REV-CONF 10.04.2011

Networked Humanities

Acquafredda di Maratea, 09.–14.10.2010

Bericht von Matthias Becker

Networked Humanities – Tagung über (digitale) Möglichkeiten, die Geisteswissenschaften untereinander besser zu vernetzen.

Vieles hat sich geändert, seitdem Aby Warburg die erste Fotografie einer antiken Statue an eine seiner Stoffwände pinnte, damals in den 1920er Jahren, als er mit seinem Mnemosyne-Projekt begann. Über 1500 Fotos, Plakate, Briefmarken, Zeitungsausschnitte und sonstige Abbildungen, zierten mehr als 40 Wände, mit denen der Kunsthistoriker zum einen die Vielfalt der Antike dokumentieren wollte. Zum anderen hatten die lose befestigten Materialien den Vorteil, ohne große Mühe umgruppiert und sortiert werden zu können, je nach dem zu untersuchenden Forschungsschwerpunkt. Fertigstellen konnte Warburg sein Mammutprojekt jedoch nicht, er starb 1929 an einem Herzinfarkt, Mnemosyne blieb unvollständig.
In Zeiten, in denen ein Bild schneller gegoogelt als in der Fachliteratur nachgeschlagen ist, in denen ganze Forschungsthesen wissenschaftlicher Publikationen schneller via Online-Volltextsuche zu extrahieren sind denn in mühevoller Bibliotheks-Recherche – sprich im Hier und Jetzt – wirkt Warburgs ehrgeiziges Projekt weit entfernt und längst überholt.

Warum also einen Bericht über eine Tagung namens „Networked Humanities. Art History in the Web“ mit einem Seitenblick auf eine, provokant formuliert, 80 Jahre alte Kunstgeschichtsrandnotiz einleiten? Ganz einfach, weil in Wirklichkeit Aby Warburg mit seinem Streben nach Interaktivität, Vernetzwerkung und Quelloffenheit viel mehr mit den Perspektiven und Idealen des so genannten „Web 2.0“ zu tun hat als es auf den ersten Blick scheint.

Die Tagung „Networked Humanities“ fand vom 9. Bis 14. Oktober im beschaulichen Acquafredda die Maratea, ein kleines Dorf rund 200 Kilometer südlich von Neapel, auf Initiative der European Science Foundation (ESF) und der European Cooperation in Science and Technology (COST) statt. Verantwortlich für die Planung sowie den Ablauf der Konferenz zeichnete sich Dr. Hubertus Kohle, Professor am Institut für Kunstgeschichte der LMU München. Die Tagung verfolgte im Prinzip vier große Ziele:
1. Die Präsentation und Zusammenführung verschiedener digitaler Projekte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen - Kunstgeschichte, Bibliotheks- und Museumswesen, Informatik und der so genannten „Internet Science“.
2. Das Generieren neuer Forschungsperspektiven durch die Vernetzung und den interdisziplinären Austausch der verschiedenen Wissenschaften.
3. Das Aufzeigen künftig möglicher Projekte und Forschungsfelder, vor allem hinsichtlich des sich momentan etablierenden „Semantic Web“.
4. Der Austausch zwischen den Teilnehmern, vor allem hinsichtlich der Erfahrung, dass es in den etablierten Geisteswissenschaften oft nicht einfach ist, sich Gehör für digitale Projekte zu schaffen.

Die sechstägige Tagung war in fünf Themenbereiche unterteilt: Scientific Publishing, Art History, Social Tagging, Museum/Archive sowie Databases. Nachfolgend möchte ich nun exemplarisch einige Vorträge kurz resümieren und eine knappe Zusammenfassung der fünf Bereiche liefern.

Scientific Publishing – Im Netz viel Neues

Im Bereich des wissenschaftlichen Publizierens ist seit einiger Zeit vor allem ein Thema im Gespräch: Open Access; also der freie Zugang zu (wissenschaftlicher) Literatur über das Internet. Die Historikerin Gudrun Gersmann, seit 2007 Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Paris, sprach eben diesen Streitpunkt während ihres Vortrages an, bei dem sie auch verschiedene Projekte im Bereich E-Publishing vorstellte.
Viel wurde in letzter Zeit diskutiert über das Pro und Contra der kostenlosen Publikation wissenschaftlicher Texte im Internet. Als ganz klarer Vorteil gilt natürlich, dass dadurch Arbeiten eine wesentlich größere Verbreitung finden denn nur als kostenpflichtige „Papierpublikation“. Kritiker, vor allem aus dem Verlagswesen hingegen weisen auf finanzielle Einbußen hin, die dadurch entstehen könnten. Und Wissenschaftler befürchten, dass bei Onlinepublikationen ihr geistiges Eigentum nicht adäquat zu schützen sei.

Seit einigen Jahren engagiert sich Gersmann bei Online-Plattformen, auf denen sowohl ein Austausch über aktuelle Forschungen stattfindet als auch wissenschaftliche Texte teils kostenlos publiziert werden. Wie zum Beispiel bei der Historiker-Plattform www.historicum.net sowie dessen Schwesterprojekten, unter anderem dem Rezensionsportal www.sehepunkte.de und dem interdisziplinären E-Journal www.zeitenblicke.de. Laut Gersmann sei es für die Wissenschaft unabdingbar, sich mit alternativen Publikationsmodellen zu beschäftigen. Allein schon aus dem bereits angesprochenen Grund, dass durch (frei zugängliche) Onlinepublikationen neue Möglichkeiten geboten werden, vernetzt Forschung zu betreiben. Gersmann spricht sich dabei für das so genannte „hybride Publizieren“ aus, also der Veröffentlichung sowohl als (kostenpflichtiger) Print- als auch als (kostenloser) Onlineausgabe.
Ein zentrales Thema der Diskussion unter den Tagungsteilnehmern war in diesem Block vor allem der Wandel des Publikationshergangs: Bei klassischen Print-Publikationen werden Forschungsergebnisse nach langer, kostenintensiver Vorarbeit final veröffentlicht. Online-Publikationen hingegen werden schnell und günstig zum Teil bereits unfertig (z. B. als Blogbeitrag) veröffentlicht, was den Lesern die Möglichkeit bietet, eigenen wissenschaftlichen Input zu liefern. Die Zukunft des Publizierens, so das allgemeine Credo, liege eindeutig im Online-Bereich.

Art History I – Von der Graphik zur Grafik

Lange schon haben digitale Reproduktionen in der Kunstgeschichte ihre analogen Ahnen fast gänzlich abgelöst. Dozenten, die auf den Bestand einer Diathek zurückgreifen, sind im Vergleich zu den Kollegen, die Beamer und Powerpoint-Präsentation vertrauen, deutlich in der Minorität, von Graphischen Sammlungen ganz zu schweigen. Sieht man von eventuellen Qualitätseinbußen hinsichtlich der Präsentation einmal ab, bietet die Computer-Variante einfach mehr Optionen, in der Lehre eingesetzt werden zu können.

Noch einen Schritt weiter geht der Neuseeländer Erik Champion von der Massey University in Auckland. Als außerordentlicher Professor ist er seit einiger Zeit im Bereich Game Design tätig. Neben vielen weiteren Projekten ging Champion der Frage nach, wie sich Lehre und Computerspiel miteinander verbinden lassen. So entwickelte er beispielweise im Jahr 2006 gemeinsam mit seinen Studenten ein PC-Spiel, dass zu Zeiten der ägyptischen Hochkultur spielt und bei dem sich der Protagonist innerhalb eines realistischen dreidimensionalen Settings bewegt. So sind etwa die Texturen ihren realen Vorbildern nachempfunden; Es ist also beispielsweise möglich, antike Bauten zu begehen und die detailgetreue Hieroglyphen-Malerei zu betrachten. Um bestimmte Quests zu lösen ist es zudem nötig, sich mit der ägyptischen Geschichte zu befassen.
Champions Projekte gehen in viele unterschiedliche Richtungen. Aus kunsthistorischer Sicht interessant ist aber vor allem das Einbinden von Kunst im weitesten Sinne in seine Spiel-Projekte. In Zeiten, in denen Computerspiel und Film miteinander verschmelzen, ergeben sich in diesem Bereich ganz neue Möglichkeiten, Kunst zu repräsentieren; sei es nun via „Bild-im-Spiel“, also die Repräsentation von Gemälden in Spielen, oder durch die Texturgestaltung, die einen „virtuellen Rundgang“ durch verschiedene „Kunst-Settings“ zulässt – im Prinzip ist diesem Bereich kaum Grenzen gesetzt, digitale Kunstgeschichte zu medialisieren und zu popularisieren.

Art History II – Social Tagging und das „Lazy Web“

Wie kaum ein anderer Begriff hat sich “The Wisdom of Crowds”, also die Weisheit der Vielen, in der digitalen Kunstgeschichte etabliert. Die Möglichkeiten, die sich aus dem „Anzapfen“ der Wissensbestände vieler Personen ergeben, sind groß. Das bekannteste Beispiel ist natürlich die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Ein Bereich, in dem sich die Weisheit der Vielen in der Kunstgeschichte manifestiert hat, ist das Social Tagging, also die Verschlagwortung meist großer Bildbestände durch eine große Masse an Usern. Das vorrangige Ziel ist es, möglichst schnell, möglichst günstig und möglichst umfassend Bilder mit adäquaten Tags zu versehen. Es lassen sich jedoch auch weitere Erkenntnisse gewinnen, wie Gerhard Nauta, Professor an der Universität Leiden und Laura Commare, Magistrandin an der LMU München, verdeutlichten.
Letztere referierte über einige Ergebnisse, die sie im Rahmen ihrer Magisterarbeit über das LMU-Tagging-Projekt „Artigo“ gewann. Bei Artigo handelt es sich um ein Online-Kunstgeschichtsspiel, bei dem die Spieler Abbildungen - Gemälde, Architektur, Skulptur etc. – mit Schlagworten versehen. Ziel ist es, durch die spielerische Partizipation vieler Personen vielen Bildern viele Tags zuzuordnen, damit das Suchen in großen Bilddatenbanken vereinfacht wird.

In ihrer Arbeit hat sich Commare nun mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern die abgegeben Tags Rückschlüsse auf die Spieler zulassen. Ihr Ergebnis: Sowohl der Aufbau des Spiels als auch die spezifischen Eigenschaften der Spieler – Alter, Geschlecht, Bildungsstand etc. – wirken sich auf die abgegebenen Begriffe aus. Zudem lässt sich ein bestimmtes Muster erkennen, mit welcher Priorität Tags vergeben werden. Dadurch wiederum lassen sich Erkenntnisse gewinnen, wie zum Beispiel das Spiel verändert werden muss, um besonders wertvolle, d. h. aussagekräftige Schlagworte zu erhalten.

Im Gegensatz zu Artigo werden bei Nautas „Iconclass“ Bilder nicht mit Begriffen, sondern mit Bildern getaggt: Für sein Projekt erstellte er einen Katalog von unterschiedlichen, abstrakt gestalteten Symbolen, die verschiedene geometrische oder farbliche Charakteristika repräsentieren. Nun sollen Abbildungen passende Symbole zugeordnet werden. Dadurch entsteht zu jedem Bild ein einzigartiger Katalog an Symbolen, die untereinander verglichen werden können – mit dem Ergebnis, dass Zusammenhänge zwischen verschiedenen Abbildungen erkennbar werden, die sich bei bloßer Betrachtung nicht offenbaren würden.

Eine weitere, hoch interessante Methode, die „Weisheit der Vielen“ wissenschatlich zu nutzen, präsentierte der junge Bibliothekar Patrick Danowski, der momentan am „Institute of Science and Technology Austria“ arbeitet: Das so betitelte „Lazy Web“. Danowskis These: Oftmals liefern nicht die großen Suchmaschinen à la google oder bing die besten Rechercheergebnisse, sondern soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Denn hat man sich dort ein Netzwerk unter Gleichgesinnten aufgebaut, reicht es oftmals, eine Expertenfrage zu posten, die dann schnell beantwortet wird. Vor allem Twitter eignet sich hierfür, da jeder der eigenen Follower eine Frage an seine Community weiterleiten kann, sodass in kürzester Zeit eine riesige Menge an Personen erreicht werden kann.

Museum & Art: Kunst 2.0

Ein weiterer Themenschwerpunkt während der Tagung war die konkrete Arbeit von Museen und Institutionen, bei der sie sich den Mechanismen des so genannten „Web 2.0“ bedienen, allen voran die Möglichkeit zur Interaktion. Neben der bereits fast überall stattfindenden Repräsentation der Museen im Internet gehen manche Projekte noch einen Schritt weiter, indem sie ausschließlich online stattfinden. Wie etwa das Londoner „Muybridge in Kingston“-Projekt, das Alexandra Reynolds, Doktorandin an der University of Kingston, vorstellte. Auf der Projekthomepage wird gebündelt das über den Globus verteilte Gesamtwerk des britischen Fotografen Eadweard Muybridge interaktiv zugänglich gemacht. Gleichzeitig vernetzt die Homepage verschiedene Projekte rund um Muybridge, sodass letztlich eine in dieser Form einzigartige (und jenseits des Internets nicht durchführbare) Retrospektive des Fotografen entsteht. Ein Museum also, so könnte man meinen, dass den Besuchern ausschließlich online zugänglich ist.

Databases – Web 3.0?

Doch damit nicht genug: Das Internet bietet aus wissenschaftlicher Sicht noch viel mehr Potential, als bislang unter dem Begriff „Web 2.0“ zusammengefasst wird: Unter anderem für die Arbeit mit Datenbanken bietet das so genannte „semantische Web“ enormes Potential. Dieses kann als eine Art Erweiterung des herkömmlichen WWW verstanden werden. Während bislang im Internet lediglich riesige Datenmengen miteinander vernetzt werden können, versucht man im „Semantic Web“ die Bedeutungen dieser Daten zu verknüpfen. Ziel ist es also, Informationen derart aufzubereiten, dass sie von Computern „interpretiert“ werden können. Die Wissenschaften versprechen sich dadurch zum Beispiel neue Verknüpfungen innerhalb von Datenbanken, die mit herkömmlichen Methoden nicht herzustellen wären.
Momentan, so die einhellige Meinung der Tagungsteilnehmer, stecke das semantische Web aber noch in den Kinderschuhen. Ob, wie und vor allem wann tatsächlich flächendeckend durch neue Technologien das Internet in diese Richtung revolutioniert werde, sei abzuwarten. Aber wo, wenn nicht auf einer Tagung, die sich der vernetzten, digitalen (Er-)Forschung verschrieben hat, wäre ein solches Thema besser zu diskutieren? Vor allem wenn der Tagungsort Acquafredda die Maratea heißt und Rahmenbedingungen liefert, die sowohl formell als auch informell zum Austausch und zur Diskussion anregt.

Fazit – Mehr Vernetzung, mehr Zusammenarbeit: mehr Ergebnisse

Denn das lässt sich als großes Fazit der Tagung mit Recht festhalten: Das Vernetzen und der Austausch eigentlich grundverschiedener (Geistes)Wissenschaften hat funktioniert. Was in Hinblick auf die wissenschaftliche Realität, wo leider noch viel zu oft der projektbezogene Tunnelblick Input anderer Disziplinen verhindert, keine Selbstverständlichkeit. Eine Tagung, die, natürlich überspitzt formuliert, Kunsthistoriker und Informatiker tagelang in einen Raum sperrt, läuft Gefahr, dass die einzelnen Teilnehmer schnell aneinander vorbeireden. Fachfremdes wird oft als uninteressant und im wahrsten Sinne indiskutabel abgetan. Die Tagung, über die berichtet wurde, schaffte aber in der Tat den schwierigen Spagat zwischen den verschiedenen Wissenschaften: Zum einen dadurch, dass die Teilnehmer alle über ein gemeinsames Forschungsfundament verfügten: Die Möglichkeiten, die das Digitale dem jeweiligen Fach bietet. So hat beispielsweise Kunstgeschichte in Hinblick auf Social-Tagging-Projekte viel mehr mit Datenbanken, die „interpretierbare“ Inhalte zu generieren versuchen, zu tun, als auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag.

Zum anderen dadurch, da der Tagungsablauf sowie die Wahl des –ortes sich äußerst positiv auf den Austausch und damit die ja bereits im Titel der Veranstaltung geforderten Vernetzwerkung der Geisteswissenschaften ausgewirkt hat: Wo, wenn nicht beim abendlichen Beisammensein in der Hotellounge im idyllisch-abgelegenen Acquafredda kann Erfahrungs- und Gedankenaustausch reifere Früchte tragen? Und um abschließend noch einmal das Bild des Aby Warburgs aufzugreifen, der vor seinen Wänden stehend seine Abbildungen immer wieder neusortiert und –arrangiert, um dadurch bislang unbekannte Zusammenhänge zu offenbaren: er hätte sich beim Tisch-hopping von Kunsthistoriker zu Bibliothekar, von Student zu Professor, von Informatiker zum Spielentwickler sicherlich wohl gefühlt.

Empfohlene Zitation:
Matthias Becker: [Tagungsbericht zu:] Networked Humanities (Acquafredda di Maratea, 09.–14.10.2010). In: ArtHist.net, 10.04.2011. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/1180>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^