Während des gesamten 20. Jahrhunderts gab es eine Kontinuität des Städtebaus – Städtebau verstanden als die Arbeit an der dreidimensionalen Gestalt der Stadt, unter Berücksichtigung von Stadtraum, Funktionsmischung und Erlebnisdichte. Dieser Städtebau existierte parallel zu den zeitweise dominierenden antiurbanen Tendenzen von Stadtplanung und Siedlungsbau insbesondere der CIAM-Moderne. Das ist, zusammengefaßt, die These des Buches, das Wolfgang Sonne nach beinahe 15jähriger Vorarbeit (S. 7 f.) vorgelegt hat.
Das Werk beginnt mit einem lesenswerten Essay über den Begriff der Urbanität (S. 14–36). Urbanitas wurde in der Antike als ›verfeinerte städtische Lebensweise‹ begriffen und in der ›geistreiche[n] Rede‹ (S. 15) entdeckt, was sich in den folgenden Epochen fortsetzte. Dem historischen Abriß folgt eine facettenreiche chronologische Darstellung der Diskussion von Urbanität und Städtischem im 20. Jahrhundert, im Unterschied zum Ländlichen und zum Suburbanen, zu Technizismus und Funktionalismus. Sonne differenziert dabei zwischen kultureller und ›gebauter Urbanität‹ (S. 34). Schließlich faßt er seinen Urbanitätsbegriff der Gegenwart mit Hilfe von acht Aspekten zusammen (S. 36).
Auf lediglich drei Seiten schließt sich ein Abriß zum Begriff der Dichte und seiner bald negativen, bald positiven Auslegung im 20. Jahrhundert an (S. 37–39). Im Gegensatz zum qualitativen ›Wertbegriff‹ (S. 14) der Urbanität sieht Sonne die Dichte auf ein ›quantifizierendes Hilfsmittel‹ (S. 37) beschränkt; ›Dichte als rein quantitativer Begriff stellt ein reduktives Konzept dar‹ (S. 37). Gemeint sind die diversen Kennzahlen wie Einwohnerdichte, bauliche Dichte etc. Wie die zur Urbanität hinführenden Aspekte von ›Erlebnisdichte‹, ›kulturelle[r] Dichte (Stadtkultur pro Fläche)‹ und ›historische[r] Dichte (historische Vielfalt pro Fläche)‹ (S. 39) gemessen werden, bleibt allerdings offen. Deutlich werden hingegen Sonnes Bedenken gegenüber dem Begriff der Dichte. Man ist nach diesen Ausführungen irritiert, im Anschluß zu lesen, daß der Begriff ›hier in einem eher metaphorischen Verständnis‹ verwendet werde, ›das explizit qualitative Aspekte aufweist‹ (S. 39).
Nach der einleitenden Klärung der Begriffe Urbanität und Dichte sowie einem Abschnitt über das Geschichtsverständnis im 20. Jahrhundert folgt nun die Besprechung der Fallbeispiele. Diese werden übersichtlich nach Thema – Großwohnblöcke (›Reformblöcke für das Wohnen‹), Plätze und Straßen, Hochhäuser, Wiederaufbau, Stadtreparatur – und Zeitabschnitt auf fünf Hauptkapitel verteilt. Innerhalb der thematischen Kapitel gruppiert Sonne geographisch. Seine Beispiele stammen aus Europa und Nordamerika. Schwerpunkte der Auswahl bilden Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.
In der Einleitung räumt Sonne ein, daß ›de[r] private Stadthausbau auf der Parzelle‹ (S. 12) in seiner Darstellung unterrepräsentiert ist. Sein Werk beschränkt sich überwiegend auf die Erörterung von städtebaulichen Großprojekten sowie zu ihrer Zeit einflußreichen Veröffentlichungen. Die Ausklammerung der Parzelle erscheint mithin als der blinde Fleck des Buches. Sonnes Augenmerk liegt auf dem öffentlichen Außenraum, der durch die Bebauung konstituiert wird. Der private Außenraum innerhalb der Parzellengrenzen bleibt in seiner Betrachtung außen vor – obwohl er beispielsweise über Dieter Hoffmann-Axthelm schreibt: ›Sein Beitrag […] liegt in der Betonung der Rolle der rechtlichen Grundlagen von Urbanität und insbesondere der Rolle der Parzelle im Städtebau‹ (S. 34). Zugleich aber verkennt Sonne, daß die von ihm selbst anvisierte Stadtgestalt – und mehr noch ›Urbanität und Dichte‹ – mit der Parzellierung in engster Verbindung stehen.
Damit unterschlägt er zugleich eine Tendenz, die der an Urbanität und Dichte dingfest gemachten städtebaulichen Kontinuität im 20. Jahrhundert entgegensteht: die Ausräumung der bislang parzellierten Blockinnenbereiche zugunsten gemeinschaftlicher Außenräume. Dies wird bereits in der ersten thematischen Gruppe, den ›Reformblöcke[n] für das Wohnen in der Großstadt 1890–1940‹ deutlich, besonders eindrücklich beim Hornbækhus in Kopenhagen (1922–1923, S. 84 f.). Die großen begrünten Innenhöfe der ›Reformblöcke‹ werden zwar fortwährend erwähnt, die drastischen Konsequenzen für die Parzellierung und den privaten Außenraum aber nicht weiter erläutert: Der Bewahrung eines traditionellen städtebaulichen Bildes der Vorderseite – geschlossene Baublöcke, welche den öffentlichen Außenraum definieren – steht das Desinteresse des 20. Jahrhunderts an der Parzelle, ja geradewegs die Negation der Parzelle als städtebaulichem Konstituens (Bodenbesitz) der früheren Jahrhunderte gegenüber. Davon gibt es nur wenige Ausnahmen, etwa den Wiederaufbau Münsters (S. 231–235).
Zahlreiche Beispiele des Buches belegen den damit einhergehenden typologischen Paradigmenwechsel: Die Möglichkeit einer allmählichen baulichen Verdichtung in die Tiefe der Parzelle wird durch Vorderhäuser mit freigeräumtem Hofbereich ersetzt. Diese Vorderhäuser werden bei Planungen aus einer Hand zu Quasi-Zeilenbauten zusammengefaßt; die städtebauliche Gewebebildung im Sinne des tessuto urbano (Saverio Muratori) wird aufgegeben. Verglichen mit der baulichen Dichte, Anpassungsfähigkeit, Nutzungsvielfalt und Lebendigkeit traditioneller innerstädtischer Baublöcke in den 1920er Jahren wirken die zeitgleichen ›Reformblöcke‹ noch heute kaum weniger antiurban und monofunktional als eine Siedlung in Zeilenbauweise.
Es enstand das moderne Paradoxon der abgewinkelten Zeile, die nur gerade die Figur des öffentlichen Raumes definiert, die Ausbildung eines Stadtgewebes aber genauso negiert, wie es der Siedlungsbau der Moderne tat. Das gilt in weiten Teilen selbst für Sonnes Hauptbeispiele, wie etwa den Wiederaufbau Le Havres (Auguste Perret et al., 1945 ff., Titelbild und S. 254–258). Auch bei diesem betont Sonne die städtebauliche Kontinuität, bei der die ›neue Stadt aus konventionellen städtebaulichen Elementen‹ (S. 255) bestehe. Bei der Aufzählung dieser Elemente bleibt die Parzelle außen vor, und der radikale Bruch wird nur am Rande erwähnt: ›zur Errichtung ganzer Blöcke durch einen Architekten hatte eine generelle Umlegung des Grundbesitzes stattgefunden; auch waren die einzelnen Besitzer in großen Kooperativen als Bauherren gebündelt‹ (S. 255).
Eine hybride Städtebauvorstellung wird sichtbar: Die abgewinkelte Zeile erlaubt es, nach vorn einen traditionell erscheinenden öffentlichen Außenraum zu realisieren, während das gemeinschaftliche Blockinnere den Idealen der Moderne folgt, wo Nutzungsmischung und soziale Vielfalt zugunsten hygienischer Bestrebungen (›Licht, Luft und Sonne‹) aufgegeben oder zumindest stark reduziert werden. Dabei erfolgt eine Angleichung von Straßen- und Hofseite, von öffentlichem und privatem (gemeinschaftlichem) Außenraum, analog dem Zeilenbau. Hat man dies einmal erkannt, erscheint ein beträchtlicher Teil der von Sonne vorgetragenen Fallbeispiele als ein Städtebau mit abgewinkelten Zeilenbauten; der Bautyp des antiurbanen Siedlungsbaus der Moderne wurde für traditionelle städtebauliche Vorstellungen adaptiert.
Das Buch belegt nolens volens, daß der Zeilenbau und mit ihm der freigeräumte Hofbereich ein das ganze 20. Jahrhundert über wirkendes Ideal war, selbst im ›konventionelle[n] und traditionalistische[n] Wiederaufbau‹ (Kapitel V) und bis in die Gegenwart hinein. Der Wiederaufbauplan Hermann Leitenstorfers für die Münchner Innenstadt (1947, S. 228 f.) ist eine der wenigen Ausnahmen; aber auch hier erfährt der Leser nicht, inwieweit dieser auf die Parzellierung Rücksicht nimmt. Das Buch führt folglich bei aller behaupteten Kontinuität vor Augen, daß eben doch ein Bruch in der städtebaulichen Tradition eingetreten war, der gleichermaßen die CIAM-Moderne und Sonnes andere Moderne betrifft, sich im Innern der Baublöcke ablesen läßt und auf der Ebene von Besitzverhältnissen und Bodenrecht diskutiert werden müßte. Sonne aber geht es um Stadtgestaltung, um die Erscheinung des öffentlichen Außenraumes, nicht so sehr um die zugrundeliegenden Entstehungsbedingungen.
Aus didaktischer Sicht wäre eine Reduktion der immensen Zahl von Fallbeispielen, die oft nur erwähnt werden, zugunsten der vertiefenden Analyse exemplarischer Planungen wünschenswert gewesen. Wie verträgt sich beispielsweise der ›Aspekt des kulturell verfeinerten Stadtlebens‹ (S. 13), dem Sonne besondere Bedeutung beimißt, mit den angeführten Beispielen sozialer Großsiedlungen (H. P. Berlage, Mercatorplein Amsterdam, 1924–1927, S. 82 f., insb. Abb. 32)? Sonnes eigener Anspruch wird nicht von allen seinen Fallbeispielen erfüllt. Zu allgemein ist die thematische Gruppierung, zu unkritisch die Analyse, die ohnehin allzu oft dem Leser überlassen bleibt. Auch eine Bibliographie, die nicht in den Anmerkungen versteckt ist, wäre von Gewinn.
Dennoch: Während die Städtebaugeschichte an vielen Hochschulen weiterhin nur am Rande der Ausbildung von Architekten und Stadtplanern existiert und weit davon entfernt ist, integrale Entwurfsgrundlage zu werden, intendiert Sonne den Nutzen städtebauhistorischer Kenntnis für die Planungsaufgaben der Gegenwart. Und darin dürfte wohl auch der größte Gewinn des Buches liegen: in der anschaulichen Zusammenstellung vielfältiger, teils wenig bekannter oder vergessener Fallbeispiele, die beim Leser die zunehmende Gewißheit entstehen lassen, daß es im städtebaulichen Entwurf viele Wahlmöglichkeiten gibt. Das reflektierte Auswählen-Können geeigneter Konzepte sollte in Studium und Praxis stärker geübt werden. Voraussetzung dafür ist ein breites Repertoire an Ideen, Konzeptionen und Möglichkeiten aus der bis in die Gegenwart reichenden Städtebaugeschichte. Wolfgang Sonne liefert dazu einen wesentlichen Beitrag.
Sonne, Wolfgang: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, DOM publishers 2014
ISBN-13: 978-3-86922-321-6, 360 S., EUR 98,00, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Tom Steinert: [Rezension zu:] Sonne, Wolfgang: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts, 2014. In: ArtHist.net, 18.05.2015. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/10338>.
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