REV 13.10.2006

Monika Schrader: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst"

Rezensiert von Christoph Schmälzle
Redaktion: Claudia Sedlarz

Knapp zehn Jahre lang kündigte der Georg Olms Verlag ein Buch über"Grenzbestimmungen der Künste" an. Von der Autorin Monika Schrader zur Laokoon-Studie umgearbeitet, konnte es schließlich 2005 erscheinen. Vorbild für den Kunstgriff, Überlegungen zur Mediendifferenz antiquarisch einzukleiden, um ihre Popularisierung zu fördern, ist kein geringerer als Gotthold Ephraim Lessing: Die Winckelmann-Polemik, mit der sein 'Laokoon' von 1766 beginnt, ist der berühmten trockenen Schlußkette des 16. Kapitels entstehungsgeschichtlich nachgeordnet. In der rhetorischen Sukzession seines Buches aber gibt sie die ideale Einleitung für die nachfolgenden semiotischen Deduktionen ab.

Lessing, der mit seiner auf einer rechts-links-Vertauschung basierenden Deutung des Borghesischen Fechters den Widerstand der Fachleute herausforderte, war sich seines Anschauungsdefizits gegenüber Winckelmann durchaus bewußt und verschob die Auseinandersetzung auf ihm vertrautes, literarisches Terrain. Ihn interessierten weniger die Altertümer in Rom als die medienspezifischen Bedingungen, denen Kunst und Literatur im Rahmen einer Wirkungsästhetik des Mitleids gehorchen. Während Lessing an vielen Stellen buchgelehrte Präzisierungen Winckelmanns gelingen, frappiert Schrader den wohlwollenden Leser in allen Wissensbereichen mit vermeidbaren Fehlern. Sie verlegt den Fundort der Laokoon-Gruppe nach "Vincoli" und damit in eine fiktive italienische Kommune (S.11, Anm.3). Tatsächlich wurde die Gruppe in Rom gefunden, und zwar auf dem Oppius-Hügel, nahe der Kirche S. Pietro in Vincoli. Auch philologische Angaben sind häufig ungenau oder falsch. Goethes Übersetzung der Autobiographie Benvenuto Cellinis mutiert zur "Abhandlung" (S.150). Das von Cellini zitierte, topische Urteil Primaticcios, der Laokoon gehöre zu den schönsten Antiken Roms, legt Schrader Goethe in den Mund, so wie sie das Athenaeums-Fragment 310 Friedrich Schlegel statt August Wilhelm zuschreibt (S.175).

Dennoch soll ein Buch, das zur Geschichte der Ästhetik beitragen will, nicht auf seine geringe philologische Zuverlässigkeit reduziert werden. "DieÄsthetik des 18. Jahrhunderts lässt sich am Beispiel einer am einzelnen Kunstwerk selbst begründeten Theoriedebatte zu Verfahren poetischer Heuristik konkretisieren" (S.13, Anm. 12), lautet Schraders Grundthese. Ihre Absicht ist, den Wandel des ästhetischen Diskurses im Spiegel der Laokoon-Deutungen zu betrachten, mit besonderem Blick auf den Stellenwert des Pathos in den einzelnen Kunstkonzeptionen. Eine Gesamtdarstellung, die die spezifisch deutsche Laokoon-Debatte systematisch auf ihr Verhältnis zum Gegenstand befragt, wäre in der Tat ein Desiderat.

Aber Schraders Einleitung verspricht mehr, als ihr Buch einlöst. Statt einer gründlichen Untersuchung ausgewählter Laokoon-Deutungen überzieht sie die im Titel genannten Autoren mit einem von Lessing abstrahierten Raster, das dieästhetischen Positionen als Systeme vergleichbar machen soll. Die konkreten Wechselbeziehungen zwischen Kunsterfahrung, Kunstbeschreibung und Theorie kommen nicht zur Sprache. Vielmehr sucht Schrader unter der Überschrift"Kriterien der Komparatistik" (S.40, 63, 66, 143, analog S.42, 117) nach den"Grenzbestimmungen der Künste", die sich aus dem jeweiligen "Kunstbegriff" ergeben. Folgerichtig tritt Mendelssohn (auf dem Buchtitel eingeklammert) als Ideengeber der Semiotik im Lessing'schen Laokoon in Erscheinung, aber die prominente Stelle, an der er sich in den 'Morgenstunden' über den troianischen Priester aus Marmor äußert, fällt unter den Tisch.

Daß es um die Laokoon-Gruppe gar nicht geht, bestätigt der Blick auf Schraders Literaturliste und ihre Angaben zum Forschungsstand. Schrader bibliographiert vollständig die neueren semiotischen Sammelbände, für die das Kunstwerk in der Nachfolge Lessings emblematisch den Kunstvergleich meint. Relevante Arbeiten zur Rezeption der Skulptur sind aber, mit Ausnahme der Goethe-Philologie, nur unvollständig nachgewiesen. Schraders Buch ähnelt am ehesten Horst Althaus' nach wie vor empfehlenswerter Studie 'Laokoon. Stoff und Form' (München 1968, zweite, erweiterte Auflage Tübingen 2000), die keineswegs vorrangig "kunsthistorisch orientiert" ist (S.17, Anm.24). Die anderen Überblickswerke, in deren Kreis sich Schraders Schrift ideal hätte einfügen können, sind ihr offensichtlich entgangen: die Dissertation von Bettina Preiss mit ihrem reichen Anhang (Alfter 1992), Salvatore Settis' Laokoon-Sammelband (Rom 1999), die von Élisabeth Décultot herausgegebene interdisziplinäre Tagungsdokumentation (Paris 2003).

Aufhänger der vorliegenden Arbeit ist Winckelmanns Aussage, die Laokoon-Gruppe, das Kernstück des klassizistischen Kanons, habe bereits den alten Römern als Richtschnur und "vollkommene Regel der Kunst" gedient. Schrader notiert hierzu: "Seit Winckelmann wird dabei das einzelne Werk zugleich als Fallbeispiel eines 'Allgemeinen' reflektiert." (S.20). Das ist unscharf sowohl vor dem Hintergrund der Laokoon-Rezeption als auch hinsichtlich der Geschichte des ästhetischen Denkens. Nobilitiert durch Plinius' emphatisches Lob, zu dem Schrader schweigt, beansprucht die Laokoon-Gruppe seit ihrer Wiederentdeckung 1506 den Rang des schlechthin exemplarischen Kunstwerks. Winckelmanns Diktum rekurriert auf einen Topos der Kunstliteratur. Daß jede klassizistische Ästhetik per definitionem ihr Ideal in überlieferten Vorbildern materialisiert sieht, ist so banal wie die Einsicht, daß ästhetische Reflexion schon immer zwischen dem Besonderen des Einzelwerks und dem Allgemeinen ihrer Argumente zu vermitteln hatte. Glaubt man der Einleitung, wollte Schrader ausgehend von Winckelmann und der Laokoon-Gruppe über normative Ästhetiken des 18. Jahrhunderts schreiben. Kenntnisse der älteren Kunstliteratur und Poetik, aber auch der akademischen Diskussion über die Laokoon-Gruppe im Europa der Frühen Neuzeit wären zu diesem Zweck hilfreich gewesen.

Die Häufung philologischer Nachlässigkeiten erscheint angesichts des spürbaren Mangels an Kontext- und Orientierungswissen in einem anderen Licht. Die Berücksichtigung neuerer, kommentierter Textausgaben – man denke an Walther Rehms 'Kleine Schriften' (Berlin 1968, zweite Auflage 2002) oder die 'Bibliothek der Kunstliteratur' (Bd.2, Frankfurt am Main 1995) – hätteüber Eiseleins längst historische Edition und Carl Justis Biographie hinaus geführt und manche Unklarheit beseitigt. Gleiches gilt für die grundlegenden Forschungen Élisabeth Décultots, die Schrader entgangen sind. Die Verwirrung hinsichtlich Genus und Endung von gr. parenthyrsos, die auf eine fragwürdige Konjektur bei Eiselein zurückgeht, ist Ausweis oberflächlicher Lektüre selbst der an dieser Stelle benutzten, einschlägigen Sekundärliteratur (S.29, Anm.33).

Den sachlichen Mängeln entspricht eine schwammige Sprache, die durch die dauernde Verwendung des Wortes "Begriff" nicht präziser wird. Zu Schraders terminologischen Eigenheiten gehören die Rede von der poetischen bzw. künstlerischen "Heuristik" – was damit gemeint ist, wird nirgends erklärt - und die Marotte, mit "Komparatistik" nicht wie allgemein üblich das Universitätsfach "Vergleichende Literaturwissenschaft" zu bezeichnen, sondern den Kunstvergleich, immerhin ein Teilaspekt der Disziplin.

Schraders Buch ist symptomatisch für den philologischen, ausschließlich an Lessing geschulten Teil der deutschen Laokoon-Forschung. Daß sie eine Stelle, an der Schiller sich über die Laokoon-Episode bei Vergil äußert, versehentlich auf seine Deutung der Skulptur bezieht, belegt jene Gegenstandsferne, die schon die Laokoon-Debatte im 18. Jahrhundert geprägt hat (S.125f.). Die Distanz zu den Quellen aber verträgt sich schlecht mit der Programmatik, Kunsttheorie im Spiegel der Kunstbeschreibung sichtbar zu machen. Daß Vergil (wie Plinius) hier gänzlich fehlt, verwundert: Der von Winckelmann angestoßene und durch Lessing kanonisierte Gedanke der Medienkonkurrenz zwischen Skulptur und Epos hätte gut zu Schraders"komparatistischen" Ambitionen gepaßt. Wie kommt es dazu, daß Winckelmann einen Widerspruch zwischen der Schilderung des römischen Dichters und dem Werk der rhodischen Bildhauer erkennt, den vor ihm niemand gesehen hat? Wie einleuchtend ist es, eine Skulptur anhand akustischer Qualitäten zu beurteilen und zu fragen, ob und wie laut Laokoon schreit?

Mißlich ist überhaupt die Verschränkung von semiotischem Kunstvergleich und Rezeption der Laokoon-Gruppe, da die Behandlung der beiden Gesichtspunkte unterschiedliche Textcorpora erfordert und zu verschiedenen Forschungsfragen führt. Die Kombination von Zeichentheorie und Altertumskunde in der Nachfolge Lessings hat zwar nach wie vor Konjunktur, bedarf aber der Rechtfertigung durch eine klare Fragestellung. Eine Studie, die sich fundiert den Wechselbeziehungen zwischen dem Nachleben des Lessing'schen und des vatikanischen "Laokoon" widmet, wäre eine Bereicherung. In einer weniger reflektierten Darstellung taugt Winckelmann nicht zur Einführung in"Grenzbestimmungen der Künste".

Die lang erwartete Publikation hat längst ihren Platz in den großen Bibliotheken. Von der Lektüre muß schweren Herzens abgeraten werden.

Schrader, Monika: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst". Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe (= Europaea memoria), Hildesheim [u.a.]: Georg Olms Verlag - Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 2005
ISBN-10: 3-487-12909-4, 194 S., EUR 29.80

Empfohlene Zitation:
Christoph Schmälzle: [Rezension zu:] Schrader, Monika: Laokoon - "eine vollkommene Regel der Kunst". Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe (= Europaea memoria), Hildesheim [u.a.] 2005. In: ArtHist.net, 13.10.2006. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/134>.

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