REV 19.12.2005

Siegfried J. Schmidt (Hg.): Medien und Emotionen

Rezensiert von Hans J. Wulff
Redaktion: Livia Cárdenas

Ins Kino gegangen, geweint. Gelacht. Sich erschrocken. Gegruselt. Eine Allgemeinerfahrung, die dennoch in den Film- und Kommunikationstheorien bislang nur marginale Aufmerksamkeit gefunden hat. Seit mehreren Jahren: modisches Thema, Anlaß für Kluges und Flaches, für Triviales und Überkomplexes. Emotionen im Kino unterscheiden sich von denen im Alltagsleben, das scheint fundamental zu sein. Zuschauer sind handlungs- und folgenentlastet, wie es manchmal heißt, können sich darum Situationen aussetzen, denen man in der Alltagsrealität ausweichen würde. Emotion im Kino wird gesucht, ein Ort, an dem man sich dem Strom des Erlebens hingeben kann. Weil man im Kino sicher ist.

Eine allgemeine Theorie der medienvermittelten Emotionen ist nicht in Sicht (man muß auch über Fernsehen und Romane, Theater und Radio und ähnliches mehr reden; aber auch über Fiktionen und Nachrichten, Happenings und mediale Spiele). Vorliegender Band scheint eine solche allgemeine Perspektive zu verfolgen. Aber er enttäuscht, mehr als das: er macht ärgerlich. Entstanden aus zwei Seminaren an der Münsteraner Universität, versammelt er die studentischen Bemühungen. Und geht kaum über das hinaus, was man - diesen Kontext kennend - erwarten würde. Da geht es um die Tragödie, laut Überschrift die Gattung der „Emotionalität per definitionem“. Das Modell des Tragischen wird historisch entwickelt, von den Dionysos-Kulten über die aristotelische Poetik, den Katharsis-Begriff, das bürgerliche Trauerspiel und seine Krisen. Fallhöhe und Ständeklausel werden als allgemeine Konzepte, nicht als Forderungen einer normativen Poetik ausgewiesen. Und all das mündet ein in die Feststellung, dass der „schuldlos schuldig werdende Held“ eine heute nicht mehr praktikable Inhaltsfigur sei - „vorausgesetzt, es gäbe die Tragödie überhaupt noch. Wie schon angeführt [,] befindet sich die heutige Gesellschaft in einer Situation radikaler Kontingenzerfahrung“ (131). Kein Blick in die riesige Bibliothek der Filme und Fernsehspiele. Kein Wort über die Tatsache, dass klassische Tragödien immer noch aufgeführt werden (induzieren sie nicht mehr die emotionalen Bewegungen, die ihnen einmal zugesprochen gewesen sind?). Kein Innehalten bei der Frage, wie das Melodramatische zum Tragischen sich verhält. Und natürlich: keine Kenntnis der Literatur, die Filme zu Korpora des Tragischen zusammenführen, die Figuren wie den Gangster als tragische Figuren thematisieren oder am Einzelfall einen Film wie L'ARMEE DES HOMBRES von Jean-Pierre Melville als „moderne Tragödie“ untersuchen. Diesen wie viele andere.

Man kann an anderen Kapiteln fortsetzen. Die „mediale Inszenierung des Krieges“ findet sich (auch dies ein modisches Thema, viel zu viel ist zu schnell geschrieben worden). Die Autorinnen wollen Kriege und Konflikte gleichermaßen „als Formen von Krisen behandeln, wobei nicht vergessen werden darf, dass Krisen beobachterabhängig und kontingent sind“ (138). Es erscheint ihnen im folgenden „sinnvoll, zwischen Kriegsfilmen und Antikriegsfilmen zu unterscheiden“ (143). Auch gesetzt die paradoxale Tatsache, dass auch Kriegsfilme „Krieg“ zeigen müssen und diesen dabei ästhetisieren (stimmt diese Behauptung eigentlich, die man nicht nur hier findet?): Die Traditionen des Kriegsfilms werden nicht in die historischen Kontexte von Propaganda und Pazifismus, von Dokumentarismus, Existenzialismus und Surrealismus untersucht. Feinere Erzählmuster und Argumentationsstrukturen, die Frage von Heroisierung und Opferperspektive, die Dramatisierung von Widerstand im Krieg (alles Dinge, die die emotionalen Prozesse, die Kriegsfilme ansteuern und ermöglichen können): kein Wort darüber.

Es ist überaus deutlich, dass die Seminare auf zwischen Systemtheorie und Konstruktivismus orientierten Annahmen Schmidts aufbauen, dass hier der Lieferant von Terminologien und Beschreibungsmodellen zu vermuten ist. Die - studentischen - Texte modulieren das Ausgangsmaterial aber in einer oft nur für Insider nachvollziehbaren Art und Weise. „Moral funktioniert [...] als operative Fiktion, die allgemeine Kontingenz durch spezifische Kontingenz bearbeitet“ (157). Es folgt im unmittelbaren Anschluss die Behauptung, dass die moralischen Ordnungs- und Orientierungsrahmen im Verlauf der Sozialisation gelernt würden. Und dass sie nie feststünden, sondern in jeder moralischen Bewertung neu wieder aktualisiert und aktiviert werden müßten und erst dann dem Urteilenden „Stabilität und Sicherheit“ verliehen (ebd.). Welche Einsicht. Moralische Bewertung auch im Kino? Angesichts einer Figur wie Hannibal Lecter? „Die grundlegende Unterscheidung, mit der Moral operiert, ist die Dichotomie gut/böse. Die Einheit der Differenz von gut/böse konstituiert folglich Moral“ (ebd.). Was hat das mit der Emotionalität von Medienrezeption zu tun? Oder mit der Darstellung emotional folgenreicher Figurenkonstellationen, Intrigen und Handlungsverwicklungen im Film oder Fernsehen? Wird der Zuschauer in diversen Genres nicht gerade dazu eingeladen, sich auf moralisch höchst schwer zu beurteilende Dilemmasituationen, auf Widersprüche, Paradoxien und Komplikationen einzulassen? Zu sehen (und zu fühlen), dass manche Konstellationen moralisch ambivalent bleiben, dass die Handlungsfähigkeit der Akteure eingeschränkt bleibt, dass das Aufrechtsein und die praktischen Kontexte des Alltags in kaum auflösbaren Konflikt geraten? Dass „gut“ und „böse“ sich kaum noch bestimmen lassen?

Da ist in allen Beiträgen gelegentlich ein Schematismus zu spüren, der komplizierte emotionale Bewegungen rigoros vereinfacht. Ist „Scham“ wirklich ausreichend als eine „affektive Reaktion“ bestimmt, die „bei Verstoß gegen die moralischen Grundsätze der Gemeinschaft“ ausgelöst wird (157)? Schmidt leitet den Band mit einer knappen (aber auch sehr unspezifischen, die besondere Problematik der durch Medien induzierten und der in ihnen dargestellten Emotionen kaum beachtenden) Überblicksdarstellung ein. Die Beiträge des Bandes schwanken zwischen den beiden Themenhorizonten hin und her. Manche sprechen von Zuschaueremotionen (Horror etwa). Andere von dargestellten Emotionen (der Abschnitt über Daily-Talks etwa). Beides hängt naturgemäß zusammen. Der Emotion im Theatersaal zugeordnet ist die „große Szene“ als ein Moment konzentrierter Emotionsdarstellung. Und auch das Lachen kann sich nicht ausbreiten, ohne dass es einen Lachanlaß gäbe. Im Abschnitt über das Komische wird die Satire den Lachanlässen zugeordnet - eine Subordination, die zumindest überdacht werden sollte. Emotionen im Medium und Emotionen im Feld der Zuschauer stimmen nicht überein oder sind gar identisch - eine folgenreiche Differenz.

Sammelbände wie diese unterminieren ein seriöses wissenschaftliches Interesse daran, etwas genauer zu verstehen, was im Kinosaal, im Auditorium, vor dem Fernseher geschieht. Ein Band wie der vorliegende wirft auch die Frage auf, ob denn alles gedruckt werden muß, was geschrieben wird - angesichts der Bibliotheksetats, der sowieso schon unkontrollierbar werdenden Informationsflut auf Schreibtischen und Bildschirmen. Und er macht fragen, ob es nicht nötig ist, eine „Ethik der Herausgeberschaft“ auf die Agenda der Wissenschaften zu heben - angesichts des Ausfalls der Kontrolle der Wissenschaftspublizistik durch Lektoren und Verlage, angesichts der immer geringeren Schwellen, die der Veröffentlichung von Geschriebenem entgegenstehen, und angesichts des armen Lesers, der sich durch einen Berg von Halbdurchdachtem hindurchgraben muß.

Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Medien und Emotionen, Münster: LIT Verlag 2005
ISBN-10: 3-8258-8792-8, 433 S, EUR 24.90

Empfohlene Zitation:
Hans J. Wulff: [Rezension zu:] Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Medien und Emotionen, Münster 2005. In: ArtHist.net, 19.12.2005. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/110>.

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