Es gibt sie nach wie vor, die klassischen Themen der Kunstgeschichte, zu denen Kunsthistoriker immer wieder zurückkehren, sei es die französische Kirchenbaukunst der Gotik, die altniederländische Tafelmalerei, oder die Barockarchitektur Italiens. Man kann nicht gerade behaupten, diese Themen seien schlecht erforscht. Auch wer sich bis dato mit spätgotischen Schnitzaltären beschäftigte, konnte auf einige Übersichtswerke zurückgreifen, zu denen auch das unbestrittene Standardwerk Michael Baxandalls gehört [1], sowie auf eine brauchbare Zahl an Monographien und Aufsätzen zu Künstlern und Hauptwerken dieser Epoche. Und doch gelangt man bei der Lektüre des neuen Prachtbandes aus dem Hirmer-Verlag „Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol“ zu der Erkenntnis, daß sich in der Erforschung spätgotischer Skulptur eine weitere Lücke geschlossen hat.
Das im Herbst 2005 erschienene Werk von Rainer Kahsnitz, dem erst seit kurzem emeritierten Professor für Kunstgeschichte der Augsburger Universität und ausgewiesenen Spezialisten für mittelalterliche Kunstgeschichte, liefert eine Zusammenschau der bisherigen – auch eigener – Forschungsergebnisse zu den süddeutschen Schnitzaltären. Und was für eine Zusammenschau das ist! Hier trifft kunsthistorische Kennerschaft auf fotografisches und verlegerisches Können. Bereits beim erstmaligen Durchblättern präsentieren sich dem Leser wahre Schauwände, die sowohl den Blick auf das „Gesamtkunstwerk“ geschnitzter Altarretabel freigeben als das Auge auf Details lenken, die selbst dem Reisenden vor den Originalen häufig verwehrt bleiben. Die größtenteils von Achim Bunz fotografierten Bildtafeln zeigen die virtuose Schnitztechnik der spätmittelalterlichen Meister bis hin zur Maserung des Holzes und das Inkarnat der Skulpturen bis hin zur Äderung der Haut.
In einer 30seitigen Einleitung gibt Kahsnitz einen Überblick über rund 200 Jahre Retabelbaukunst, deren Anfänge um 1300 anzusetzen sind. Der scheinbar so gewaltigen Fülle von rund 3000 erhaltenen Altären, die vor dem Zweiten Weltkrieg gezählt wurden, steht ein Vielfaches an verlorengegangenen Werken gegenüber. Dazu gehören auch die Hochaltarretabel des Ulmer Münsters von Jörg Syrlin d. Ä. sowie des Konstanzer Münsters von Niclaus Gerhaert, die heute zweifellos die vordersten Plätze einnehmen würden.
Flügelaltäre sind ein nordalpines Phänomen, ihre Verbreitung beschränkt sich „im wesentlichen auf die deutschen Gebiete, die Niederlande, Skandinavien und das Baltikum“ (12). Ihre Wandelbarkeit durch bewegliche, beidseitig gestaltete Flügel diente der Inszenierung des Heilsgeschehens. Die Altäre waren üblicherweise geschlossen und wurden nur an hohen kirchlichen Festtagen geöffnet. Dann boten sie den Gläubigen mit ihrer goldschimmernden Schauseite die „Präsentation einer überirdischen Welt“, die „Offenbarung des himmlischen Heiles“ (16).
Die Entstehung eines Flügelretabels war ein arbeitsteiliger Prozeß und die „Gemeinschaftsleistung mehrerer Handwerker“ (17). Zu ihnen gehörten Schreiner, Bildschnitzer und Maler (Bild- und Faßmaler), die durch Verträge, häufig ergänzt durch Entwurfszeichnungen (sogenannte Visierungen), an strikte Vorgaben gebunden waren. Die Verträge „regelten die finanziellen Fragen, die Lieferfristen, die Anzahl der zu schnitzenden Figuren, die Qualität der zu verwendenden Materialien, insbesondere des Goldes und guter Farben, aber auch der Qualität der Arbeit [...]“ (17).
Die Anfänge des Flügelaltars werden noch immer kontrovers diskutiert. Figurentabernakel sowie Reliquienschränke scheinen auf dessen Entstehung wesentlichen Einfluß ausgeübt zu haben. Ein Wandel in der Liturgie um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert, die den Priester bei der Zelebration der Messe westlich des Altars mit dem Gesicht nach Osten Aufstellung nehmen ließ, führte zu einem veränderten Bildgebrauch. Reliquienschreine wurden nunmehr hinter oder auf dem Altar aufgestellt. Diesem folgte „im 11., mit Sicherheit aber im 12. Jahrhundert“ (20) der Brauch, auch Skulpturen auf die Altäre zu stellen. „Sie standen frei, erhielten aber ein Tabernakel mit einem baldachinartigen Dach als auszeichnende Hoheitsform, das von einer festen Rückwand getragen wurde. Außer durch die Rückwand konnten sie auch seitlich und von vorn durch bewegliche Flügel geschützt werden [...]“ (20). Diese Form der Verschließbarkeit läßt sich auch für Reliquienschränke konstatieren.
Was die Entstehung der frühen Figurenretabel anlangt, hat Kahsnitz eine eigene Meinung: „Aus der Tradition der großen, Schrein und Flügel gleichermaßen umfassenden Reliquien-Schauwand, die ja von Anfang an mit Figuren oder Reliefs durchsetzt war, hat sich offenbar noch im 14. Jahrhundert ein Retabeltyp entwickelt, der – unter Verzicht auf Reliquienfächer – eine relativ große Zahl kleiner reliefhafter Bildwerke oder Figurengruppen unter jeweils eigenen Arkaden, meist in zwei Reihen übereinander ordnet [...]“ (24).
Die „epochemachende Neuentwicklung“ (26) zum Altarschrein mit Flügeln sieht Kahsnitz für die Zeit des Weichen Stils in Süddeutschland, doch sind die Gründungswerke desselben bedenklicherweise nicht erhalten. Doch wird die Entwicklung seiner Meinung nach erstmalig greifbar am Hochaltar der Pfarrkirche in Bozen aus den Jahren 1421-24, dessen Schrein ebenfalls nicht erhalten ist. So mag seine These recht tönern klingen, doch ist sie vorsichtig genug formuliert.
Vielgestaltig ist die nachfolgende Entwicklung des Flügelretabels. Der querrechteckigen Kastenform folgen Varianten mit wimpergartigen oder rechteckigen Auszügen im Schreincorpus. „Die Steigerung des Figurenmaßstabes hat auch Bedeutung für die innere Komposition des Altarschreines“ (28). Die kompositorische und architektonische Betonung der Mittelnische setzt sich durch, ohne daß Kahsnitz eine Entwicklung zu Einheitsräumen konstatieren kann. Auch die Gesamtform des Flügelretabels folgt zeitlichen Umbrüchen. „Die hohen Gesprengetürme – drei, fünf oder sogar sieben – mit eingestellten Baldachinen und Figuren sollten noch eine große Zukunft haben und die Gesamtform der spätmittelalterlichen Altaraufsätze nachdrücklich prägen.“ (34).
Weniger eine Sonderform, als vielmehr einen Wandel im Kunstverständnis dokumentieren die holzsichtigen Altäre. Abgesehen von den horrenden Kosten, die für deren Polychromierung aufzuwenden waren und die häufig teuerer kam als das gesamte Retabel, zeichnet sich in der „ästhetischen Bewertung von Skulptur“ (39) ein quellenmäßig faßbarer Wandel ab. Augenfällig wird dies in den Anweisungen des Dr. Andreas Stoß für ein von seinem Vater Veit Stoß für das Nürnberger Karmeliterkloster 1523-25 geschnitztes Altarretabel. „Die reine plastische Form der Schnitzarbeit hatte in den Augen ihres Urhebers und der Zeitgenossen eine neue, eigenständige Wertigkeit erlangt.“ (39).
Der Einleitung folgen 22 Altarstudien nach einheitlichem Schema und mit jeweils angehängtem Tafelteil. Einer kurzen Würdigung werden Ausführungen zur Geschichte und den Quellen des jeweiligen Werks nachgeordnet. Der Beschreibung der Altararchitektur schließt sich die Erläuterung des Bildprogrammes an. Ihr folgt die Besprechung der Altarskulptur und abschließend der Malerei. Eine Zusammenfassung technischer Daten beendet den Textteil.
Den Anfang macht ein Altar, der interessanterweise als solcher nicht mehr besteht, da sich lediglich dessen Skulpturen sowie die gemalten Außenflügel erhalten haben. Der 1462 geschaffene Hochaltar der Nördlinger Pfarrkirche St. Georg wird heute dem berühmtesten Bildhauer seiner Zeit, Niclaus Gerhaert, zugeschrieben. Als einzig erhalten gebliebener Altar dieses in Straßburg tätigen Meisters, markiert er einen Maßstäbe setzenden Höhepunkt innerhalb der Gruppe süddeutscher Schnitzaltäre. Innovative Figurenauffassung und perfekte bildhauerische wie malerische Umsetzung bilden dessen Qualitätsmerkmale. Alle Strömungen und Ausprägungen der Altarbaukunst des Spätmittelalters wurden von Kahsnitz erfaßt und an Hauptwerken erläutert. Das gilt auch für eines der wohl reizvollsten Objekte dieser Gattung, dem 1523-26 geschaffenen Hochaltar des Breisacher Münsters, der dem sogenannten Meister H. L. zugeschrieben wird. Der Altar bildet den expressiven Endpunkt einer langen Tradition, die mit den Bilderstürmen der Reformationszeit und dem Einsetzen der Renaissance abrupt endet.
Der zukunftsweisende Beitrag dieses Buches besteht darin, erstmalig die Ergebnisse der bisherigen Forschung zusammengetragen, verschriftlicht, vor allem visualisiert zu haben, was für eine Bildwissenschaft wie die Kunstgeschichte von enormer Bedeutung ist. Wo die Quellen schweigen setzt Kahsnitz das klassische Instrument der Stilkritik an, nicht ohne Seitenblicke auf ikonographische Fragen und historische Zusammenhänge. Als Kompilator und Vermittler schwieriger Forschungsprobleme vermeidet er Händescheidungen, wie sie Spezialisten gerne und durchaus erfolgreich betreiben. „Die Texte sind darauf angelegt, dem Leser die notwendigen Kenntnisse zum historischen Verständnis der in den Tafeln dokumentierten Altäre zu vermitteln, wobei dem Buchtyp entsprechend auf Anmerkungen und wissenschaftliche Polemik verzichtet wurde.“ (464) Das bedeutet keineswegs, daß sich dieses Buch nur an den wissenschaftlichen Laien richtet. Auch dem Experten ist geholfen in der gelehrten Zusammenführung der wichtigsten Werke einer Gattung, die fraglos zu den Höhepunkten mittelalterlicher Kunst gehört.
[1] Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen. (engl. Originalausg. 1980) München 1984.
Kahsnitz, Rainer; Bunz, Achim (Hrsg.): Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München: Hirmer Verlag 2005
ISBN-10: 3-7774-2625-3, 480 S
Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Kahsnitz, Rainer; Bunz, Achim (Hrsg.): Die großen Schnitzaltäre. Spätgotik in Süddeutschland, Österreich, Südtirol, München 2005. In: ArtHist.net, 19.01.2006. Letzter Zugriff 22.01.2025. <https://arthist.net/reviews/112>.
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