REV 06.11.2017

Celia Krause, Ruth Reiche: Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel?

Rezensiert von Georg Schelbert, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Das Verhältnis zwischen der visuellen Welt und dem Digitalen birgt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Wenn das Digitale das Zählbare, Diskrete, also in Einheiten zerlegbare ist, dann vertritt das Bild das Analoge und Kontinuierliche, und konstituiert sich, indem es nicht per se teilbar ist, seine Elemente nicht eindeutig benennbar sind, sondern vielmehr – man denke als Beispiel an die Fläche eines Gemäldes – als beliebig und nahezu endlos teilbar gedacht werden können.

Das Visuelle im Allgemeinen und Bildlichkeit im Besonderen spielen eine zentrale und zugleich eigene Rolle in der gesamten Kulturgeschichte und nicht zuletzt auch in unserer aktuellen Kultur- und Wissenschaftspraxis. Auch den Bereich der soeben als zahlenbasiert charakterisierten Welt der Computeranwendung hat das Bild seit rund 20 Jahren mit graphischen Benutzeroberflächen und immer umfänglicherer Kommunikation durch Diagramme und Bilder anstelle von Texten erobert. Gleichwohl hat der Umgang mit Bildern innerhalb der Digital Humanities – im Sinne der Anwendung digitaler Methoden innerhalb aller Geisteswissenschaften – immer noch nicht den entsprechenden Stellenwert erreicht. Ein grundlegender Anspruch, die Rolle des Bildes innerhalb der Digital Humanities darzustellen, macht sich in der Publikation von Krause/Reiche durchaus bemerkbar, ohne ihn aber, soviel sei gleich gesagt, einlösen zu können.

Das Buch basiert auf einem identisch betitelten Text, der 2014 in der Zeitschrift „Kunstgeschichte – open peer reviewed journal“ erschien.[1] Gegenüber der Aufsatzform wurde der Text um einige kurze Kapitel erweitert und manche Formulierungen entschiedener gewählt. Im Mai 2016 erschien eine Taschenbuchausgabe.

Verdienstvoll und notwendig für die Diskussion des Themas sind die einleitenden knapp und klar gehaltenen Feststellungen zu den Charakteristika von Digitalen Bildern (Kapitel 1-4). Hierzu gehört die Feststellung, dass Bilder im Unterschied zu Texten nicht als segmentierbare Zeichensysteme aufgefasst werden können, ebenso wie der Hinweis auf den Unterschied zwischen Bildern und den sie abbildenden Objekten und die beim digitalen Bild grundlegende Trennung zwischen den Bilddaten und der Erzeugung eines wahrnehmbaren Bildes auf einem Monitor. Letztlich wird aber doch eine zu direkte Parallele von Bildern und Texten gesehen (S. 23). Die – hier nicht referierte – bildwissenschaftliche Theorie der vergangenen Jahre, insbesondere vertreten durch Boehm, Belting und Bredekamp, hat sich gerade gegen eine solche „semiotische“ Lesart gewandt. Zwar haben auch Bilder – ähnlich wie Architektur – eine Syntax und eine Grammatik, jedoch nicht im gleichen Sinn wie Texte. Umgekehrt werden in der gesamten Einleitung die für eine kunst- und bildgeschichtliche Perspektive höchst relevanten Fragestellungen der Rolle der Abbildhaftigkeit von Bildern oder der Semantik von Form und Stil kaum gestreift. Der erstere Aspekt, die Frage der Abbildung, die freilich auch in der aktuellen Bildwissenschaft selbst zurückgedrängt wird, spielt jedoch beim tatsächlichen Einsatz von Digitalbildern in der kunsthistorischen und archäologischen Praxis eine zentrale Rolle, insofern als es sich zumeist um digitale Repräsentationen von materiellen Artefakten aller Gattungen handelt, in den seltensten Fällen hingegen um genuin digitale Kunstwerke.

Systematische theoretische Überlegungen sind jedoch nicht das Anliegen dieses Buches, sondern eher eine Heranführung an das Phänomen des digitalen Bildes anhand von einzelnen, „Use Cases“ genannten Praxisbeispielen, bei denen die Autorinnen oder andere mit Hilfe des Computers Hand an Bilder gelegt haben. Auf diesem Weg werden Eigenschaften und Potenziale digitaler Bilder stets gut nachvollziehbar, manchmal jedoch schon zu stark vereinfacht dargestellt. So etwa im Fall der Bilder von Urs Wehrli, dessen halb scherzhafter Ansatz, Bilder anderer Künstler in einzelne Elemente zu „zerlegen“ und diese „aufzuräumen“ – also eine klare kognitive Definitionsleistung zu treffen –, dem unterscheidungslosen ‚Sehen‘ des Computers gegenübergestellt wird, das sowohl dem Original als auch dem Wehrlischen Derivat (fast) die gleichen Tonwertkurven attestiert und somit zunächst einmal – ganz zutreffend – als künstlerischen Positionen gegenüber völlig unempfindlich charakterisiert wird (Kap. 5).

Das umfangreichste und am weitesten differenzierte Kapitel ist der „Visualisierung als zentrale(r) Methode in den Digital Humanities“ gewidmet (Kap. 6). Es wäre aber gerade im Kontext der Bild- und Objektwissenschaften erst einmal zu zeigen, welche Berechtigung die in der Kapitelüberschrift enthaltene Behauptung des zentralen Status besitzt. Für die bildbezogenen Fächer ist der übliche Einsatz von Visualisierungen zunächst insofern fragwürdig, als sie Bilder keineswegs direkt auf der Basis von visuell-materiellen Artefakten erzeugen, sondern dies auf der Basis von Text oder numerischen Daten tun. Das Kapitel, das wesentlich der Publikation von Schumann/Müller folgt, [2] verankert das Phänomen der Visualisierung in einem allgemeinen wissenschaftshistorischen Kontext seit der frühen Neuzeit, aus dem sich der Einsatz von Karten und Diagrammen bis hin zu dynamischen, multiperspektivischen Visualisierungsmöglichkeiten mit dem Computer entwickelt. Die im bildwissenschaftlichen Kontext grundlegende Frage, ob und inwieweit Diagramm, Karte und Bild in Verbindung stehen, wird dabei jedoch wenig reflektiert.

Stattdessen schließt sich die Frage nach dem Nutzen der Visualisierungen an. Hier wird man mit durchaus interessanten, jedoch zu wenig erläuterten und diskutierten Typologien konfrontiert, etwa der Unterscheidung zwischen der „scientific visualisation“, die sich eher der konkreten Repräsentation, z.B. in 3D-Modellen von Molekülen widme und der „information visualisation“, die sich die Darstellung stärker abstrahierter, nicht räumlich-bildlicher Daten, etwa aus sozialen Netzwerken, zur Aufgabe gemacht habe. Gerade an dieser Stelle wären weitere bildbezogene Überlegungen interessant gewesen, etwa bei konkreten, raumbezogenen Visualisierungen (also 3D-Modellen oder Bildern davon) im Hinblick auf das Verhältnis von zugrundeliegenden Daten und dem daraus entstehenden visuell rezipierbaren Resultat. Die Autorinnen unterstreichen immerhin die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit diagrammatischen Visualisierungen, die notwendig sei, um dem „Lügenfaktor“ (Lie factor, E. Tufte) auf die Schliche zu kommen, der sich bei diesen fast zwangsläufig einstelle (S. 55).

Innerhalb des Visualisierungsthemas spezifisch für die Kunst- und Bildwissenschaften wird es beim Abschnitt der „Potenziale der Visualisierung von Bilddaten“ (Kap. 6.5), da es sich hier beim Ausgangsmaterial nicht um Zahlenwerte, sondern um Bilder handelt. Anhand von vier Use-Cases, die sich einerseits mit filmischen Arbeiten von Ejia-Liisa Ahtila und andererseits mit Handschriften der Trierer Stadtbibliothek [3] beschäftigen, werden Möglichkeiten des „distant reading“ im Bildbereich anschaulich dargestellt, die von einer miniaturisierten Überblicksschau bis zu einer farbbasierten diagrammatischen Visualisierung reichen (Kap. 7). Freilich fragt sich vor allem bei den von Lev Manovich angeregten Operationen der Miniaturisierung, wie sie bei den Trierer Handschriften angewendet wurden, worin genau der methodologische Sprung besteht: Bereits wer eine große Gemäldegalerie mit Salonhängung betritt oder einen Bildband schnell durchsieht, vollzieht im Grund die Operation des visuellen Überblickens einer mehr oder weniger großen Bildermenge. Es hätte hier noch mehr herausgearbeitet werden können, wie sich Arbeitsvorgänge dadurch verändern, dass der Computer bspw. Anordnungen aufgrund von Farbwerten oder anderen Merkmalen trifft. Leichter als die Darlegung einer solchen epistemologischen Ebene fiel den Verfasserinnen der Sprung zur einem kurzen, „Data driven Art“ gewidmeten Abschnitt (Kap. 8) – also zu dem Umstand, dass Visualisierungen aus Daten immer auch einen Akt der Erzeugung visueller Artefakte darstellen, wie etwa im Fall der gestreiften Umschlagbilder von Ulrike Brockmann, die aus fotografischen Porträts der Verfasserinnen errechnet wurden.

Unter der Überschrift „Potenziale digitaler Methoden und Verfahren für die Bild- und Objektwissenschaften“ geht der Text zur methodologischen Auswertung über (Kap. 9). Grundsätzlich erscheint es richtig, hier zwei Hauptbereiche zu unterscheiden: Erfassung und Erschließung auf der einen Seite und Analyse und Auswertung auf der anderen. Aber während für ersteres eher einfache, der Textauszeichnung ähnliche Verfahren – einmal die Verwendung einer gegebenen Klassifikation (Iconclass), einmal freies Verschlagworten im Crowd Sourcing-Verfahren (ARTigo)[4] – genannt werden, führen die Autorinnen für die Analyse Projektbeispiele an (u.a. „What makes Paris look like Paris“[5]), die nicht nur komplexes Datenmaterial für ihre Analysen benötigen, sondern eher (wie insbesondere „Inschriften im Bezugssystem des Raumes“[6] und andere genannte Projektbeispiele) als Erfassungs- und Erschließungsprojekte anzusprechen sind, indem sie Objekte digital beschreiben und in ihrer räumlichen Komplexität abzubilden versuchen. Die folgerichtige und methodologisch wichtige Feststellung, dass Datenerhebung und Datenanalyse als Teile eines wechselseitigen oder gar zyklischen Prozesses aufzufassen sind, wird jedoch nicht systematisch ausgeführt (S. 101–102).

Auch gelingt es im folgenden, teils geradezu lakonisch knapp formulierten Kapitel „Bildbezogene Wissenschaften als Digital Humanities“ (Kap. 10) kaum, deutlich zu machen, wie die Rolle einer Kunstgeschichte innerhalb der Digital Humanities aussehen könnte (S. 104). Auch die später folgenden „Empfehlungen für eine Digitale Bild- und Objektwissenschaft“ präsentieren sich als eine Reihung von Arbeitsfeldern und -techniken, die nur bedingt fachspezifisch sind (etwa: Digitale Forschungsinfrastrukturen, Kollaboratives Arbeiten, Online-Publizieren), was immerhin als Hinweis gelesen werden könnte, dass das Thema nicht vom Kontext der Digital Humanities isoliert werden kann. Bemerkenswert ist, dass die Archäologie zugleich als Sonderfall abgesetzt wird (S. 105–106), der sich dadurch auszeichne, dass dort digitale Bildbestände und digitale räumliche Rekonstruktionen weniger als Daten, denn als Anschauungsmaterial betrachtet würden. Doch weder ist es gerechtfertigt, anhand der Disziplinen „Kunstgeschichte“ und „Archäologie“ eine Trennlinie zwischen „Bild“ und „Objekt“ zu ziehen, noch gibt es einen Grund zur Annahme, dass digitale Bilder eher als analysierbare Forschungsdaten angesehen würden als andere digitale Repräsentationen von Objekten.

Trotz des sehr überschaubaren Textumfangs und der Beschränkung auf eher disparate und spielerisch zu verstehende Beispiele bleibt die Publikation – ähnlich wie die in der gleichen Reihe erschienene „Digitale Bildwissenschaft“ von Hubertus Kohle [7] – noch immer einer der wenigen Versuche zur Darstellung der Anwendung digitaler Methoden in der Kunstgeschichte und verwandten Fächern. Für den immer wieder aufscheinenden Anspruch einer grundsätzlichen Bearbeitung des Feldes digitaler Bild- und Objektwissenschaften fehlen aber nicht nur die bildwissenschaftliche und informationstheoretische Tiefe der Analyse, sondern vor allem auch die Darlegung, wie sich die vorgestellten Fallbeispiele in einen Gesamtkontext bild- und objektbezogenen Forschens einordnen könnten. Der Bedeutung des digitalen Formats gegenüber früheren Formen von Bildlichkeit wird man wohl erst gerecht, wenn man seine potenzielle Omnipräsenz und seine Anschlussfähigkeit an die globalen digitalen Wissensbestände mit einbezieht. Diese Dimensionen lassen sich z.B. an aktuellen Standards, wie dem International Image Interoperability Framework (IIIF) ablesen[8], das digitale Bilder, in wachsendem Maß adressierbar, vergleichbar und annotierbar macht, oder daran, dass die immer weiter voranschreitende Verwendung von Normdaten Bilder mit einem universellen, immer dichter werdenden semantischen Netz umgibt.

Das Thema des „Digitalen Bildes“ hält noch viele Herausforderungen bereit, die nicht zuletzt darin bestehen, dass die beteiligten Disziplinen – u.a. Bildwissenschaft, Kunstgeschichte und Digital Humanities – sich aus teils gegensätzlichen Positionen aufeinander zubewegen müssten. Ein einschlägiges DFG Schwerpunktprogramm könnte hierzu vielleicht die Voraussetzungen schaffen. [9]

[1] Krause, Celia und Reiche, Ruth: Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel? Über den Einsatz digitaler Methoden in den Bild- und Objektwissenschaften. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 30 Jan. 2014 (urn:nbn:de:bvb:355-kuge-354-6) (25.10.2017)
[2] Schumann, Heidrun; Müller, Wolfgang: Visualisierung. Grundlagen und allgemeine Methoden. Berlin/Heidelberg 2000
[3] Auf der Basis von Digitalisaten, die im Rahmen des Projekts Virtuelles Skriptorium St. Matthias erstellt wurden (http://stmatthias.uni-trier.de/, 25.10.2017)
[4] https://www.artigo.org (25.10.2017)
[5] http://graphics.cs.cmu.edu/projects/whatMakesParis/ (25.10.2017)
[6] http://www.spatialhumanities.de (25.10.2017)
[7] Kohle, Hubertus: Digitale Bildwissenschaft, Glückstadt 2013 (Online-Version: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2013/2185, 25.10.2017).
[8] http://iiif.io/ (25.10.2017)
[9] Vgl. Entwurf und Ausschreibung durch das Institut für Kunstgeschichte der LMU München: http://www.kunstgeschichte.uni-muenchen.de/forschung/digitalekg/digitales-bild1/index.html (25.10.2017).

Krause, Celia; Reiche, Ruth: Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel? Digitale Forschungsansätze in den Bild- und Objektwissenschaften, Verlag Werner Hülsbusch 2015
ISBN-13: 978-3-86488-076-6, 134 S., EUR 19,80

Empfohlene Zitation:
Georg Schelbert: [Rezension zu:] Krause, Celia; Reiche, Ruth: Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel? Digitale Forschungsansätze in den Bild- und Objektwissenschaften, 2015. In: ArtHist.net, 06.11.2017. Letzter Zugriff 21.11.2024. <https://arthist.net/reviews/10123>.

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