REV 14.07.2018

Aman, Cornelia; Bednarz, Ute; Mock, Markus Leo; Wischnewsky, Jenny; Voigt, Martina: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Thüringen

Rezensiert von Christian Hecht, Weimar
Redaktion: Livia Cárdenas
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Das Corpus Vitrearum Medii Aevi ist eines der schönsten Langzeit- und Großprojekte der deutschen Geisteswissenschaften. Sollte es jemanden geben, der den Sinn bestandserschließender wissenschaftlicher Arbeit nicht versteht, könnte man ihm den vorliegenden Corpusband in die Hände geben. Hier wird gesichertes Wissen dargeboten bzw. gesichertes vom ungesicherten unterschieden. Und zwar auf eine dauerhafte Weise, denn noch etwas wird durch das Corpus Vitrearum deutlich: Die bisher unüberbotene Dauerhaftigkeit des Wissensspeichers Buch. Da gleichzeitig eine Online-Version des Corpus existiert, verbinden sich die Vorteile von Buch und maschinell durchsuchbarer Datensammlung.

Wie man es aus den Bänden des Corpus kennt, beginnen die Artikel mit einer Bibliographie. Es folgen eine Beschreibung des aktuellen Bestandes sowie Angaben zur Geschichte des betreffenden Baus und seiner Verglasung. Je nach Bedarf wird danach das Programm rekonstruiert, und es werden Angaben zu Ikonographie, Stil und Datierung gegeben. Nach diesem analysierenden Teil folgt jeweils ein Katalog der einzelnen Scheiben bzw. Fenster. Beeindruckend genaue Umzeichnung erlauben sofort, den originalen Bestand und spätere Ergänzungen auseinanderzuhalten. Schließlich sind auch alle Objekte durch sachliche Aufnahmen dokumentiert.

Die erhaltenen Thüringer Glasmalereibestände beschränken sich nicht auf die weithin bekannten Kirchenfenster in den – hier nicht behandelten – Städten Erfurt und Mühlhausen. Insgesamt gibt es noch in 23 weiteren Städten und Dörfern z.T. hochbedeutende Glasmalereien, die alle im vorliegenden Band des Corpus Vitrearum Medii Aevi behandelt sind. Einen umfangreichen Fensterzyklus besitzt vor allem die Arnstädter Liebfrauenkirche, die nicht nur zu den Hauptwerken der mittelalterlichen Architektur Thüringens gehört, sondern die auch bereits im 18. und 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung erregte. Ferner sei eigens hingewiesen auf die spätgotischen Scheiben z.B. in Saalfeld, Römhild und Bibra, die in ihrem ursprünglichen Kontext erhalten geblieben sind. Herausragend ist die zeitlich letzte Gruppe: die Scheiben des Schmalkaldener Lutherhauses, die 1538 zweifellos in Nürnberg entstanden, um die Stube zu schmücken, in der im Jahr zuvor Martin Luther gewohnt hatte, als sich in Schmalkalden die Mitglieder des nach dieser Stadt benannten Bundes trafen. Das Medium der Glasmalerei erlangt hier einen neuen Rang und dokumentiert eine neue Form der Sakralisierung von Herrschaft. Dargestellt sind Wappen und Bildnisse lutherischer Fürsten sowie die Opferung Isaaks. Diese Kombination von dezidiert religiös zu verstehenden Herrscherbildnissen und traditioneller biblischer Darstellung verweist nicht nur allgemein auf die Fürsten als Oberhäupter der neuen lutherischen Religion, sondern ganz konkret auf die Schmalkadischen Artikel, die in der Lutherstube unterzeichnet wurden und in denen Luther die stärkste Zusammenfassung seiner Theologie gab und auf die bis heute alle lutherischen Pfarrerinnen und Pfarrer verpflichtet werden. Die Opferung Isaaks liefert die entsprechenden inhaltlichen Bezüge, denn sie verbildlicht, wie ein passender Vers des Römerbriefs (Röm 4,3) belegt, die lutherische Rechtfertigungslehre, nachdem sie in der altgläubigen Ikonographie eine der wichtigsten Präfiguration des Opfers der Messe war. Und tatsächlich sind die Verurteilung der katholischen Messe und die Einschätzung des Papstes als Antichrist die zentralen Themen der Schmalkaldischen Artikel.

Am anderen Ende der Zeitskala steht das berühmte Oberndorfer Fenster mit einer Darstellung des hl. Nikolaus. Es gehört zu den ältesten Thüringer Glasmalereien, neben einigen kleineren Scheiben bzw. Fragmenten in der Kirche von Veitsberg und in den Sammlungen der Klassik-Stiftung in Weimar. Speziell für diese frühen Werke werden hier erstmals wirklich begründete Datierungen und stilistische Einordnungen geboten. Das geschieht jeweils aufgrund einer umfassenden Analyse aller erreichbaren Quellen und Vergleichsbeispiele. Im Fall des Oberndorfer Fensters werden also die historischen Daten, die über die Grafen von Schwarzburg-Käfernburg, aus deren Burgkapelle bzw. Burgkirche das Fenster stammt, zusammengesehen mit klug ausgewählten Buchmalereien. Größte Aufmerksamkeit wird hier wie bei allen anderen Objekten auf die Restaurierungsgeschichte sowie die Forschungsgeschichte gelegt. Es wird jeweils das gesamte Material erschlossen, von der Entstehung des jeweiligen Werkes bis zur Gegenwart.

Der Wille zur Vollständigkeit ist eine Stärke des gesamten Projekts und kommt gerade in diesem Band auf hervorragende Weise zur Geltung. Dadurch wird dieser Corpus-Band zu einem Bezugswerk, in dem man nicht nur etwas erfährt über die Glasmalerei einiger thüringischer Orte, sondern auch generell über Geschichte und Kunstgeschichte der jeweiligen Kirchen und sonstigen Bauten sowie überhaupt über die mittelalterliche Kunstgeschichte Thüringens. Im Moment dürfte es keinen besseren Überblick über dieses schwierige Thema geben als die „Kunstgeschichtliche Einleitung“ (S. 39–64) von Jenny Wischnewsky. Wie es dem Untersuchungsgebiet des Bandes entspricht, behandelt sie in erster Linie das Gebiet des heutigen Freistaats, und Erfurt, das heute als dessen Hauptstadt fungiert, spielt auf diesen Seiten selbstverständlich eine herausragende Rolle. Glasmalerei kann immer nur gattungsübergreifend untersucht werden, deshalb hat der einleitende Überblick Schwerpunkte bei Architektur und Malerei. Bei letzterer wird wieder einmal dem im Erfurter Dom befindlichen Einhornretabel, dem sich die Verfasserin intensiv zugewandt hat, eine wichtige Stellung zugewiesen. Es sei daher die Gelegenheit genutzt, um in dieser Rezension eine Herkunft des Retabels aus dem Erfurter Cyriakskloster vorzuschlagen, nicht zuletzt wegen des Habits der dortigen Benediktinerinnen, den man mit den Gewändern der auf dem Einhornretabel dargestellten Stifterinnen identifizieren kann. Die Nonnen trugen über dem Schleier ring- und kreuzförmig angeordnete Stoffbänder, wie man es von der „corona“ der Birgittinnen kennt, wie es aber hier und da auch in anderen Klöstern üblich war. Diesen Habit des Cyriakskloster zeigen zwei, allerdings erst gegen 1500 gemalte Miniaturen aus einem benediktinischen Missale (Weimar, Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Inc. 152, fol. 144b verso), das Matthias Eifler im Rahmen der Katalogisierung der lateinischen Handschriften der Weimarer Bibliothek dem Erfurter Cyriaksklosters zuweisen konnte.

Der vorliegende Band zur mittelalterlichen Glasmalerei Thüringens eröffnet Perspektiven in viele Richtungen. Nur ein wichtiger Aspekt kann hier noch hervorgehoben werden: Da auch die Glasmalerei der Gothaer Museen sowie die Bestände in den Räumen der Wartburg sowie in den Sammlungen Weimars behandelt werden, weitet sich der Blick auf die Rezeptionsgeschichte der mittelalterlichen Glasmalerei. Einen kleinen Nebenschwerpunkt bildet dabei die Sammlung Goethes, der schon 1792 eine nicht geringe Menge von mittelalterlichen Scheiben aus der Erfurter Kaufmannskirche erwarb.

Wie nicht anders zu erwarten, zeigen sich die hohen Standards des Corpus auch im geradezu idealen Apparat: in der Bibliographie und bei den sehr sorgfältig erstellten Regesten, die man gar nicht genug loben kann. Natürlich gibt es Register zur Ikonographie, zu den Personen sowie zu den Orten. Insgesamt ist ein wunderbares Buch entstanden, das die lange Reihe der Bände des Corpus Vitrearum Medii Aevi würdig fortsetzt.

Aman, Cornelia; Bednarz, Ute; Mock, Markus Leo; Wischnewsky, Jenny; Voigt, Martina: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Thüringen. Ohne Erfurt und Mühlhausen (= Corpus vitrearum medii aevi ; 20,1), Berlin: De Gruyter 2016
ISBN-13: 978-3-11-044573-2, 553 Seiten, 149,95 EUR, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Christian Hecht: [Rezension zu:] Aman, Cornelia; Bednarz, Ute; Mock, Markus Leo; Wischnewsky, Jenny; Voigt, Martina: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Thüringen. Ohne Erfurt und Mühlhausen (= Corpus vitrearum medii aevi ; 20,1), Berlin 2016. In: ArtHist.net, 14.07.2018. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/16118>.

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