Engagierte Kunstgeschichte.
Verantwortung, Handlungsspielräume und Relevanz eines Fachs in Zeiten multipler Krisen.
In einer Zeit gesellschaftlicher, politischer und ökologischer Eskalationen stellt sich die Frage nach der Verantwortung der Geisteswissenschaften mit neuer Dringlichkeit. Als reflexionsorientierte Fächer haben sie das Potenzial, Entwicklungen zu erkennen, zu benennen, sie einzuordnen, zu deuten und darüber hinauszudenken. Sie können interdisziplinäre, aber auch inner- und intergesellschaftliche Brücken bauen, Kultur und Menschlichkeit als gesellschaftliche Kraft stärken und dazu beitragen, nachhaltige Zukunftsmodelle zu entwerfen. Diese Wirkmacht der Geisteswissenschaften als einordnendes Korrektiv zu den technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen industrieller und postindustrieller Gesellschaften wurde auch in der Vergangenheit immer wieder nachdrücklich hervorgehoben.
Dennoch sehen sich Forschende in der Kunstgeschichte und in benachbarten Fächern schon lange und mit immer drängenderer Aktualität mit einer schon in den 1970er-Jahren ausgerufenen „Krise der Geisteswissenschaften“ konfrontiert (z. B. Deutscher Bundestag, 2006). So konstatierte ein Gastbeitrag in der FAZ beispielsweise Anfang dieses Jahres einen bedenklichen Rückgang der Einschreibungen in geisteswissenschaftliche Studiengänge („Plötzlich vermeidlich?“, FAZ, 02/2025). Angesichts drastischer Sparzwänge sind Fachgebiete und ganze Fakultäten von Streichungen bedroht („Die Senatorin will die Geisteswissenschaften streichen“, FAZ 02/2025; „Hochschul-Präsidentin ‚äußerst irritiert‘“, FAZ 02/2025). Die aktuelle Logik der Wirtschaftlichkeit von Bildung an Universitäten setzt die Geisteswissenschaften unter Rechtfertigungsdruck.
Wenn sich dieser Workshop nun dem Thema einer engagierten Kunstgeschichte widmet, geschieht das allerdings nicht primär als eine Reaktion auf einen von außen angetragenen Legitimationszwang. Vielmehr möchten wir mit dieser Selbstreflexion die Potenziale des Fachs Kunstgeschichte und seine Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Probleme im Sinne eines geisteswissenschaftlichen „Empowerments“ in den Mittelpunkt stellen und die Selbstverständlichkeit betonen, mit der dieses Thema die Arbeit vieler Kolleg:innen prägt. Dafür laden wir zu einem offenen Austausch über die Möglichkeiten, Perspektiven und Herausforderungen eines gesellschaftlich engagierten kunsthistorischen Arbeitens ein.
Zur Diskussion stehen u. a. folgende Fragen: Worin liegt die gesellschaftliche Relevanz der Kunstgeschichte? In welcher Form kann und soll sich das Fach in gesellschaftliche und politische Themen einbringen, ohne die Grenzen zum Aktivismus zu überschreiten? Inwiefern sollen und dürfen Krisen die Ausrichtung geisteswissenschaftlicher Forschungsfragen leiten? Wie können wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung innerhalb unseres Fachs gerecht werden? Und welche Inhalte und Methoden der Kunstgeschichte bergen ein gesellschaftliches Transformationspotenzial? Dabei soll der Blick auch auf historische Krisensituationen und die durch sie hervorgerufenen kunsthistorischen Entgegnungen gelenkt werden: Wann und in welcher Form hat die Kunstgeschichte in der Vergangenheit auf Krisen reagiert? Wann waren Kunsthistoriker:innen schon früher einmal „engagiert“?
Unser Workshop, der sich insbesondere auch an die akademisch jüngeren Generationen richtet, setzt sich zum Ziel, auf bereits bestehenden Initiativen aufzubauen, einen offenen, kollegialen Austausch über die gesellschaftliche Relevanz und Verantwortung der Kunstgeschichte im deutschsprachigen Raum zu befördern und systematisch zusammenzufassen.
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Programm
Donnerstag, 15. Januar 2026
09:00 – 09:30 Begrüßung und Einführung
Prof. Dr. Bénédicte Savoy & Prof. Dr. Isabelle Dolezalek
09:30 – 11:00 THEMA 1 Erinnern & Ordnen
Moderation: Dr. Stefanie Lenk, Göttingen.
- Suelen Calonga, M.A., Berlin.
Art History Otherwise: Asking Why as Critical Praxis.
- Dr. Constanze Fritzsch, Florenz.
Ringen um die Kunstgeschichte der DDR.
- Prof. Dr. Lynn Rother, Lüneburg.
Katalogisieren als Machtpraxis – Kunstgeschichte zwischen epistemischer Gewalt und Gerechtigkeit
11:00 – 11:15 Kaffee
11:15 – 12:00 THEMA 2 Benennen
Moderation: Prof. Dr. Bénédicte Savoy, Berlin.
- Dr. Lukas Fuchsgruber, Berlin.
Kritik im Datenraum. Graph-Theorie für eine digitale kritische Museologie
12:00 – 13:30 Mittagspause
13:30 – 15:30 THEMA 2 Betrachten
Moderation: Charlotte Wenke, M.A., Greifswald/Berlin.
- Dr. Katharina Jörder, Berlin.
Für ein Verständnis der Kunstgeschichte als Training in Ambiguitätstoleranz
- Prof. Dr. Eva Kuhn, Berlin.
Sichtbarkeit durch Zuwendung. Maintenance (Art) Work und die Arbeit am eigenen Bild.
- Seda Pesen, M.A., Wien.
Der Blick als politische Praxis: Gabriele Sprigaths „Bildergespräche“
- Johanna Wurz, M.A., Kassel.
Exotismen im polarisierten Diskurs – Die Kunstgeschichte als Türöffner im Streit um Deutungsmacht am Beispiel des Staffagedorfs Mulang.
15:30 – 15:45 Kaffee
15:45 – 17:45 THEMA 3 Entgegnen
Moderation: Dr. Iñigo Salto Santamaría, Berlin.
- Dr. Sarah Hegenbart und Kaj Osteroth, München/Berlin.
Kunstgeschichte als dialogische Praxis: Diskursivität und Ambiguitätstoleranz als Beitrag der Kunstgeschichte im Zeitalter der „Krise“ der Demokratie
- Clara Heggemann, Jelka Schäfer, Wim Zimmermann, Bochum.
Kunstgeschichte und Neue Rechte
- Prof. Dr. Christian Fuhrmeister, München.
Wie wirksam ist Systemskepsis, wie hilflos Systemvertrauen?
- Prof. Dr. Christina Strunck, Erlangen–Nürnberg.
Engagierte Lehre: Kritik totalitärer Tendenzen
17:45 – 18:30
Poster-Rundgang
18:30 Uhr Abendvortrag
Prof. Dr. Laura M. Holzman, Indianapolis (USA).
The Democratizing Potential of Engaged Art History: Methods and Challenges from an American Perspective
Freitag, 16. Januar 2026
09:30 – 11:00 THEMA 4 Positionieren
Moderation: Dieu Ly Hoang, M.A., Berlin.
- Dr. Alessa K. Paluch, Greifswald.
Aktivistische Kunstgeschichte – Widerständige Kunstgeschichte?
- Dr. Barbara Preisig, Zürich.
Stimmen im Dialog. Polyphones Schreiben in der Kunstgeschichte.
- Anna-Jo Weier, M.A., Berlin.
Zwischen Forschung und Engagement: Zur Verantwortung der Provenienzforschung angesichts rechter Kulturpolitik
11:00 – 11:15 Kaffee
11:15 – 12:00 THEMA 5 Ausstellen
Moderation: Prof. Dr. Isabelle Dolezalek, Berlin.
- Dr. María López-Fanjul y Díez del Corral, Berlin/Oviedo.
Wissenschaft im Dialog: Kunstgeschichte als öffentliches Engagement im Museum
12:00 – 13:30 Mittagspause
13:30 – 14:30 Zukunft einer Engagierten Kunstgeschichte
Diskussionstische und respons*able drawing-Session
mit Dr. Sarah Hegenbart und Kaj Osteroth
14:45 – 15:30 Abschluss
Wir bitten um Anmeldungen für die Teilnahme bis zum 31.12.2025:
AnmeldungEKkuk.tu-berlin.de
Reference:
CONF: Engagierte Kunstgeschichte (Berlin, 15-16 Jan 26). In: ArtHist.net, Nov 13, 2025 (accessed Nov 14, 2025), <https://arthist.net/archive/51134>.