REV 16.01.2007

Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem

Rezensiert von Sven Behrisch
Redaktion: Carolin Behrmann

Beat Wyss, Kunstwissenschaftler an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, hat mit dem jüngst erschienen Buch "Vom Bild zum Kunstsystem" nun seinen Beitrag zur Bildwissenschaft geleistet. Anders als mancher Kollege definiert er sich diese aber nicht nach Interessenlage zurecht, sondern rekonstruiert die historischen Hintergründe, welche die aktuellen Bestrebungen einer sich von der Kunstwissenschaft absetzen wollenden Bildwissenschaft überhaupt erst ermöglicht haben. Zwar stimmt auch er in die an die Adresse der Kunstgeschichte gerichtete Kritik einer "emphatischen Bildanalyse" zugunsten einer pragmatischen Analyse ein, doch geht es ihm keineswegs um eine neue Art des Bildverstehens, sondern um die Geschichtlichkeit des Bildverstehens - und wie es zum Kunstverstehen wurde. Keine Bildwissenschaft also, sondern eine "Bildergeschichte" möchte Wyss seinen Lesern präsentieren, weshalb es auch einen Extraband mit 214 zum Teil winzigen schwarz-weiß-Abbildungen gibt; schwarz-weiß, weil es ihm um Bilder, nicht um "Werke" geht, und schwarz-weiß als Hommage an den "Mnemosyne-Atlas" Aby Warburgs und das "Musée Imaginaire" André Malraux', die sich Wyss nach eigenem Bekunden zum Vorbild nahm (Bd. 2, S. 9) [1]. Das parallele "Lesen" des Text- und Tafelteils erspart zwar manches Geblätter, die erwünschte Wirkung einer sich in mehr oder minder großen Abhängigkeit zum Text ergebenden Assoziations- und Vergleichsdynamik auf visueller Ebene bleibt jedoch aus.

Damit ist bereits das zweite Erklärungsziel genannt: Eine strukturelle, komparatistische Analyse von Bildern in den Grenzen weit gefasster "epochaler Plateaus". In den ersten Abschnitten des durchweg flüssig und elegant, streckenweise gar zu schmissig geschriebenen Textes nähert sich Wyss den Bildern von drei Seiten: Zunächst stellt er die Wahrheitsfrage an das photographische Bild und untersucht die Wandlungen seines Wahrheitsanspruchs in der Entwicklung zum heutigen digitalen Photo. Es mag Zufall sein oder auch nicht, dass Hans Belting in seinem zuletzt erschienen Werk über "Das echte Bild" ebenfalls eine Befragung der aktuellen Bildsituation vorschaltete, ehe sich daran die zentralen Fragen nach den historischen Echtheitsbedingungen christlicher Kunst anschlossen [2]. Wyss will explizit an die Überlegungen Beltings anknüpfen und dessen zum Klassiker avancierte Studie "Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst" die Untersuchung eben dieses Übertrittes des Bildes in die Kunst folgen lassen [3].

Dazu greift er, die zweite Annäherung, in bewusstem Widerspruch zu Belting in die Theoriekiste und präsentiert das triadische Zeichenmodell von Charles Sanders Peirce als analytisches Instrument von Bildepochen. Der Versuch, das "kultische" Bild des Mittelalters in den Primärfunktionen von Index und Symbol, das "rhetorische" Bild der Neuzeit von Symbol und Ikon sowie das "mechanische" Bild der Moderne von Ikon und Index zu interpretieren, erscheint als überaus fruchtbar. Es ist allerdings bedauerlich, das Wyss im historischen zweiten Teil seiner Untersuchung auf die Bild-Ernte mit dem semiotischen Gerät weitgehend verzichtet hat. Man täte dem Autor allerdings Unrecht, würde man diese zeichentheoretische Einteilung in Bildklassen als striktes Interpretationsmodell deuten. Es geht mehr um grobe Gewichtungen als um revolutionäre Paradigmenwechsel, wie der daran anschließende dritte Teil über die Psychologie des Bildes beweist. Was Wyss darin aufzeigt, ist aber nicht mehr als die Befangenheit von Bildern in formalen und typologischen Traditionen, dergestalt, dass bestimmte Erscheinungsweisen in Unkenntnis ihrer ursprünglichen Bedeutung übernommen werden.

Das Kernstück der Arbeit bildet der historische Teil unter der Überschrift "Das Kunstsystem. Von Cimabue zum Duchamp-Effekt". Es bindet nicht nur die meisten Seiten des Buches zusammen, sondern auch dessen zwei hauptsächliche Theorie-Paten für den Eintritt der Bilder in das System der Kunst. In lockerem Ton skizziert der Autor sein Unternehmen so: "Man nehme die drei Zeichenklassen nach Peirce, mische sie mit Luhmanns 'Kunst der Gesellschaft' und beobachte, was dabei herauskommt." (12) Es versteht sich, dass diese Ermunterung nicht an den Leser gerichtet, sondern eine Selbstaufforderung des Autors ist. Bleibt die Klassifikation der Bildepochen nach Peirce in den folgenden Ausführungen aber eher im Dunkeln, eröffnet der systemtheoretische Blick auf den Prozess der Befreiung von Bildern aus Fremdreferenz in den geschlossenen Bereich der Selbstreferenz (Autonomie) eine weite Sicht auf die Entwicklung dessen, was spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts Kunst heißt. Der entscheidende Schritt, der notwendige Bedingung jeder weiteren eigenständigen Entwicklung von Bildern ist, heißt nach Wyss/Luhmann "zweite Beobachtung". Als die Beobachtung der Beobachtung ist ihr Wahrnehmungsinteresse nicht auf das "was" gerichtet, sondern auf das "wie". Auf Bilder übertragen bedeutet das die Abkehr von einer magischen Bildwahrnehmung, die das Bild nicht von dem unterscheidet, was es darstellt, hin zu einer reflektierten Wahrnehmung, die eben diese Unterscheidung trifft und auf die Art und Weise der Darstellung achtet. Dieser mühsame Prozess der Wahrnehmungsänderung, der gleichermaßen auf Seiten der Bildschöpfer wie der Betrachter erfolgt, markiert den Anfang der Evolution von Bildern zu Kunstwerken. Während Luhmann den Zeitpunkt dieses Übergangs etwas vage im Spätmittelalter und in der Frührenaissance sucht [4], setzt Wyss ein präzises Datum: "Zweite Beobachtung" habe erstmals mit der Adaption byzantinischer Bildformulare im Westen nach der Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 stattgefunden. "Der Schritt von der Byzantinik zum Byzantinismus eröffnete die Sicht, Bilder als Bilder wahrzunehmen." (125). Ob die Nennung genauer Zeitangaben für die Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse sinnvoll ist, mag bezweifelt werden. Ein gut gewähltes Beispiel ist es allemal.

Zu Recht wird betont, dass dieser Prozess, der mit der bis heute fortlaufenden Ausdifferenzierung des Kunstsystems noch längst kein Ende gefunden hat, ein singulär europäisches Phänomen ist. Die Begründung erfolgt in drei Abschnitten, welche das "Stammsystem Herrschaft" und die "Anlehnungskontexte" Wissenschaft und Ökonomie des Kunstsystems beschreiben. "Anlehnungskontexte" sind bei Luhmann wenige bestimmte Umweltbeziehungen, durch die viele andere Beziehungen mit dem Ziel der System-Autonomie irrelevant werden. Wyss' Verwendung des "Anlehnungskontextes" ist dagegen mehrdeutig. Er definiert sie als "wahlverwandte Systeme" (180), wobei oft nicht klar ist, ob sie aufeinander folgende Entwicklungsstufen des Kunstsystems oder gleichzeitig stabilisierende Umweltfaktoren sind. Spricht er im "Anlehnungskontext Wissenschaft" davon, dass Text und Bild "seit je verbunden sind" (194), heißt es im Anlehnungskontext Ökonomie: "Erst in Anlehnung an das Marktsystem wird Kunst zu dem, was sie heute ist." (228) [5]. So scheint es, dass die Rede von Stammsystem und Anlehnungskontexten eher dazu dient, möglichst viele kunsthistorische Etappen und Aspekte unter ihren Überschriften unterzubringen, als aus ihnen heraus die Präzisierung und Stabilisierung des Systems zu erläutern. Mal mehr, mal weniger bekannte Kunstgeschichten, von der Entdeckung des Bildes als Herrschaftsinstrument im Mittelalter, über die versuchte Engführung von Kunst und Wissen bei Alberti, zu Martin Warnkes Thesen zum Hofkünstler, werden in lockerer Reihung nebeneinander gestellt. Zwischen methodischem Weg und - stets interessantem - kunsthistorischem Exkurs kann man oft nicht unterscheiden, auch wenn der Autor in regelmäßigen Abständen das Dargelegte an die Grundüberlegungen Luhmanns rückzubinden versucht. Freilich wäre es unredlich, würde man die Auswahl der Beispiele kritisieren, die ausdrücklich als "Bruchstellen" bzw. "evolutionäre Stromschnellen" (125) die Evolution der westeuropäischen Bildkultur exemplifizieren sollen. Eine Erläuterung aber, warum nun gerade die jeweils verhandelte Episode als Wegmarke zu betrachten ist, hätte man sich an mancher Stelle doch gewünscht.

Wyss schließt mit der Beschreibung von Kunst im Zeitalter ihrer systemischen Schließung. Als starkes Argument werden die Nazarener angeführt, die sich als Reflex ihrer Freiheit die Auftraggeber imaginieren, von denen sie längst unabhängig sind: "Sie genießen eine Autonomie, gegen die sie sich auflehnen." (257). Das Museum als Ort, der die Autonomie des Bildes inszeniert, und die Verabschiedung von normativen Elementen aus Kunstkritik und -theorie sind weitere Indizien. Die Autopoiesis der Kunst hat schließlich in den "ismen" der klassischen Moderne ihren sprechendsten Ausdruck gefunden. Kunst schaffe es, so der von Wyss zitierte Luhmann, immer wieder neu zu sein, indem sie in hoher Frequenz immer "neue Vergangenheiten [produziert], die man so konstruiert, dass man sich von ihnen distanzieren kann." (271). Gerne folgt man diesen der Sache nach bekannten Analysen, die nur in neuem Ton vorgetragen werden. Anders verhält es sich mit der These, die im Kunstsystem herrschende Freiheit vom Urteil (im Gegensatz zur aufklärerischen Freiheit des Urteils) schaffe die idealen Voraussetzungen interkultureller Kommunikation, sei gar "das Fundament der offenen Gesellschaft" (277). Hier möchte man doch zu Bedenken geben, ob das vorurteilsfreie Sprechen über und die Präsentation von Kunst, die solches Sprechen erlaubt, nicht eher Folge als Ursache offener Gesellschaften ist. Davon abgesehen aber verzichtet Wyss' Sozialgeschichte des Bildes auf eine Teleologie, die den derzeitigen Zustand des Bildes als Indiz für den Untergang des Abendlandes oder als Symbol gesellschaftlicher Bestzustände missbraucht. Die Stationen des Bildes auf dem Weg zur Kunst sind den gesellschaftlichen Parallelprozessen, um bei der Peirceschen Einteilung zu bleiben, bestenfalls ähnlich. Wyss hat auf spannende Weise gezeigt, wie eine historische Bildtheorie aussehen kann: Man nehme ein den Gegenstandsbereich strukturell ordnendes Kategoriensystem (z.B. aus der Zeichentheorie), mische es mit einem Modell, das geeignet ist, Veränderung methodisch diszipliniert zu beschreiben (z.B. die Systemtheorie) und beobachte, was dabei herauskommt. Im Resultat fügen sich Zeichen- und Systemtheorie tatsächlich zu einer überzeugenden historischen Bildtheorie zusammen.

Anmerkungen:

[1] Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, hrsg. v. H. Bredekamp, M. Diers, M. Warnke (Gesammelte Schriften Bd. 2/1), Berlin: Akademie 2000; André Malraux, Das imaginäre Museum (Rowohlts deutsche Enzyklopädie Bd. 39), Hamburg: Rowohlt 1957.
[2] Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München: Beck 2005
[3] Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München: Beck 1990.
[4] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp 1997, S. 257ff.
[5] Dies ist die Gegenthese zu der von Martin Warnke geäußerten Ansicht, auf die höfische Kunst habe deren Niedergang eingesetzt. Vgl. Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln: DuMont 1985.
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Anm. d. Red.: Diese Rezension erschien in der
ArtHist-Rezensionsreihe „Bildtheorie“

Wyss, Beat: Vom Bild zum Kunstsystem. [zwei Bände] (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek), Köln: Verlag Walther König 2006
ISBN-10: 3-86560-030-1

Empfohlene Zitation:
Sven Behrisch: [Rezension zu:] Wyss, Beat: Vom Bild zum Kunstsystem. [zwei Bände] (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek), Köln 2006. In: ArtHist.net, 16.01.2007. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/143>.

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