REV May 1, 2007

Kockel/Graepler/Angel (Hgg.): Daktyliotheken

Reviewed by Charlotte Schreiter
Editor: Godehard Janzing

Die Zugänglichkeit archäologischer Denkmäler und die Wege der Übermittlung antiker Bildwelten in Mitteleuropa besonders im 18. Jahrhundert sind seit einigen Jahren zusehends stärker in den Blick genommen worden. Wenn hierbei das Medium der Ausstellung mindestens ebenbürtig neben die wissenschaftliche Bearbeitung tritt, wird das der Fragestellung besonders gerecht: werden doch dadurch heute weitgehend vergessene Formen des Zugangs in all ihren Facetten dinglich und visuell erfahrbar. Ein besonders gelungenes Beispiel hierfür ist die Ausstellung „Daktyliotheken - Götter und Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts“, die in Göttingen in die Ausstellung “Das Studium des schönen Altertums“ integriert wurde, mit ihrem von Valentin Kockel und Daniel Graepler herausgegebenen Katalog.

Im Zusammenschluss der archäologischen Institute in Göttingen und Augsburg und unter intensiver Mitarbeit der dortigen Studentinnen und Studenten wurden die auffallend reichen Bestände einer heutzutage wenig populären Gattung – der Daktyliotheken – katalogisiert, dokumentiert und in ihrem historischen und wissenschaftlichen Kontext erläutert. Es handelt sich dabei um Zusammenstellungen einer zumeist sehr großen Anzahl von Abdrücken antiker Gemmen, die nach verschiedensten Kriterien angeordnet waren und antike Bilder in ganz Europa popularisierten. Ist schon die Bezeichnung kaum auszusprechen und bedarf dementsprechend ausführlicher Untertitel, um den Gegenstand zu erläutern, so dürfte er auch nur einem sehr ausgewählten Personenkreis überhaupt noch geläufig sein. Völlig anders verhielt es sich damit im 18. Jahrhundert, als die Bezeichnung - nur im weitesten Sinne an antike Bezeichnungen angelehnt - geprägt wurde, und Daktyliotheken den europäischen Markt überschwemmten (Kockel, S. 8-16; Bauer/Bestle, S. 57-59).

Zu den dinglichen Hinterlassenschaften, die sich schon allein aufgrund ihres Materialwertes, des Oberflächenreizes und der Darstellungsvielfalt bei Sammlern und Antiquaren seit der Renaissance besonderer Beliebtheit erfreuten, gehörten fraglos antike Gemmen, in aller Regel Ringsteine aus Halbedelsteinen, in die ein oft aufwändiges Reliefbild eingetieft eingeschnitten wurde. Dessen positiver Abdruck wurde bereits in der Antike als Siegelbild verwendet (Riedl, S. 121-130). Schon in römischer Zeit etablierten sich einzelne Steinschneider als berühmte Künstler, was darauf schließen lässt, dass sie schon in der Antike hoch geschätzt wurden. Das massenweise Auftreten solcher Steine, die bereits bei den Griechen genutzt wurden, seit der spätrepublikanischen Zeit (sp. 1. Jh. v. Chr.), erklärt sich auch daraus, dass viele Besitzer dazu übergingen, mir mehreren Ringen zu siegeln (Bauer, S. 78-81). Gemmen zählen zudem vielfach zu denjenigen antiken Überresten, die niemals in den Boden gelangten, sondern oft in verschiedenen Neuverwendungen die Jahrhunderte unversehrt überdauerten. Große Gemmensammlungen waren äußerst beliebt und viel besucht, erkannte man doch in den Darstellungen die ganze Vielfalt der antiken Götter- und Heroenwelt (Kockel, S. 9).

Die geringe Größe und die große Anzahl der Gemmen veranlassten einige Künstler, Abdrücke zu Tableaus zusammenzustellen (Kokkel, S. 11). Einen Boom erlebten diese Sammlungen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ihrer jeweiligen Zielrichtung als Lehrwerke, Künstlervorlagen oder wissenschaftliche Dokumentationen entsprechend kamen dabei unterschiedliche Konzeptionen zum Tragen, die von der enzyklopädischen Anordnung über mythologische und stilistisch ausgelegte Daktyliotheken bis hin zu „Großen Sammlungen“ und Katalog-Daktyliotheken reichten (Knüppel S. 17-38). Die größte systematische Daktyliothek entstand in Deutschland. Philipp Daniel Lippert, der selbst nie in Italien war, beschaffte sich durch ein gutes Netzwerk befreundeter Künstler und Wissenschaftler ausgezeichnete Abdrücke, die er thematisch im Sinne einer enzyklopädischen Daktyliothek anordnete (Kerschner S. 60-68). 1753 gab er in mehreren Editionen eine zunächst lateinische Ausgabe mit 1000 Abdrücken heraus. Von Auflage zu Auflage erhöhte er dabei die Anzahl. Die deutsche Ausgabe von 1767 enthielt bereits nahezu 3000 Abdrücke und war durch eine umfangreich bebilderte Erläuterung ergänzt (Kerschner, S. 69-75). Zur Aufbewahrung gestaltete er Kisten in Buchform, die wie schwere Folianten mit einem reich dekorierten Buchrücken versehen waren und so entsprechend in Bibliotheken einsortiert werden konnte. Die seltsame Doppelfunktion - wie ein Buch auszusehen, darin aber, wenn auch kleine, dreidimensionale Gemmenabdrücke zu vereinen - entspricht der unentschlossenen Wahrnehmung der Zeit (Kockel, S. 11). Dies greift unmittelbar in die offen ausgetragene Diskussion um Charakter und Nutzen von Darstellungen in den noch vorarchäologischen Wissenschaften ein, als sich der Wert der Darstellung von reiner Illustration zunehmend zur Bildquelle wandelte, was nicht ohne Folgen für die Ausführung und Bewertung bildlicher Darstellungen im Kupferstich blieb. Sicher nicht zufällig äußerte Lippert sich im Prolog zu seiner Daktyliothek von 1767 selbst zum Wert und der Überlegenheit der Gemmenabdrücke (Stante, S. 110-120, bes. S. 117). Diesem ersten großen, zentralen und eigentlich nie übertroffenen Werk Lipperts widmen sich denn auch verschiedene Beiträge in dem vorgelegten Katalog, wobei alle relevanten Aspekte berührt werden (Kokkel, S. 76-77). Hierdurch entsteht ein reiches Panorama sowohl der Konzeption als auch der Rezeption durch die Zeitgenossen, die den eigentlichen Stellenwert dieses Mediums erst deutlich erkennen lassen (Haug/Kockel, S. 131-140); selbstverständlich sammelten auch Künstler solche Abdrücke als Vorlagen. Ihre eigenen Werke konnten wiederum Sammelgegenstand werden (Angelova/Kockel, S. 107-109).

Der Ausgangspunkt des Katalogbandes und der beiden Ausstellungen sind denn aber auch nicht chronologisch ausgebreitete Darstellungen, sondern die vorhandenen sehr reichen Bestände der beiden Universitäten in Göttingen und Augsburg, die durch geschickte Leihgaben eindrucksvoll ergänzt und im Kontext der jeweiligen Bildungsinstitutionen thematisiert werden (Graepler, S. 39-52). Für alle Phänomene konnten dabei immer auch reichhaltige Beispiele genannt werden, die sich in der Ausstellung wiederfinden und im sorgfältig dokumentierten, farbig reich illustrierten Katalog (S. 152-205, Kat. Nr. 1-21) erläutert werden. Der Ausstellungskatalog widmet sich insbesondere den verschiedenen Anordnungskriterien und den Gründen für diese. Die ausgestellten Beispiele lassen dies gut nachvollziehen und zeigen zudem eine überraschende Farbigkeit, die auf die jeweils favorisierten Herstellungstechniken zurückgeht (vgl. Riedl a.a.O.). Eindrücklich wird dargestellt, wie sich aus der ersten noch lateinischen Ausgabe der Lippertschen Daktyliothek in expliziter Hinwendung zum Nutzer, der nur selten Latein sprach‚ diese in immer höheren Auflagen verbreitete und trotz der Weigerung, Auswahlmengen zu verkaufen, zum integralen Bestandteil bürgerlicher Wissensbestände über die Antike wurde. Dass daneben andere Anbieter, zum Teil mit einfacheren Mitteln für den Schulgebrauch Auswahl-Daktyliotheken (wie jene von Klausing, S. 162, Kat. Nr. 5) oder in selbstverständlicher Kombination mit Abdrükken moderner geschnittener Steine nach rein dekorativen Kriterien auf den Markt drängten, verwundert dagegen nicht. Werbung in den Zeitschriften und Journalen spielten eine nicht unerhebliche Rolle in der Verbreitung der Gattung, damit aber auch eines vorgefertigten Antike-Bildes (Haag-Kockel a.a.O.).

Nicht unerwähnt bleiben soll der Göttinger Tassie (S. 164-166, Kat.Nr. 7), eine Besonderheit, die letztendlich auf die Gemmenleidenschaft der russischen Zarin Katharina der Großen zurückgeht. Eine Auswahl erlesener Glasnachbildungen aus der Daktyliothek des James Tassie in London, die dieser auf Bestellung für Katharina die Große zusammenstellte und in einem Prunkschrank vereinte, fand unter ungeklärten Umständen ihren Weg nach Göttingen (Graepler S. 82-94). An ihr läßt sich eine Besonderheit beobachten, die auch für andere Daktyliotheken gilt: die zu Teil sehr deftigen erotischen Darstellungen waren nicht sofort zugänglich, sondern in getarnten Doppelladen nur von hinten einsehbar. Derselben Überlegung entspringt es, wenn aus Daktyliotheken für den Schulgebrauch die erotischen Darstellungen einfach herausgelöst wurden (Kockel, S. 141-149).

In Folge auch der erwähnten Diskussion um den Wert von Abbildungen verlor sich zunehmend das Interesse an den Gemmenabdrücken. Ein letztes großes Unternehmen geht auf das Konto des gerade gegründeten Istituto di Corrispondenza Archeologica auf dem Kapitol in Rom. Seit 1830 widmet es sich bereits der Dokumentation von Neufunden und nachgewiesenen Originalen und erhält damit einen stärker dokumentarischen Charakter als die Vorgänger. In diesem Umfeld sind auch die Aktivitäten von Sibylle Mertens-Schaffhausen zu verorten, die durch eine eigene Sammlung und durch eigene archäologische Aktivitäten den Status einer ‚Kollegin’ der Altertumswissenschaftler erlangte (Wittlich/Kockel, S. 102-106). Aber noch während des Erscheinens dieses von Eduard Gerhard begründeten Unternehmens breitet sich bereits die Erkenntnis über die Bedingtheit dieses Medium aus (Flecker, S. 95-101).

Weitere Daktyliotheken wurden nicht mehr hergestellt, die vorhandenen verschwanden in den Kellern und Magazinen von Instituten und Museen. Wenn gerade die Schätze des Göttinger Institutes so zahlreich ans Tageslicht zurückgeholt werden konnten, so ist das sicherlich Christian Gottlob Heyne zu verdanken, dem Begründer des Faches an der Göttinger Universität, dessen Wirken sich die Ausstellung widmet, in die jene über die Daktyliotheken ganz natürlich eingebettet erscheint. War es doch gerade sein Bestreben, mit Hilfe der gerade begonnenen Gipsabgusssammlung und eben der Daktyliotheken, seine Vorlesungen zu illustrieren und damit dem Mangel der eingeschränkten Verfügbarkeit und der Kenntnis der Originale - lange nicht jeder war in der Lage, sich auf eine Kavalierstour nach Italien zu begeben - entgegenzuwirken. Kaum an einem anderen Ort Deutschlands lassen sich diese frühen Bestrebungen, das Fach zu etablieren, so eindrucksvoll nachvollziehen wie in der Göttinger Paulinerkirche, in der Heynes Abgußsammlung im Lesesaal der Universitätsbibliothek spätestens 1812 ihre Bleibe fand.

Der Katalog und die Ausstellung treten so in einen fruchtbaren Dialog miteinander. Das Verdienst der Herausgeber und ihrer Mitarbeiter besteht darin, dieses lang vergessene Thema neu belebt, anschaulich präsentiert und von seinem verstaubten Ruf befreit zu haben. Der Katalog darf in der Kombination der Themen, der reichen qualitätvollen bildlichen Dokumentation und der Informationsdichte als grundlegender Leitfaden gelten, der sich für den fachlich Interessierten ebenso eignet wie für eine breitere Öffentlichkeit - womit die Daktyliotheken zu ihrer ursprünglichen Zielgruppe zurückkehren.
Anmerkungen:

Aus dem Inhalt des Katalogs:

Valentin Kockel: Antike aus zweiter Hand, S. 8-16.
Helge Knüppel: Daktyliotheken – Konzepte einer historischen Publikationsform, S. 17-38.
Daniel Graepler: Von der Liebhaberei zur strengen Wissenschaft.
Abdrucksammlungen und Gemmenstudium an der Universität Göttingen seit 1763, S. 39-52.
Verena Bestle: „Eine Quelle des guten Geschmacks“. Daktyliotheken und die Kunstakademien in Augsburg, S. 53-56.
Stefanie Bauer, Verena Bestle: „Daktyliothek“. Ein Kunstwort und seine Verwendung in Nachschlagewerken, S. 57-59.
Christina Kerschner: Philipp Daniel Lippert (1702-1785) und seine Daktyliothek zum „Nutzen der Schönen Künste und Künstler“, S. 60-68.
Christina Kerschner, Valentin Kockel: Die Editionsgeschichte der Lippertschen Daktyliotheken, S. 69-75.
Valentin Kockel: Vorläufige Liste der nachgewiesenen Exemplare der Lippertschen Daktyliotheken, S. 76-77.
Stefanie Bauer: Wie man eine Daktyliothek zusammenstellt. Überlegungen zu den Ordnungssystemen der Editionen von Lippert und Klausing, S. 78-81.
Daniel Graepler: Eine verkannte Kostbarkeit: „Der Göttinger Tassie“, S. 82-94.
Manuel Flecker: Kampf um Authentizität – Eduard Gerhard, Tommaso Cades und die Impronte Gemmarie dell’Istituto, S. 95-101.
Valentin Kockel: Spintria und Priapea. Erotische Themen in Daktyliotheken, S. 141-149.
Christiane Wittlich - Valentin Kockel: Sibylle Mertens Schaffhausen (1797-1857). Kennerin Sammlerin und ‚Kollegin’ der Altertumswissenschaftler, S. 102-106.
Gergana Angelova, Valentin Kockel: Thorvaldsen und die Gemmen, S. 107-109.
Denis Stante: „L’esprit des origineaux“ – Der Geist der Originale. Die Diskussion um die Reproduzierbarkeit von Gemmen durch druckgraphische Methoden, S. 110-120.
Nana Riedl: Von der Kunst Helden zu schaffen – Techniken der Steinbearbeitung und der Herstellung von Repliken, S. 121-130.
Isabella Haug, Valentin Kockel: Nutzen, Vertrieb und Kosten von Daktyliotheken, S. 131-140.

Kockel, Valentin; Graepler, Daniel; Angelova, Gergana (Hrsg.): Daktyliotheken. Götter und Caesaren aus der Schublade ; antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts ; [der Band erscheint anläßlich einer gleichnamigen Ausstellung, die im Sommer 2006 im Römischen Museum Augsburg und 2007 in der Staats- und Universitä, München: Biering & Brinkmann Verlag 2006
ISBN-10: 3-930609-51-7, 216 S.

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