REV 30.01.2007

Klaus Jan Philipp: Das Reclam-Buch der Architektur

Rezensiert von Ralf Dorn, Darmstadt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Gesamtdarstellungen zur Kunst- und Architekturgeschichte folgen zumeist pädagogischen Interessen oder stellen sich als Nebenprodukt von Vorlesungszyklen, manchmal gar als Ausweis enzyklopädischen Wissens dar und besitzen für viele Vertreterinnen und Vertreter des Faches Kunstgeschichte nach wie vor großen Reiz. Dies gilt auch für "Das Reclam Buch der Architektur" von Klaus Jan Philipp, Professor am Department für Architektur der erst 2006 neugegründeten HafenCity Universität (HCU) in Hamburg.

Die gleichmäßig gewichtete Gliederung zeigt sich bereits am Vorderschnitt des Buches, der eine registerartige Aufteilung als Hinweis auf den sich von der Antike bis zur Gegenwart spannenden Zeitrahmen aufweist. Dieser bildet das chronologische Rückgrat des Werks, das, aus "heutiger Sicht konzipiert" (10), mit einem Schwerpunkt auf dem Bauschaffen des 19. und 20. Jahrhunderts aufwartet. Philipp rechtfertigt seine Vorgehensweise in fast entschuldigendem Tenor: "Das Buch ist aus europäischer Perspektive geschrieben von einem deutschen Autor, der die Bauten seines Landes deutlicher vor Augen hat als die anderer Länder." (10) Philipp setzt zudem auf Entwicklungen und Höhepunkte mit "internationaler Strahlkraft" (10) und verzichtet in seiner Darstellung auch nicht auf Städte- und Gartenbau.

Die Betrachtung der Epocheneinteilung erweckt jedoch erste Zweifel. Als Epochenbegriffe fungieren z. B. "Antike", "Frühmittelalter", "Hoch- und Spätmittelalter" sowie das "19. Jahrhundert". Weiterhin liest man Stilbegriffe wie "Renaissance und Manierismus", "Barock und Rokoko" sowie "Klassizismus und Romantik". Wäre es nicht konsequent gewesen, eine durchgängige Einteilung in Zeit- bzw. Stilepochen vorzunehmen und somit auch der Neuzeit und Aufklärung oder der Romanik bzw. der Gotik ihren berechtigten Platz sichtbar einzuräumen? Die zugegebenermaßen ungelöste Problematik derartiger Epochenbegriffe aus historischer wie aus kunsthistorischer Sicht wird von Philipp gar nicht erst thematisiert, geschweige denn hinsichtlich der Themenbereiche konsequent verfolgt. So findet sich denn plötzlich das Zisterzienserkloster wie auch die hoch- und spätromanischen Kirchen Kölns im Abschnitt über das Frühmittelalter wieder, was wohl nur vor dem Hintergrund einer gleichmäßigen Gewichtung der Epochen und damit der Seitenzahlen begründet werden kann. Dies erklärt auch die Ausweisung der "Renaissance in Italien" als eigene Epoche, um den Abschnitt "Renaissance und Barock" zu entlasten. Hätte man Gleiches nicht auch mit der Gotik in Frankreich oder mit dem Neuen Bauen in Deutschland machen können?

Inhaltlich fällt auf, dass die beispielsweise das Mittelalter betreffenden Passagen teilweise fehlerhaft, teilweise auf lang überholtem Forschungsstand beruhen. So fragt man sich, was ein "Staatsgottesdienst" (73) nach mittelalterlichem Verständnis ist, oder was eine "Nonnenstiftskirche" hinsichtlich der kanonikalen bzw. monastischen Lebensweise sein soll? Einige Schreibfehler wie bei Bernhard von "Clairveaux" (82), das "Gespränge" von Altären (201) oder dem Terminus "unkanellierte" Säulen (203) möchte man dem Autor nicht anlasten, zeugen aber von nachlässigem Redigieren.

Anachronistisch wird es, wo hinsichtlich der Bauformen Westwerk und doppelchörige Anlagen (72f.) die 1968 publizierte These von Friedrich Möbius von der wägenden Gruppierung und der räumlichen Zweipoligkeit von Imperium und Sacerdotium reanimiert wird. Gleiches gilt für die Behauptung, die Westfassade des Kölner Domes habe "in den Grundzügen" (126) bereits 1248 festgestanden, wo doch mit der jüngst publizierten Arbeit von Marc Steinmann der berühmte Riss F, der als Planvorlage für die Westfassade zu betrachten ist, mit guten Gründen nicht vor 1283 datiert werden kann. Den Ausführungen lässt sich entnehmen, dass sich der Autor bereits vor längerer Zeit aus der Forschung zur mittelalterlichen Architekturgeschichte verabschiedet hat.

Blickt man in die Kapitel über das 19. und 20. Jahrhundert, so bietet sich ein ähnliches Bild. Es sind wiederum Details, an denen sich die teilweise oberflächliche Abarbeitung einzelner Themenbereiche zeigt. So werden die gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung kaum herausgestellt und das vermeintlich "sozialverantwortliche" (312) Engagement der Großindustriellen im "paternalistischen Siedlungsbau" (312f.) unkritisch präsentiert, ebenso wie der Versuch der Arts-and-Crafts-Bewegung, der industriellen Produktion qualitätsloser Güter gegenzusteuern. Auch geistert durch Philipps Buch noch immer die Mär von Joseph Monier als dem Erfinder des Stahlbetons (319, 358), gebührt diese Ehre doch François Coignet, der bereits 1861, also sechs Jahre vor Moniers Patentanmeldung, seine Kenntnisse darüber publizierte.

Ebenso zu widersprechen ist der Behauptung, die Breslauer Jahrhunderthalle Max Bergs sei "ohne historisches Vorbild" (358). Ein Blick auf das System der korrespondierenden Kuppeln der Hagia Sophia in Istanbul beweist das Gegenteil. Noch schlagender ist ein Vergleich mit der Frankfurter Festhalle von Friedrich von Thiersch (begonnen 1906). Diese nahm die technische Lösung der Jahrhunderthalle in einer Eisenkonstruktion vorweg und war Berg aufgrund seiner Frankfurter Jahre (1900-1909) bekannt. Weiterhin muss Henry van de Velde das Haus Schröder in Hagen abgeschrieben werden (342), welches bekanntlich von Peter Behrens errichtet wurde. Gleiches gilt für die Ausstellungshalle der Kölner Werkbundausstellung von 1914 (370), die nicht von Erich Mendelsohn stammt. Es gab sogar zwei Hallen: Die Festhalle baute Peter Behrens, die Haupthalle Mendelsohns Lehrer Theodor Fischer.

Im Gegensatz zu diesen Kapiteln stehen die Abschnitte von der Renaissance bis zum Klassizismus oder der Gegenwartsarchitektur, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Materie erkennen lassen. Insbesondere die Abschnitte zur Architektur der Gegenwart, zeugen von großer Kenntnis der aktuellen Strömungen und deren Hauptvertreter. Auch die jahrelange Beschäftigung Philipps im Bereich der Architekturtheorie sind unbestritten, wie die aufgeführten Beispiele u. a. zur Revolutionsarchitektur zeigen.

Insgesamt ist jedoch zu sagen, dass die Bebilderung dieses architekturhistorischen Überblicks viel zu Wünschen übrig lässt. Gerade eine so spezifisch dreidimensionale Gattung wie die Architektur, die über Fotos nur schwierig zu präsentieren und zu begreifen ist, wird nur in sehr bescheidenen Abbildungen von fragwürdiger Qualität wiedergegeben. Dies betrifft sowohl die Größe der Fotos als auch die der Stadtpläne und Grundrisse. So schrumpft die Akropolis in Athen auf die Größe eines Fingernagels, die Hagia Sophia in Istanbul und der Dom in Speyer bringen es immerhin auf Briefmarkengröße. Der Ankündigung: "Den Darstellungsformen von Architektur in Zeichnung und Modell wird viel Raum gegeben, da diese Medien für die Vermittlung von Architektur von größter Bedeutung waren und sind." (10), wird in den seltensten Fällen entsprochen. Quantifiziert man die drei letzten Abschnitte zur Architektur des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart - der in der Einleitung angekündigte Schwerpunkt des Werkes -, so lassen sich gerade mal zwei Grundrisse, zwei Modellansichten, eine Isometrie und drei Pläne zur Stadtplanung verzeichnen. Dies ist definitiv zu wenig für ein Werk mit pädagogischem Impetus und propagierter Anschaulichkeit.

So interessant die Aufgabe einer Gesamtdarstellung sein mag, so undankbar ist ihre Umsetzung. Es bedeutet, grundsätzlich auf viele Objekte zu verzichten, zu verknappen und folglich zu schematisieren. Im vorliegenden Fall ist die Auswahl der Objekte altbacken, ohne Ausreißer oder Vorlieben des Autors. Die nur scheinbare Chronologie wird dabei immer wieder aufgebrochen, was Sinn macht, wenn man die Herleitung und Rezeptionsgeschichte von epochalen Bauten genau verfolgt. Doch wird dies mittels der Kategorie Wirkungsgeschichte zu selten anschaulich gemacht. Der Leser verliert zusehends den Überblick in dem Kategorienwirrwarr. Zudem ist aus Laiensicht das Fehlen eines Glossars zu bemängeln, auch wenn manche Begrifflichkeiten im fortlaufenden Text aufgeschlüsselt sind.

Bleibt die Frage nach dem Sinn solcher Überblicksdarstellungen. Gerade im Hinblick auf die Umstellung des Kunstgeschichtsstudiums auf die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge werden Überblicksdarstellungen wohl zunehmend an Bedeutung gewinnen, vermitteln sie doch in geballter Form Wissen zu fest umrissenen Themenkreisen und Epochen. Klaus Jan Philipps Buch liest sich nicht als eine Einführung in die Architekturgeschichte. Als Standardwerk ist es zu kursorisch in einzelnen Themenbereichen, zu oberflächlich in der Beschäftigung mit dem konkreten Objekt und wartet zudem mit unnötigen Aufzählungen von im Bild nicht sichtbar gemachten Bauten auf. Überblicksdarstellungen zur Architekturgeschichte lassen sich heute wohl nur noch auf einen engen zeitlichen oder topographischen Rahmen begrenzen oder sollten als Reihe auf den Schultern mehrerer Spezialisten ruhen, denn die Zeit des Universalgelehrten ist lange vorbei.

Philipp, Klaus Jan: Das Reclam-Buch der Architektur, Stuttgart: Reclam 2006
ISBN-10: 3-15-010543-9, 463 S., ca. EUR 39.90, ca. sfr 69.40

Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Philipp, Klaus Jan: Das Reclam-Buch der Architektur, Stuttgart 2006. In: ArtHist.net, 30.01.2007. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/144>.

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