Bereits zu seinen Lebzeiten – spätestens mit der großen Einzelausstellung im Pavillon de l’Alma im Rahmen der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 – galt Auguste Rodin als einflussreichster Bildhauer seiner Zeit. Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke und Camille Mauclair sowie Kunstkritiker und -sammler rühmten die Skulpturen des französischen Künstlers als Ausgangspunkt der modernen Plastik.
„Rodin ist der größte lebende Künstler Frankreichs, und seine gedanklichen Motive sind die kompliziertesten und mächtigsten der modernen Kunst. Er hat keine Schule begründet, aber er nimmt Einfluss auf Seelen einer ganzen Generation.“ [1]
Anlässlich seines 100. Todestags widmet der Grand Palais in Paris dem Meister bis zum 31. Juli eine fulminante Ausstellung. Angesichts dieses Jubiläums erwartet den Ausstellungsbesucher eine eindrucksvolle, doch in ihrer Fragestellung begrenzte, gar vorhersehbare Retrospektive des Rodin’schen Œuvre. Beim Betreten der Ausstellung scheint sich dieses Szenario zunächst zu erfüllen, sieht sich der Besucher doch zu Beginn mit einem kleinen ‚best of’ konfrontiert: neben der zierlichen Figur des „Ehernen Zeitalters“ (1877) erhebt sich der vorwärts strebende „Johannes der Täufer“ (1880), ihnen gegenüber verkörpern die „Bürger von Calais“ (1884-95) eine Bandbreite menschlicher Emotionen und am Ende des Saals ragt schließlich die düstere und grüblerische Gestalt des „Denkers“ (um 1880) auf. Die Idee von einer Aneinanderreihung Rodin’scher ‚Blockbuster’ bricht jedoch bereits mit der Aufstellung des bronzenen Riesen von Georg Baselitz („Volk Ding Zero“, 2009) im ersten Saal auf. Wäre eine rein Rodin-zentrierte Schau doch auch geradezu redundant, bedenkt man, dass sich nur unweit des Grand Palais das Musée Rodin befindet, dessen Gründung noch vom Künstler selbst angeregt wurde und heute sein gesamtes Werk in Gips, Marmor, Bronze und Stein, seine Zeichnungen sowie seine Privatsammlung, beherbergt.
Stattdessen ist es erklärtes Ziel der Ausstellung, die gerühmte zeitlose Modernität des Rodinschen Werks und dessen Einfluss auf folgende Künstlergenerationen zu präsentieren. Hierzu werden auf zwei Stockwerken über 200 Werken Rodins 150 künstlerische Positionen vom späten 19. bis 21. Jahrhundert gegenübergestellt. Unter ihnen finden sich Skulpturen und Zeichnungen von Zeitgenossen wie Antoine Bourdelle, George Minne und Wilhelm Lehmbruck sowie von Alberto Giacometti, Constantin Brancusi, Markus Lüpertz, Germaine Richier und Georg Baselitz, bei dessen „Volk Ding Zero“ es sich nur um ein Beispiel der teilweise sehr mutigen und provokativen Werkauswahl handelt, die auch noch den geschulten Rodin-Kenner mitreißen kann. Das Hauptaugenmerk innerhalb dieser Rezeptionsgeschichte liegt dabei auf Rodins vorbildhaftem Bestreben, die Ausdruckskraft des Mediums Skulptur in seinen ästhetischen Möglichkeiten fortwährend und in Gänze auszuschöpfen.
In ihrer Struktur folgt die Ausstellung keineswegs einer chronologischen Ordnung, sondern ist thematisch in drei Blöcke gegliedert, deren Titel jedoch nicht immer die gehegten Erwartungen erfüllen können. So führt das für den ersten Teil gewählte Thema ‚Rodin expressionniste’ in die Irre. Anstatt hiermit den Besucher auf den gesteigerten, expressiven Ausdruck vieler Rodinscher Werke vorzubereiten, wie ihn beispielsweise die emotionalen „Bürger von Calais“ besitzen – erinnern sie doch an mittelalterliche Christusdarstellungen und ‚pleurants’-Figuren – fühlt sich der Betrachter vielmehr auf den Expressionismus als Stilepoche verwiesen. Auch wenn von einem eigenen „expressionnisme rodinien“ (Katalog, S. 33, 258) gesprochen werden kann, ist eine solche stilgeschichtliche Verortung des Bildhauers nicht ganz richtig und scheint keineswegs von den leitenden Kuratorinnen Catherine Chevillot, Direktorin des Musée Rodin, und Antoinette Le Normand-Romain intendiert. [2]
Die Betitelung des zweiten Ausstellungsabschnittes ‚Rodin expérimentateur’ hingegen hält, was sie verspricht. Sie beschreibt die facettenreiche und experimentelle Arbeitsweise des Künstlers: Neben seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Gips als favorisiertes Arbeitsmaterial (S. 128-133) zeigt die Ausstellung einen Rodin, der die Grenzen und Möglichkeiten der Kunstgattung Skulptur stets aufs neue ausreizt und erweitert, indem er seine Skulpturen vergrößert oder verkleinert, Fragmente früherer Arbeiten mithilfe der Assemblage in immer wieder neue Werkschöpfungen überführt und schließlich die eigentlich von ihm gering geachtete Photographie in den Werkprozess einbezieht (S. 154-158). So sind in der Ausstellung Aufnahmen von E. Freuler, Charles Bodmer und Eugène Druet zu sehen, in denen Rodin seine photographisch festgehaltenen Skulpturen, wie beispielsweise das „Monument für Claude Lorrain“ (1889-1892), mit Bleistift korrigiert und modifiziert. Im dritten Abschnitt schließt die Ausstellung letztendlich mit jenem Phänomen, welches die Kuratorinnen als „Rodin, l’onde de choc“ bezeichnen: Rodin und die Wirkkraft seines Œuvre auf die zeitgenössische Kunstwelt und nachfolgenden Künstlergenerationen. Dieser bildliche Vergleich bezieht sich, auch wenn er eigentlich der Titel der gesamten Ausstellung sein könnte, vor allem auf die große Anzahl von Werken, die nach 1945 entstehen und sowohl neu entdeckte Aspekte des Rodin’schen Œuvre verarbeiten, als auch etablierte Werkthemen, wie beispielsweise das Motiv des Fragmentarischen, dem „corps en morceaux“, oder das Arbeiten mit dem Material Gips, wiederbeleben. Ein beeindruckender Querschnitt dieser Skulpturen des 20. sowie 21. Jahrhunderts wird im letzten und größten Ausstellungssaal in Szene gesetzt; hier stehen sich an einem Punkt mit dem „Walking Man“ (1995) von Thomas Houseago und Alberto Giacomettis „Homme qui marche III“ (1960) zwei Rezeptionen von Rodins „L’Homme qui marche“ (1899?) einander gegenüber, während an anderer Stelle Rodins Spiel von realen, in Gips getauchten und so verarbeiteten Textilien neu verhandelt wird. Um 1895/96 verhüllt Rodin den Torso seines Ehernen Zeitalters in einer Gipsstudie fast zur Gänze in ein in Gips getränktes Leinentuch, nur das ausdrucksvolle Gesicht bleibt zur Hälfte frei. Dieses Motiv scheint Henry Moore in seinem „Draped Torso“ (1953) aufgegriffen zu haben. Er imitiert im Gegenzug aber in seinem Werk das den kopflosen Torso bekleidende Tuch in einem paragonegleichen Akt in Bronze.
Und auch die „Höllenpforte“, an welcher der Bildhauer von 1880 bis zu seinem Tod arbeiten sollte, findet ihren Platz in Rodins moderner Rezeptionsgeschichte, gilt sie doch als primäre Referenz für alle im 20. Jahrhundert entstandenen, skulptural ausgeschmückten Portale. Beispielhaft für diese motivischen Analogien werden Lucio Fontanas „Bozzetto per la porta del duomo di Milano“ (1952) und Barry Flanagans Werk „Large Monument“ (1996) gezeigt. [3] Formale und thematische Bezüge verdeutlicht Antoine Bourdelles „Unvollendeter Brunnen“ (um 1899), der, angelehnt an Rodins „Höllentor“, die menschlichen Leidenschaften in einem stark bewegten, fast vollplastischen Hochrelief darstellt. Dennoch mag mancher Besucher kritisieren, dass der „Höllenpforte“ im Rahmen der Ausstellung nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit zuteilwird. Hätte sie, aus der so viele Einzelwerke hervorgingen, doch als Ausgangspunkt der Ausstellung dienen können, anstatt ins Treppenhaus, in den Übergang der beiden Ausstellungsebenen, abgeschoben zu werden. Aber diese fehlende Hervorhebung ist als eine bewusste Entscheidung und keineswegs als ein Versäumnis der Ausstellungsmacherinnen zu werten. Denn erst im Herbst/ Winter 2016/17 widmete das Musée Rodin mit „L’Enfer selon Rodin“ der „Pforte“ eine reiche Sonderausstellung. [4] Und genau hierin mag auch eine Stärke der Jahrhundertausstellung liegen, nämlich, dass es sich gerade nicht um eine Zusammenschau der Sonderausstellungen der vergangenen Jahre handelt, sondern vielmehr um den Versuch, einen abermals neuen Blickwinkel auf das Œuvre Rodins zu eröffnen.
Einzig die Ausrichtung der Ausstellungs-Dramaturgie könnte vage angezweifelt werden, wenn in der Rückschau des Besuchs der Eindruck eines sehr einseitigen Rodin-Bezugs entsteht. An keinem Punkt scheint durch, dass sich viele Künstler, die wie Lehmbruck in ihrer frühen Schaffensphase im hohen Maße vom Einfluss des Rodin‘schen Werk geleitet wurden, in späteren Jahren in bewusster Abgrenzung zur Kunst des französischen Übervaters weiterentwickelten. Hierzu muss erst der umfassende und sehr überzeugende Ausstellungskatalog hinzugezogen werden, der wiederum gleich mehrfach darauf verweist, dass sich die Zeitgenossen sowie späteren Künstlergenerationen sowohl in An- als auch in expliziter Ablehnung zu Rodin positionierten (S. 25-37, 258-275). Zur Untermauerung dieser These wird die Ausstellung „Oublier Rodin? La sculpture à Paris, 1905-1914“ [5] im Musée d’Orsay im Frühjahr 2009 genannt, die das Werk Rodins in jenem rezeptionsgeschichtlichen Antagonismus von Faszination und Emanzipation verortet. Eine solche Rückblende – um sich nun doch auf eine ausgewählte vorangegangene Rodin-Ausstellung zu beziehen – wäre für die gegenwärtige Rodin-Ausstellung sehr bereichernd gewesen.
Dieser Kritikpunkt schmälert jedoch den historischen Wert der Jubiläumsausstellung insgesamt nur geringfügig, bietet die Ausstellung doch einen Blick auf das Werk Rodins, der eben nicht ein rein französischer sondern ein europäischer, ein internationaler ist und in der enormen und unbedingt sehenswerten Schau europäischer Skulptur des 19. bis 21. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Es ist nicht der ‚politische Rodin’, der im Fokus steht. Stattdessen kreist die Ausstellung um rein ästhetische Aspekte des künstlerischen Schaffensprozesses, indem sie die unermüdliche Suche Rodins nach neuen Ausdrucksmitteln der menschlichen Gefühls- und Gedankenwelt aufzuzeigen versucht. Auf diese Weise greift sie aktuelle Fragen nach Materialität, bildnerischen Arbeitsweisen und dem künstlerischen ‚backstage’ auf, die gegenwärtig auch auf der diesjährigen Biennale in Venedig unter dem Leitmotiv „Viva Arte Viva“ thematisiert werden, und verdeutlicht abermals die ungebrochene Modernität Rodins.
Anmerkungen:
[1] Mauclair, Camille: Auguste Rodin. Der Mensch – Sein Wollen – Sein Werk, Prag 1907, S. 108-109.
[2] Zum Kuratorinnenteam gehörten ferner vier Mitarbeiterinnen des Musée Rodin, namentlich Sophie Biass-Fabiani, Hélène Marraud, Véronique Mattiussi und Hélène Pinet.
[3] Fontanas „Bozzetto per la porta del duomo di Milano“ wird im Ausstellungskatalog seltsamerweise nicht auffgeführt. Stattdessen wurde mit „Concetto spaziale, Uomo atomico“ (1947) ein Werk des Künstlers in den Katalog mitaufgenommen, das aufgrund seiners derzeit nicht zu lokalisierenden Standortes nicht in der Ausstellung zu sehen ist (S. 310, Cat. 292).
[4] Blanchetière, François (Hrsg.): L’enfer selon Rodin, Ausst.-Kat., Musée Rodin, Paris , 18. Dez. 2016 - 22. Jan. 2017, Paris 2016. Der leitende Kurator dieser Ausstellung, François Blanchetière, ist mit einem Beitrag zum „Höllentor“ auch im Katalog der Jubiläumsausstellung (S. 60-69) vertreten.
[5] Chevillot, Catherine (Hrsg.): Oublier Rodin? La sculpture à Paris, 1905-1914, Ausst.-Kat., Musée d’Orsay, Paris, 10. März - 31. Mai 2009, Paris 2009.
Die Autorin arbeitet derzeit an einer Dissertation zur Mittelalterrezeption in der französischen Skulptur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt ist ihre Masterarbeit zum Mittelalterbezug Auguste Rodins am Beispiel seiner Bürger von Calais.
Empfohlene Zitation:
Marthje Sagewitz: [Rezension zu:] Rodin. L’exposition du centenaire (Paris, Galeries nationales du Grand Palais, 22.03.–31.07.2017). In: ArtHist.net, 19.07.2017. Letzter Zugriff 23.11.2024. <https://arthist.net/reviews/16065>.
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