Nationalismus als Ressource? Konsens und Dissens in der europäischen Nach- und Neogotik des 19. Jahrhunderts. Internationale Tagung. Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern
Der Einfluss des Nationalismus auf die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist spätestens seit George Mosses 1975 veröffentlichter „Die Nationalisierung der Massen“ weitgehend anerkannt. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis die Nationalismusforschung den Weg in die Kunstwissenschaft gefunden hat. Die Fachtagung „Nationalismus als Ressource? Konsens und Dissens in der europäischen Nach- und Neogotik des 19. Jahrhunderts“ am kunstgeschichtlichen Institut der Universität Bern zeigte, dass sich die Erkenntnisse um die „erfundenen Traditionen“ (Eric J. Hobsbawm) mittlerweile im Wissenskanon der Kunstwissenschaften durchgesetzt haben. Explizit forderten die Veranstalter Richard Nemec (Bern) und Johannes Rößler (Bern) zum „methodischen Transfer“ auf, um zu untersuchen, „ob vielleicht auch auf der Ebene der Architektur eine Art ,erfundene Tradition‘ als Phänomen einer Vor- und Neugotik angestrebt und in zahlreichen Fällen auch modifiziert angewandt wurde“ (Richard Nemec).
Allerdings – und auch darauf wiesen die Veranstalter hin – war die Erfindung nationaler Formen nicht beliebig. Wie bereits Dieter Langewiesche schrieb, gelang die kulturelle Erfindung der Nation nur dann, „wenn sie auffindet, was sie vorfindet“[1]. Die Stilisierung der Neogotik zum nationalen Stil setzte voraus, dass die entstehenden Kunstwissenschaften Entsprechendes im ,Vorgefundenen auffinden‘ konnten. Die Beteiligung der eigenen Profession an der Erfindung der Neugotik stand entsprechend ebenfalls im Blickfeld der Veranstaltung.
Der ,Erfindung der Neugotik‘ wurde als umfassender Prozess des Interessenausgleichs und der Kompromissfindung verstanden, dessen Erforschung eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert. „Inwiefern“, fragte Johannes Rößler in seiner Einführung, „gilt das Prinzip Dissens und Konsens auch für den Bereich der (ab-)bildenden Künste, und welche architektur-, kunst- und schriftbezogenen Denkprozesse mitsamt der jeweiligen Stereotype wie auch Neuerungen umfasst es?“ Die Untersuchung fand anhand von Beispielen aus dem westlichen und östlichen Europa statt. Mit der transnationalen Perspektive sollte eine vergleichende Betrachtung und eine mögliche Identifizierung lokaler Besonderheiten des architektonischen Nationalismus ermöglicht werden.
Die Beiträge zeigten, dass der Aufstieg der Neugotik nicht nur von nationalen Fantasien beflügelt wurde; auch weitere politische, soziale, konfessionelle und historische Aspekte konnten je nach Region bestimmenden Einfluss entfalten. Eine Konstante scheint indessen zu sein, dass sie durchgehend identitätsstiftenden Charakter besaßen. Da jedoch an der Realisierung der Bauwerke unterschiedliche Einflussgruppen mit jeweils eigenen Zielvorstellungen mitwirkten, schufen die Bauwerke Interpretationsräume, die unterschiedliche Deutungen zuließen. Christina Clausen (Hildesheim) zeigte am Beispiel des Magdeburger Doms (ab 1207 erbaut, 1363 geweiht), dass die in den Jahren von 1826 bis 1834 vollzogene Restaurierung sowohl restaurativ-konservativen als auch bürgerlich-liberalen Projektionen auf Nation und Stadt zugänglich war.
Als Architektonisierung des Prinzips von Konsens und Dissens erschien das zwischen 1835 und 1868 errichtete Londoner Parlamentsgebäude Palace of Westminster, das seinen Zeitgenossen zunächst „zum Sinnbild einer uneinigen Nation, politisch-gesellschaftlicher Spaltung und konkurrierender ästhetischer Konzepte“ wurde. Daniela Roberts (Würzburg) stellte das neogotische Gebäude als Projekt ästhetischer Kompromissstrategien seiner Architekten Charles Barry (1795–1860) und Augustus Welby Northmore Pugin (1812–1852) vor. Anders erfolgte die Gotik-Rezeption in den Niederlanden. Die konfessionelle Zuschreibung der Gotik als katholischer Stil verhinderte eine Akzeptanz als Nationalstil in dem überwiegend protestantischen Staat. Stattdessen etablierten sich Neo-Renaissance und Neo-Manierismus, wie Wolfgang Cortjaens (Berlin) referierte. Dennoch koppelte sich auch die niederländische Architektur nicht völlig vom neogotischen Baugeschehen ab. Unter dem Einfluss der Theorien von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) und John Ruskin (1819–1900) entstanden wichtige Nationalbauten wie das Rijksmuseum (1885) und die Centraal Station (1897–1903) in Amsterdam, die ihr Architekt Pierre Cuypers (1827–1921) in einem gotisch-renaissancezeitlichen Mischstil errichtete.
Die Verbindung des Katholizismus mit der Neogotik war zwar weit verbreitet, doch war sie nicht zwingend, wie der Beitrag von Alina Bock (Passau) zeigte. Der Passauer Bischof Heinrich von Hofstätter (1805–1875) überformte die ursprünglich barocke Votivkirche Mitte der 1860er Jahre im neoromanischen Stil. Der ,nationale Geist‘ hielt in Form einer Galerie Einzug in das Kirchengebäude, die heilige und verehrungswürdige Persönlichkeiten der deutschen Kirchen- und Nationalgeschichte darstellte. Noch vor der Reichsgründung von 1871 angelegt, wies die katholisch-bayerische Nationalgalerie keine Protestanten auf. Wesentlich vielschichtiger als im Passauer Bistum stellte sich die Situation im Habsburgerreich dar. Die Entwicklung des Prager Veitsdoms vom Sakralbau zum Nationalheiligtum stellte Katja Schröck (Bamberg) vor. Wie der Kölner Dom blieb auch der ab Mitte des 14. Jahrhunderts errichtete Kirchenbau in Prag unvollendet. Sein Weiterbau wurde ungefähr gleichzeitig mit dem Kölner Projekt vorangetrieben. Doch während der Kölner Dombau von den Beteiligten mehr oder weniger als nationales Konsensprojekt betrieben wurde, offenbarte der Veitsdom auch die zentrifugalen Kräfte des Nationalismus. Das Habsburger Kaiserhaus und der Klerus hatten den Domweiterbau zwar gestattet, die Finanzierung erfolgte jedoch fast ausschließlich durch die böhmische und mährische Bürgerschaft, die sich mit dem Bau als Mitglied der ,großen‘ Nationen darzustellen hoffte. Mit den gotisierenden Bauformen wurde Bezug auf die ,große‘ Zeit des in Prag residierenden Kaiser Karl IV. genommen. Auch der Wechsel während des Planungsprozesses von einer vermeintlich deutschen zu einer französischen Gotik erfolgte aus nationalistischen Motiven.
Die architektonische Entwicklung verlief in Böhmen zwar parallel zur deutschen Kultur, wie Jindřich Vybíral (Prag) in seinem Abendvortrag darlegte, jedoch mit einer negativen Bindung. Das Prinzip Exklusion und Inklusion, das die Idee der Nation kennzeichnet, wirkte sich jedoch nicht nur auf das Verhältnis nach außen – zur habsburgischen Krone – aus. In die Abwendung von der Gotik und dem Aufstieg der tschechischen Renaissance zum Nationalstil spielten innergesellschaftliche Auseinandersetzungen hinein. Ein anderes Beispiel des Kampfes um die Gotik präsentierte Timo Hagen (Heidelberg) in seinem Vortrag über die politischen Dimensionen der Architekturgeschichtsschreibung und Baupraxis des neunzehnten Jahrhunderts in Siebenbürgen/Transsylvanien. Während die ,deutsche Gotik‘ in Böhmen zumindest zeitweise als repressives Element erschien, galt sie den Siebenbürger Sachsen als Ausdruck einer emanzipatorischen Haltung in ihrem Symbolkampf gegen die Ungarn, denen das Gebiet der Siebenbürger Sachsen im österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 zugeschlagen worden war. Der in den 1880er Jahren errichteten neogotischen Johanniskirche von Hermannstadt/Sibiu wurden – so Hagen – entsprechend Bezüge zum Wiener Stephansdom zugeschrieben. Die Auseinandersetzungen erstreckten sich bis in die Fachterminologie der zeitgenössischen regionalen Architekturhistoriografie, in denen die Gotik je nach Partei mal als ,Spitzbogenstil‘, mal als ,germanischer Stil‘ benannt wurde.
Die Tagungsbeiträge konnten die Abhängigkeit des neogotischen Architekturdiskurses und seiner Baupraxis von den Bewegungen des Nationalismus überzeugend nachzeichnen. Die fortgesetzte ,Produktivität‘ der ,Ressource‘ Nationalismus entstand nicht zuletzt aus dem Widerspiel mit der Kunsthistoriografie. Deutlich wurde die produktive Kraft des Nationalismus als Motor und Ideengeber für entwurfliche Entwicklungen, die sich nicht nur auf die Neogotik beschränkte. Einzelne Gebäude wie der Prager Veitsdom oder das Londoner Parlamentsgebäude erwiesen sich als gebaute Beispiele des nationalen Konsens oder Dissens.
Allerdings wurden auch die Schwierigkeiten bei der Erschließung der europäischen ,Ressource‘ Nationalismus sichtbar. Es gab nicht nur einen, sondern viele Nationalismen, die sich in benachbarten Ländern oder sogar innerhalb des gleichen Staatsgebildes unterscheiden konnten. Die regionalen Unterschiede konnten bis zu einer scheinbar widersprüchlichen Interpretation der Formensprachen gehen, wie nicht zuletzt die Beispiele des Habsburgerreiches gezeigt haben. Die Erforschung und Synchronisation dieser unterschiedlichen Ausdrucksformen verlangen eine intensive Kenntnis des komplexen Nationalismusdiskurses und der allgemeinen Historiografie des betreffenden Untersuchungsgebiets. Zudem erwiesen sich die Formfindungsprozesse als mehrfach bestimmt und die Ergebnisse als mehrdeutig. Bisweilen ließen sich Interpretationsvorgaben der Baubeteiligten wie beim Prager Veitsdom kaum am Objekt belegen; entgegengesetzt wurden scheinbare Anleihen nicht von den Zeitgenossen thematisiert wie beim Internat von Istvan in Siebenbürgen/Transsylvanien (1872–1876). Es überrascht daher nicht, dass der ,Round Table‘ unter der Moderation von Bernd Nicolai (Bern) zum Abschluss der Tagung die Frage nach dem Zusammenhang von Neogotik und Nationalismus nicht als endgültig beantwortet betrachtete. Weiterer interdisziplinärer Austausch und internationaler Vergleich auf diesem Gebiet wären sehr wünschenswert.
Anmerkung
[1] Dieter Langewiesche: Nachbemerkung. In: Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Engl. von Udo Rennert. Frankfurt a. M.32005, S. 225–241.
Recommended Citation:
Rainer Schmitz: [Conference Report of:] Nationalismus als Ressource? (Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern, Nov 17–18, 2016). In: ArtHist.net, Jan 10, 2017 (accessed Dec 2, 2024), <https://arthist.net/reviews/14442>.
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