REV 06.10.2008

Beate Fricke: Ecce fides. Die Statue von Conques

Rezensiert von Juwig Carsten, Hamburg
Redaktion: Livia Cárdenas
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Im Mittelpunkt der fulminanten Studie von Beate Fricke steht mit der heiligen Fides aus dem Kirchenschatz zu Conques die älteste erhaltene, kultisch verehrte Statue des westlichen Mittelalters. Obwohl die Fides für die Kunstgeschichte ein geradezu enigmatisches Bildwerk ist, erfährt sie in der vorliegenden, aus einer Dissertation hervorgegangenen Monographie ihre erste umfassende Würdigung. Dabei gelingt es Fricke anhand objektnaher kunsthistorischer Analysen und einer beeindruckenden Quellenkenntnis jene Prozesse aufzuzeigen, welche zum Wiederaufleben der vollplastischen Skulptur im 10. und 11. Jahrhundert führten. Von Beginn an interdisziplinär argumentierend ist ihre Arbeit ein grundlegender Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Bildkultur und Heiligenverehrung.

Das erste Kapitel (I. Bilder im christlichen Kult, S. 15-36) rekapituliert die Forschungslage zur nachantiken Skulptur und gibt einen Einblick in die frühmittelalterlichen Diskursfelder des Bildes. Bemerkenswert ist hier eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung des Begriffs ’Kultbild’, welcher sich als primär neuzeitliche Erfindung entpuppt.

Der erste Hauptteil (II. Bildverehrung und die ’Cultura veterum Deorum’ im Westen, S. 37-164) beginnt mit einer Analyse der erhaltenen Fides-Figur und ihres lokalen Kontextes. Anhand des kritisch gelesenen Forschungsstandes rekonstruiert Fricke die Entwicklungsphasen der Skulptur vom 9. bis 11. Jahrhundert und präsentiert eine neue Chronologie der Fides. Es folgen konzise Analysen byzantinischer und westlicher Positionen im ’Bilderstreit’, sowie eine Untersuchung von Bild- und Textzeugnissen, welche Skulpturen als Inbegriff des paganen Götzenkultes thematisieren. Eine abschließende Synthese bilden grundlegende Überlegungen zur Funktion vollplastischer Bildwerke im Spannungsfeld von Bilddiskurs, Liturgie und Heiligenverehrung.

Der zweite Hauptabschnitt behandelt die Erscheinungsformen der Fides im Blick ihrer Betrachter (III. Tote Maske – belebte Blicke, S. 165-247). Prominenter Augenzeuge ist Bernhard von Angers, dessen Mirakelberichte ein eindrucksvolles Zeugnis der zeitgenössischen Rezeption ablegen. Subtil verortet Fricke die Wirkung der Statue in einem ’animierenden’ Blickwechsel mit den Gläubigen.

Die Formen der Heiligenverehrung führen im letzten Kapitel zu einer Untersuchung von Kirchenschätzen als bricolage (IV. Schatzgestalten, S. 249-310). Da die Heiligenverehrung auch auf einem materiellen Gabentausch basiert, veranschaulicht das wandlungsfähige Heiligenbild eine weitreichende „Ökonomie des Heils“(S. 261). Hier eröffnet Fricke das bis dato kaum beachtete Feld der „Tauschgeschichten von Kultbildern“(S. 269). Abgerundet wird die Studie durch ein konzises Resümee, eine reichhaltige Literaturliste und 100 Abbildungen.

Den Fragen, warum bzw. wie die frühmittelalterliche Skulptur aus dem Schatten des alttestamentarisch begründeten Idolatrieverdachts heraustreten konnte, begegnet Fricke mit einer gewinnbringenden These: Als Reaktion auf das bilderfreundliche Konzil von Nizäa sei im Westen eine Bildtradition konstruiert worden, in dessen Mittelpunkt nicht die Natur des Bildes, sondern angemessene Bildfunktionen und Bildpraxen gestanden hätten. Da hierbei der antike Götzenkult als Negativfolie benutzt wurde, bewahrte sich eine Erinnerung an den heidnischen Bildkult, welcher so ’akkulturiert’ worden sei.

Zwischenstationen des rasanten Aufstiegs vom häretischen Artefakt hin zum Kultobjekt markieren drei Kirchenversammlungen: das Konzil von Nizäa (787) und die beiden Synoden von Paris (825) und Arras (1025). Ein kurzer Blick auf die Geschichte des Begriffs ’Kultbild’ (S. 28-36) mag dies andeuten: Im Opus Caroli regis contra synodum (Libri Carolini), der von Karl dem Großen initiierten Stellungnahme zum Konzil von Nizäa, findet sich erstmals die Wendung cultus imaginum als Aburteilung des byzantinischen Bildgebrauchs. Die Pariser Synode legitimiert statt einer Verehrung des Bildes (cultus imaginum) die Anbetung des Kreuzes (adoratio crucis). Von einer liturgischen Einbindung vollplastischer Bildwerke zeugt dann die Synode zu Arras (1025), welche sich u.a. auf die ’eherne Schlange’ Mose beruft.

Diese Akzentverschiebungen korrelieren mit dem überlieferten Denkmälerbestand. Wie Fricke konstatiert, vollzog sich die Etablierung der Skulptur über die liturgische Kreuzverehrung. Es bleibt zwar unsicher, seit wann die Monumentalkreuze des 9. Jahrhunderts vollplastische Christuskörper trugen, doch zeigt die Mauritius-Büste aus Vienne eine Etablierung anthropomorpher Reliquiare im späten 9. Jahrhundert. Eine erste vollplastische Marienfigur ist für das Jahr 948 in Clermont-Ferrand gesichert. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstanden dann Heiligenstatuen.

Dass der Fides eine Schlüsselstellung in dieser Entwicklung zukommt, erschließt Fricke anhand des Objektbefunds. Die Geschichte des Kultbilds beginnt im Jahre 883 mit dem Raub der Schädelreliquie der hl. Fides aus dem Kloster in Agen. In Conques wurde die Reliquie zunächst im Holzkern eines Büstenreliquiars geborgen, welches um 1000 zu einer thronenden Vollfigur nach dem Beispiel der Marienskulptur aus Clermont-Ferrand ergänzt wurde. Dies erklärt nicht nur die disproportionale Gestalt der Fides, sondern auch Bernhard von Angers Hinweis, die Figur sei vor seinem Besuch vollständig erneuert worden (de integro reformatorum).
Dass man in Conques eine Märtyrerin des 4. Jahrhunderts wählte, um vorgeblich spätantike Wurzeln des Klosters zu etablieren, ist nicht ungewöhnlich. Dass man dazu eine Heilige wählte, die ihr Martyrium nicht zuletzt aufgrund ihrer Verweigerung des heidnischen Götzenkultes erlitt, mag überraschen. Dass man aber die im Kindesalter verstorbene Heilige als goldene Thronfigur mit spätantikem Männerkopf repräsentierte, führt in den Kern einer kontroversen Debatte über die Funktionen anthropomorph gestalteter Reliquiare und die Entstehung der Monumentalplastik.

Angesichts der Fides wird deutlich, dass sie kein Bildnis sein soll. Vielmehr oszilliert in ihrem Antlitz ein Kontrast zwischen ihren Lebendigkeit suggerierenden Emailaugen und ihrer entrückt wirkenden Goldmaskerade. Diese bewusst konzipierte Ambivalenz evoziert ein ständiges Changieren der Skulptur zwischen Mimesis und Substitution. Die anthropomorphe Plastik betrat somit nicht als ’Ersatzleib’ die liturgische Bühne, sondern als ’ausdruckstragender Körperteil’ (S. 42), der eine Kommunikation zwischen Bildwerk und Gläubigen stiften sollte. Der Blickwechsel mit dem Betrachter konstituiert sich dabei als zentrale Bildfunktion.

Die formale Gestaltung dient jedoch auch als Heiligkeitsbeweis (S. 206-226): Der posthum geschaffene Kunstkörper repräsentiert nicht die irdische Gestalt der Märtyrerin, sondern ihren himmlischen Leib, welcher bei Gott weilt. Da sich in seinem Goldglanz auch die innere Reinheit der tugendhaften ’Fides’ widerspiegelt, offenbart sich die Skulptur als „ideales Medium für die Erfahrbarkeit von Transzendenz im Diesseits und körperlicher Repräsentanz des Heiligen im Jenseits“ (S. 14) Hier zeigen sich, wie Fricke trefflich beobachtet, „Vorformen ästhetischer Erfahrung“ (S. 12), welche meist einer ’neuzeitlichen’ Bildkompetenz zugesprochen werden.

Dass die christlichen Skulpturen vor der Negativfolie des heidnischen Götzenkultes umso heller erstrahlten, zeigen illustrierte Handschriften: Wurden die antiken Idole zunächst noch in ihrer makellosen Körperlichkeit dargestellt, tritt bald ihre brachiale Zerstörung ins Bild. Wie Fricke zeigt, definieren diese Darstellungen anhand des als häretisch verurteilten Götzenbildes das christliche ’Kultbild’ (S. 63). Dabei verdankt sich die Etablierung der Skulptur als traditionsbelastete „Bildform der Divinität“(S. 158) aber auch der Akkulturation antiker Tugendgottheiten, wie es nicht zuletzt auch die Fides zeigt. Doch im Gegensatz zu ihren heidnischen Vorbildern betonten die christlichen Figuren stets ihre Artifizialität. Gerade ihre äußere Wandlungsfähigkeit durch Spolierungen und applizierte Votivgaben bezeugt ihre unveränderliche Wirkmacht.

Frickes umsichtige Rekontextualisierungen verdeutlichen, dass die Etablierung der Vollplastik in einen Zeitraum fiel, in dem sich das Verhältnis von Wahrnehmung, »Ähnlichkeit, Zeichenverweisung und Sinnverbindung« (Kurt Flasch) grundlegend wandelte. Einer der Kulminationspunkte dieser Prozesse ist der sich im frühen 11. Jahrhundert entspinnende Eucharistiestreit um Berengar von Tours. Berengars Diktum, nur für den wirklich Gläubigen verwandele sich die Hostie in den präsentischen Leib Christi, hat auch den Idolatrieverdacht empfindlich geschwächt: „Erst dann, als man glaubte, dass der Leib Christi im Himmel und die Hostie zweierlei Repräsentationsmodi verkörpert und doch beide Leiber ’wahr’ seien, konnten Heiligenstatuen entstehen.“ (S. 164). Die „Geburtsstunde der nachantiken Skulptur“ fiel somit in jenen Moment, als „erstmals in diesem Medium eine künstlerisch geschaffene Realität den Anspruch auf Wahrheit, ein Kunstkörper den Anspruch auf Heiligkeit erhob.“ (S. 162)

Frickes Studie eröffnet faszinierende Perspektiven auf das westliche Frühmittelalter. Ihre mit Verve formulierten Erkenntnisse machen jedoch auch neugierig auf den Zeitraum vor dem 9. Jahrhundert. Die Annahme, in Gallien hätten keine Kultbilder bzw. (para)liturgisch angesprochene Bildwerke existiert (S. 28), mag man unterschiedlich bewerten. Den Nexus von ritualisierter memoria und Bildpraxis schildert bereits Gregor von Tours (†594)[1]. Aus der angelsächsischen Klosterkirche Wearmouth berichtet Beda Venerabilis (†735), dass sich hier die Gläubigen der Inkarnation mit Hilfe von Malereien ’erinnerten’, wobei ihnen das dargestellte Geschehen ’vor Augen’ gestanden habe. [2] Da sich Beda an anderer Stelle extensiv mit der Legitimation von Skulpturen und Malereien widmet – wobei er sich auch auf die ’eherne Schlange’ beruft [3] –, ließe sich fragen, wie groß der insulare Einfluß auf die karolingische Kreuzverehrung gewesen ist. In der Stationsliturgie von Centula (St. Riquier), einer dem karolingischen Hofe nahe stehenden Abtei unter teilweise angelsächsischer Leitung, befand sich wohl auf dem Kreuzaltar ein Relief, das in den monastischen Ritus eingebunden war. [4] Von hier aus könnte man vielleicht auch noch einmal über die bildpraktische Funktion der jüngst in Corvey restaurierten Fragmente von Stuckplastiken nachdenken. [5]
Aber all diese Fragen kann Beate Fricke mit bestem Gewissen anderen überlassen. Unter welchen Gesichtspunkten die angesprochenen Themen untersucht werden könnten, und wie nuanciert ihre Argumentation sein müsste, hat sie uns beispielhaft vor Augen geführt.

Anmerkungen
[1] Gregor von Tours, In gloria martyrum I.21.
[2] Beda Venerabilis, Vita Sanctorum abbatum Monasterii in Wiramutha et Girvum I. 4.
[3] Beda Venerabilis, De templo 2.19.10.
[4] Vgl. hierzu Manfred Luchterhandt, „Von der Ikone zum Retabel. Offizienliturgie und Tafelbildgebrauch im Dugento: Die Kreuzoffizien“, in: Das Soester Antependium und die frühe mittelalterliche Tafelmalerei. Kunsttechnische und kunsthistorische Beiträge, hg. v. Joachim Poeschke u. a. (Westfalen 80), Münster: Aschendorff Verlag, 2002, S. 283-337, hier S. 310; Louis van Tongeren, Exaltation of the Cross. Toward the Origins of the Feast of the Cross and the Meaning of the Cross in Early Medieval Liturgy (Liturgia condenda 11), Leuven u. a.: Peeters: 2000.
[5] Vgl. hierzu Sinopien und Stuck im Westwerk der karolingischen Klosterkirche von Corvey, hg. v. Joachim Poeschke, Münster: Rhema-Verlag Doherty, 2002.

Fricke, Beate: Ecce fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, Wilhelm Fink Verlag 2007
ISBN-10: 3-7705-4438-2, 465 S.

Empfohlene Zitation:
Juwig Carsten: [Rezension zu:] Fricke, Beate: Ecce fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, 2007. In: ArtHist.net, 06.10.2008. Letzter Zugriff 19.10.2024. <https://arthist.net/reviews/12>.

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