REV-CONF 27.03.2017

Naturalismen. Kunst, Wissenschaft und Ästhetik

Universität Hamburg, Forschungsstelle Naturbilder, 26.–28.01.2017

Bericht von Thomas Moser, Ludwig-Maximilians-Universität München
Bernhard Seidler, Institut für Kunstgeschichte - Ludwig-Maximilians-Universität
Redaktion: Livia Cárdenas

Naturalismus ist in der Kunstgeschichte zentral und doch schwierig zu erfassen. Die Bezeichnung wurde hier erstmals 1657 in Francesco Scannellis ‚Il Microcosmo della pittura‘ für die Caravaggisten und seitdem unterschiedlich verwendet: zum einen für eine besonders detaillierte und teilweise eng an der Naturwissenschaft orientierte Darstellungsweise, wie sie sich seit dem 15. Jahrhundert findet, zum anderen für eine Bewegung des späten 19. Jahrhunderts.

Nicht von der Begriffsgeschichte her aufgefasst, thematisierte die Hamburger Tagung Naturalismus als künstlerische Praktiken und Bilder jeder Form. Die Vorträge setzten mit der Frühen Neuzeit ein, in der zunehmend angezweifelt wurde, dass es sich bei oder in einem Kunstwerk um Natur handelt und gleichzeitig vehemente Versuche unternommen werden, den Naturbezug wieder zu stabilisieren und evident werden zu lassen.[1] Die Naturbezogenheit des Menschen in der Kunst grundsätzlich zu überdenken, könnte auch als Beginn eines kunsthistorischen Beitrages zu Debatten betrachtet werden, die momentan über ihre Fachgebiete hinaus die Geisteswissenschaften anregen: In der Forschung erscheint Klima als Hybrid aus menschlichen und natürlichen Einflüssen, Ausgangspunkt der Überlegungen zum Anthropozän. Und in der Ethnologie werden die Grenzen von Natur und Kultur global völlig neu verhandelt. Wenn Naturalismen – so die Titelthese – von Anfang an nur im Plural existierten, würde beispielsweise die Forderung eines Naturalismus als europäisches Exportkonzept in Frage gestellt. Passend zu diesem Diskurs sowie zu den Anfängen des naturalistischen Unterfangens ‚ut pictura poiesis‘ verband die Lyrikerin Esther Kinsky zum Auftakt der Tagung Gedicht-Passagen über ‚gezeichnetes Gelände‘ mit einem Referat über Sprache.

Ausgehend davon, dass – wenigstens kunsttheoretisch – Mimesis für Natur und Kunst die größtmögliche Ähnlichkeit des Abbildes zum Abgebildeten fordert, bot Karin Leonhard feine Beobachtungen zu Dürers ‚Studienblatt mit Feldhasen‘, dessen Naturalismus seit der ersten Dürer-Renaissance betont wird. Dürers Hase würde sich von dessen Wiederholungen durch Hans Hoffmann gerade in den gewählten Formen der Naturnachahmung unterscheiden, die für jede Kopie neu erfunden wurden. Leonhard verdeutlicht, wie problematisch es ist, die Naturalismen an Dürers Naturalismus-Ikone festzumachen, und dass man jedenfalls auf der Ebene der Äußerlichkeit nicht haltmachen darf. Denn auch die Kenntnis von innerem Aufbau und Funktion der Natur war Basis naturalistischer Kunst. ‚Enargeia‘ galt seit Aristoteles als ein solches Grundprinzip und bedeutete, dass die Natur den Ursprung für Bewegung und damit Lebendigkeit in sich trage. Stijn Bussels trug vor, wie Franciscus Junius’ ‚De pictura veterum‘ ‚enargeia‘ auch von Kunstwerken einfordert und anhand von Everard Meysters ‚Hemels Land-spel‘, welche Anforderungen dadurch an Künstler und Betrachter gestellt wurden. Geschärft wurde das Argument, indem Christopher Heuer über das entsprechende anti-naturalistische Gegenkonzept der Formauflösung – bei Aristoteles ‚steresis‘ – im niederländischen Ikonoklasmus und Montaignes Gedanken zum Kannibalismus sprach.

Da die formende ‚techne‘ als Kriterium für Natürlichkeit seit der frühen Neuzeit nicht mehr ausreichte, wurde die Frage nach dem bildgebenden Verfahren entscheidend. Dominic Olariu stellte die zwei frühesten mit der Technik der Ektypie bzw. des Naturselbstdruckes bebilderten Pflanzenbuch-Manuskripte aus dem 15. Jahrhundert vor. Diese Abbildungen galten als so sehr dem Original im Sinne der ‚imago contrafacta‘[2] entsprechend, dass die daraus abgeleitete Präsenz des Gegenstandes im Bild für das einprägende Lernen in der Pflanzenkunde sowie magische Praktiken herangezogen wurde. Der Maler Elias van den Broek sollte später aus Antwerpen vertrieben werden, weil sein Schmetterlingsabdruckverfahren Natur ohne Übersetzungsleistung in Kunst zu transformieren getrachtet habe. Ob hier ein Zusammenhang zwischen dem Blasphemieprozess gegen Johannes Torrentius und der Technik seiner Malerei in ihrem Umgang mit der ‚copia rerum‘ bestehen könnte, spekulierte Claudia Swan. Isabella Augart indessen erarbeitete, wie Philipp Apians ‚Große Karte‘ von 1563 nach der kosmographischen Methode verschiedenste Techniken verzahnt und über den Augenschein unbedingte Glaubwürdigkeit beanspruchen kann.

Wie sich die Naturalismen angesichts neuer Rahmenbedingungen ändern sollten, wenn sich der Mensch seit dem 17. Jahrhundert vom Naturzustand entfernt und der aisthetischen Naturerkenntnis durch die ‚fallacitas sensuum‘ das Wesentliche entgeht, diskutierte Jan von Brevern. In Sulzers ‚Allgemeine Theorie der Schönen Künste‘ führt der Weg zurück zum Natürlichen über die Künstlichkeit. Diese Entwicklung verfolgte von Brevern bis zu Schelling, bei dem der Mensch nur noch im Kunstwerk Zugriff auf die ihm ansonsten unzugängliche Natur bekommen kann. Mit Johann Jakob Engels ‚Über die musikalische Malerei‘ erläuterte Martin Zenck, wie Natur musikalisch dargestellt werden konnte, Beethoven gegen eine solche Nachahmungsästhetik mit seiner 6. Symphonie das Programm einer Ausdruckslogik vortrug und mit welchen Naturalismen Heinz Holliger in seinem Scardanelli-Zyklus die völlige Berührungslosigkeit zur Natur beim späten Hölderlin musikalisch umsetzt.

In der longue durée dieser Neujustierung schält sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein weiterer Naturalismus aus dem französischen Realismus. Paradigmatisch steht hierfür Émile Zolas ‚Rougon-Macquart‘-Zyklus, der auf einer Metaebene nicht nur die seinerzeit wissenschaftlich vieldiskutierte Frage nach genealogischer Heredität psychischer Dispositionen verhandelt; die Romane bilden geradezu ein Kompendium von Fallbeispielen zu psychologischen und physiologischen Fragestellungen. Hiervon ausgehend analysierte Markus Wild das naturalistische Schaffen Zolas, Nietzsches und Gustave Caillebottes vor der Folie der zeitgenössischen Philosophie. Dem vordergründigen Anspruch einer wissenschaftlich fundierten externen Perspektive auf den Menschen zum Trotz, weist die gleichzeitige Tendenz zu einer subjektiv-internen den Naturalismus ironischerweise als Humanismus aus. Diese Instabilität zeichnet auch das Werk Degas aus, wie Michael F. Zimmermann zeigte. Sein Beitrag legte eine Übersetzung von Zolas Temperamentsästhetik in die Malerei offen und skizzierte Degas damit in letzter Konsequenz als Naturalisten par excellence. Andrea Haarers Ausführungen kreisten indes um naturwissenschaftliche Inspirationsquellen für Victor Hugos vermeintlich ungegenständliche ‚Taches‘. Ihre profunde Quellenexegese machte glaubhaft, dass die sepiafarbenen Verläufe eines Blattes nicht von Hugos vertiefter Auseinandersetzung mit ozeanologischen Schriften zu trennen sind. Vielmehr muss dieses als zeichnerisch-experimentelle Rumination über Kleinstlebewesen, Meeresschichten, ja vielleicht sogar als Schöpfungstheorie des Künstlerischen verstanden werden. Während Haarer die ‚Taches‘ aus dem tradierten Kontext der Protoabstraktion befreite, reflektierte Kendall Walton über die Möglichkeit eines zugleich abstrakten und naturalistischen Bildes. Seine implizite Entkoppelung von Naturalismus und deskriptiver Mimesis überstieg dabei die Radikalität des realismusgeborenen Naturalismus des Fin de Siècle und wies damit weit in das 20. Jahrhundert hinein.

Wie sich bis in die Gegenwart Bilder der Naturalismen bedienen und sie instrumentalisieren, demonstrierten die bildwissenschaftlichen Beiträge von Janina Wellmann und Georg Toepfer. Wellmann untersuchte konfokalmikroskopische Aufnahmen aus der Systembiologie als Beispiele für Bilder, die sich auf sinnlich nicht mehr direkt wahrnehmbare Natur beziehen. Sie zeigte, dass anders als im künstlerisch naturalistischen Bild, dem die Natur seiner Darstellung immer schon zugrunde liegt, sich diese hochtechnologischen Bilder mit einem vorher festgelegten Algorithmus auf die Natur beziehen. Erst dieser ‚erschafft‘ die Natur im Bild, wird aber in seiner Art als analytischer Zugang zur Natur durch das Bild nicht mehr erklärt. Dadurch stehen die hochtechnologischen Bilder in einem ortlosen Verhältnis zur Natur und liefern als Bild keine Erklärung der Prozesse, die sie darstellen. Während hier also die Naturalismen scheinbar verstummen, versammelt die Schauwand im Berliner Naturkundemuseum, so Toepfer, mehrere in ihren Spezies systematisch geordnete Tierfamilien in einem Biodiversitätsbild. Gerade durch die Wirklichkeitsnähe der Präparate sowie durch das Fehlen ihres sonst in Naturkundemuseen üblichen natürlichen Habitats erinnert die Schauwand an Bilder wie die Jan van Kessels und die Taxonomien der frühen Neuzeit. Folglich verweist das Biodiversitätsbild darauf, dass die Naturalismen von Kunst und Naturwissenschaft ihre Objektivierungen immer aus der lebendigen Natur herausreißen und dieselbe damit gefährden können. Auf die Wirkmächtigkeit der Naturalismen kam auch Wolfgang Welsch in seinem Vortrag zu sprechen, der die aristotelische Wahrnehmungstheorie folgendermaßen aktualisierte: Wie das Farbsehen der Insekten sich nicht nur an die Farben der Pflanzenwelt angepasst hat, sondern sich umgekehrt die Farben von Blüten entwickelten, um Insekten anzulocken, sind auch die menschlichen Sinnesorgane evolutionär auf die Natur abgestimmt. Solchermaßen aufeinander abgestimmte Wahrnehmungsweisen sind veridisch, rein fiktive Wahrnehmungsweisen hätten sich in der Natur evolutionär nicht bestätigt. Beziehen sich die Naturalismen eines Kunstwerkes zuallererst auf die Sinneswahrnehmung des Künstlers, müssen auch sie veridisch sein. Sie sind wie zusätzliche natürliche Sinnesorgane, die uns helfen können, neue Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen, und so ihre Wirksamkeit in der Welt entfalten. Natürliche Ästhetik geht bruchlos in eine kulturelle Ästhetik über. Je nach Perspektive hat hier die Diskussion über das Unterfangen des Naturalismus entweder ihren Endpunkt erreicht oder noch gar nicht begonnen.

Anmerkungen
[1] Tagungsprogramm: https://arthist.net/archive/14538
[2] Vgl. Peter Parshall: Imago contrafacta. Images and facts in the Northern Renaissance, in: Art History 16 (1993), S. 554–579.

Empfohlene Zitation:
Thomas Moser, Bernhard Seidler: [Tagungsbericht zu:] Naturalismen. Kunst, Wissenschaft und Ästhetik (Universität Hamburg, Forschungsstelle Naturbilder, 26.–28.01.2017). In: ArtHist.net, 27.03.2017. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/15061>.

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