REV 10.06.2007

Veronika Thum: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut'

Rezensiert von Imke Harjes
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Das Interesse der kunsthistorischen Forschung an Funktion, Bedeutung und Verwendung des Bildes ist ungebrochen groß. Jedoch mangelt es oftmals an detaillierten Fallstudien, in denen konkret den jeweiligen Nutzungszusammenhängen der Bilder nachgegangen wird.[1] Für die graphischen Dekalogszyklen schließt die Dissertation von Veronika Thum diese Forschungslücke. Erklärtes Ziel ihrer Arbeit ist es, einen „größeren Überblick über zyklische Darstellungen des Dekalogs in der graphischen Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ zu bieten. Und diesem wird sie mit ihrem breit ausgewählten Material und der sorgfältigen ikonographischen Untersuchung gerecht. Sie bietet einen umfassenden Überblick über die gängige Ikonographie und beleuchtet Vorbilder und Rezeption sowie Gebrauch und Bedeutung der Dekalogszyklen.

Anzahl und Reihenfolge der Gebote waren lange Zeit nicht einheitlich und so gibt die Autorin zunächst eine kurze allgemeine Einführung zum Dekalog im Christentum. Sie führt die alttestamentlichen Quellen und die möglichen Adressaten der Gebote auf und geht auf die Tradition des Dekalogs ein. Es folgen allgemeine Bemerkungen zu Inhalt und Praxis der Katechese, zu Autoren und Adressaten, Bildungsstand und Moral der Rezipienten sowie Funktion von Text und Bild in der christlichen Erziehung. Nach dieser allgemeinen Hinführung zu Geschichte und Tradition des Dekalogs und seiner Kontextualisierung beginnen die Hauptkapitel mit der ikonographischen Analyse der ausgewählten Zyklen.
Die Untersuchung ist chronologisch und nach ikonographischen Themen, bzw. Autoren und Künstlern, sehr übersichtlich aufgebaut.

Zur Zeit der Vorreformation ist die vorherrschende Bildargumentation in Einblattdrucken zum einen die Gegenüberstellung der Zehn Gebote mit den Ägyptischen Plagen sowie zum anderen die vermittelnde Instanz der Engel und Dämonen, die Gut und Böse verbildlichen. Sie stellen dem Betrachter die möglichen Strafen für seine Fehltritte vor Augen und verfolgen eindeutig moralisierende Funktionen. Die Gebrauchssituation, eine Verwendung der Einblattdrucke für die persönliche Andacht zu Hause, kann Thum aus schriftlichen und bildlichen Quellen der Zeit überzeugend herleiten.

Aufgrund der sich konstituierenden konfessionellen Unterschiede kommt es mit der Reformation zu einer Zäsur in den ikonographischen Programmen der Dekalogszyklen. Neben die religiöse Erbauung und Erziehung tritt die religiöse und politische Dimension des Dekalogs, was Thum am Beispiel der Zehn-Gebote-Tafel von Cranachs d.Ä. deutlich macht. Diese Tafel entstand 1516 für den Gerichtssaal des Wittenberger Rathauses und diente an diesem Ort der Rechtssprechung nicht primär der religiösen Unterweisung sondern als moralischer Appell.

Im Zusammenhang mit den Lehren Martin Luthers darf die Frage nach der Bildverwendung nicht fehlen. Thum stellt in einem umfassenden und kenntnisreichen Überblick die Positionen der Reformatoren zur Bilderfrage dar. An dieser Stelle wäre eine differenzierte Darstellung der Bedeutung unterschiedlicher Medien für die Bilderfrage wünschenswert gewesen. Für die Verwendung von Grafik, besonders im Buchdruck, wurde die Frage der Bilderverwendung gänzlich anders, nämlich positiv, da didaktisch sinnvoll, bewertet als z.B. für die Verwendung von Bildern im Kirchenraum. Anhand weiterer Beispiele von Hans Baldung Grien und Hans Sebald Beham werden die unterschiedlichen Publikationszusammenhänge der Bilderzyklen dargestellt und der theologische Einfluss durch Bibelstellen und zeitgenössische Exegese untermauert.

Im Kapitel zum Zeitalter der Konfessionalisierung untersucht Thum die lutherisch-reformierte und die römisch-katholische Tradition sowie niederländische Zehn-Gebots-Zyklen an ausgewählten Beispielen. Während dieses Zeitalters wurden unterschiedliche, schon früher geläufige Bildargumentationen verwendet, so wurden in Luthers großem Katechismus von 1530 in den Holzschnitten von Hans Weiditz die Ägyptischen Plagen mit Engeln und Dämonen vermischt. Die strenge Forderung des Wittenberger Reformators, nur solche Bilder zu nutzen, die die biblischen Geschichten historisch getreu wiedergeben, wurden schon bald aufgegeben. Die Autorin präsentiert eine ganze Bandbreite von bildlichen Dekalogsdarstellungen, wobei auffällig ist, dass für die gegenreformatorischen Katechismus-Illustrationen schon früh der protestantisch-lutherische Entwurf übernommen wurde. Die Szenen aus dem Alten Testament wurden allerdings weniger konsequent nach der Schrift dargestellt. In der Niederländischen Tradition wird teilweise auf eine vergleichbare Bildauswahl zurückgegriffen, Vorbild waren jedoch nicht die gedruckten deutschen Bibeln sondern typologische Schriften wie die Bible moralisée. In den Dekalogszyklen des 17. und 18. Jahrhunderts wiederholen sich die Bildprogramme der Vorläufer, es handelt sich bei den Darstellungen zu den Zehn Geboten also um ein relativ konstantes ikonographisches Programm. In der späteren Zeit sind die Zyklen narrativer oder allegorisch überhöht.

Im letzten Kapitel der Arbeit stellt die Autorin anhand wichtiger Dekalogs-Auslegungen in Buchform den Zusammenhang von Bild und Text vor: Sie präsentiert die unterschiedlichen Interpretationen der einzelnen Gebote durch die Autoren Marquard von Lindenau, Johann Moirs, Johannes Schott und Martin Luther sowie den Römischen Catechismus. Neben der deskriptiven Ebene wäre ein zusammenfassendes analytisches Vorgehen mit einer stärkeren Rückbindung an die Arbeit sicher ertragreich gewesen.

Die Arbeit zeichnet sich durch ihre Materialfülle und anschauliche Aufarbeitung der Inhalte aus. Die ikonographische Untersuchung der Dekalogszyklen verdeutlicht verschiedene Traditionen, die im theologischen Kontext verortet werden. Allgemein hätte neben den ausführlichen deskriptiven Teilen der Arbeit eine zusammenfassende Analyse die Ergebnisse noch deutlicher akzentuiert. Die Argumentation der Autorin mit schriftlichen und bildlichen Quellen, die Betonung der alltäglichen Szenerie der Holzschnitte und deren eindeutige bildliche Darstellung überzeugen den Leser von der These der privaten häuslichen Nutzung der Drucke. Besonders vor dem Hintergrund der bisher kaum erforschten katechetischen Kunst und der allgemeinen Vernachlässigung der religiösen Druckgraphik in kunsthistorischen Untersuchungen kommt dieser Arbeit grundlegende Bedeutung zu.

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Anmerkung:

[1] An Ausnahmen wären beispielhaft zu nennen: Christian Rümelin: Bildverwendung im Spannungsfeld der Reformation. Aspekte oberrheinischer Buchillustration, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hg. von Peter Blickle, André Holenstein, Heinrich Richard Schmidt und Franz-Josef Sladeczek, München 2002, S. 195-222. Thoams Noll: Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 67, 2004, S. 297-328.

Thum, Veronika: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut'. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2006
ISBN-13: 978-3-422-06637-3, 231 S.

Empfohlene Zitation:
Imke Harjes: [Rezension zu:] Thum, Veronika: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut'. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Kunstwissenschaftliche Studien), München [u.a.] 2006. In: ArtHist.net, 10.06.2007. Letzter Zugriff 22.12.2024. <https://arthist.net/reviews/161>.

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