – eine Vorgehensweise, die ebenfalls durch Félibien gelobt wird (314).

Während Marot für die im ‚Grand Marot’ enthaltenen Kupferstiche der Tuilerien vermutlich noch Zugriff auf Pläne Louis Le Vaus hatte (311), scheint der Künstler Ende der 1660er Jahre keine Informationen mehr über die aktuelle Planung der Louvre Ostfassade zu besitzen (318), sodass die ausgeführte Fassade von Marot erst viel später im Auftrag des ‚Cabinet du Roi’ gestochen wurde und daher im ‚Grand Marot’ fehlt. Diese bemerkenswerte Tatsache erklärt Deutsch mit der Nähe Marots zu den Gebrüdern Fréart de Chantelou, die Berninis Entwürfe unterstützten, während die Mitglieder des ‚Petit Conseil’ mit Le Vau, Le Brun und Perrault ab 1667 eine französische Lösung der Ostfassade befürworteten. Marot verfügte so nicht über die notwendigen Zeichnungen, um die aktuelle Planung in Kupfer zu stechen.

Wie aufgezeigt hat die Darstellung des Louvre und der Tuilerien Marot sein ganzes Leben lang beschäftigt. Deutsch hat über die präzise Analyse der Kupferstiche in Verbindung mit den Schriftquellen eine schlüssige Chronologie erarbeitet und ebenso Brüche wie Widersprüche bei den Stichfolgen aufgezeigt und überzeugend erklärt. Anders als von der Autorin nur knapp erörtert (328 f.) wäre eine umfangreichere Reflexion über das Medium des Architekturstichs und dessen Funktion aufgrund der detaillierten Kenntnisse Deutschs interessant gewesen, führt aber weit über die anfänglich formulierte Fragestellung der Untersuchung hinaus. Insgesamt betrachtet wird das vorliegende Buch in seiner Aufmachung mit fehlenden Vergleichsabbildungen nicht dem hohen inhaltlichen Niveau der präzisen Untersuchung der Autorin gerecht.

Anmerkungen
[1] Siehe beispielsweise Alexandre Gady, Jacques Lemercier – Architecte et ingénieur du Roi. Paris 2005; oder ders., Jules Hardouin-Mansart – Architecte et ingénieur du Roi, Paris 2011; Alexandre Cojannot, Louis Le Vau et les nouvelles ambitions de l’Architecture française 1612-1654, Paris 2012; Muriel de Raïssac, Richard Mique – architecte du roi de Pologne Stanislas I., de Mesdames et de Marie-Antoinette, Paris 2014, Claude Mignot, François Mansart – un architecte artiste au siècle de Louis XIII et de Louis XIV, Paris 2016.
[2] Michaela Völkel, Das Bild vom Schloss, Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600–1800, Kunstwissenschaftliche Studien Bd. 92, München, Berlin 2001. Kritik an dieser Vorgehensweise in Monika Melters Rezension, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017]. Zur Funktion des architektonischen Kupferstichs vgl. auch Thomas Wilke, Innendekoration – Graphische Vorlagen und theoretische Vorgaben für die wandfeste Dekoration von Appartements im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich, 2 Bde., München 2016, insbesondere Teil III, S. 195 ff.
[3] André Mauban, Jean Marot – architecte et graveur parisien, Paris 1944.
[4] Zu Marots entwerferischer Tätigkeit siehe die Arbeit des Verfassers, op. cit. Anm. 2.
[5] Erforderliche Vergleichsabbildungen für die visuelle Argumentation beispielsweise bei weiteren Kupferstichen der Louvre Ostfassade (232), dem Schloss Coulommiers im ‚Petit Marot’ (236), den Zeichnung aus dem ‚Recueil du Louvre’ (262, 266).
[6] Im Textteil sind Kupferstiche in eckigen Klammern [14-3] angegeben, im Katalog nur die Hauptnummer, die Druckplatte dann in runden Klammern, während die Abbildungen wiederum ein anderes Nummernsystem aufweisen.
[7] A. Gady, Lermercier, op. cit. Anm. 1, S. 380 f.

Deutsch, Kristina: Jean Marot. Un graveur d'architecture à l'époque de Louis XIV. (= Ars et Scientia; 12), Berlin; Boston: De Gruyter 2015
ISBN-13: 978-3-11-037595-4, 567 Seiten / 138 Abb., 79,95 EUR, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Thomas Wilke: [Rezension zu:] Deutsch, Kristina: Jean Marot. Un graveur d'architecture à l'époque de Louis XIV. (= Ars et Scientia; 12), Berlin; Boston 2015. In: ArtHist.net, 04.11.2017. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/16659>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^