Die „Emanzipation“ eines Stoffes? Das Alte Testament als Bildthema in der Frühen Neuzeit.
Waren alttestamentliche Bildthemen in der christlichen Kunst des Mittelalters üblicherweise in typologische Bezugssysteme eingebettet, treten sie ab dem 16. Jahrhundert vermehrt eigenständig auf. Immer häufiger kommen sie unabhängig von Gegenüberstellungen mit neutestamentlichen Themen oder Verweisen auf die Heilsgeschichte zur Darstellung. Pionierartige Zyklen wie Raphaels Ausmalung der Vatikanischen Loggien und die alttestamentlichen Serien Lucas van Leydens hatten mit Blick auf den Umfang alttestamentlicher Episoden kein ikonographisches Vorbild. Das Interesse der Künstler:innen galt nun weniger der theologischen Bedeutung als vielmehr den Geschichten selbst: Die Betonung des Erzählerischen rückt die heroisch in Szene gesetzten Protagonist:innen samt ihrer Heldentaten in den Vordergrund. Diese umfassende künstlerische Neueinschätzung öffnete das Sujet für andersartige Kontextualisierungen: Politische oder gesellschaftliche Gegenwartsbezüge, persönliche oder soziale Identifikationen sowie transreligiöse Bezüge treten in Erscheinung. Die Tagung hat zum Ziel, die Impulsgeber und die genauen künstlerischen Ausprägungen dieses vorläufig als „Emanzipation“ bezeichneten rezeptionsgeschichtlichen Wandels in den Blick zu nehmen.
Einen zentralen Impuls zu einer veränderten Rezeption gaben zweifelsohne die sich mit dem Buchdruck rasch etablierenden illustrierten Bibeln. Mit ihrer umfangreichen druckgraphischen Bebilderung entstanden Sammlungen potentiell darstellungswürdiger Episoden, die Künstler:innen als Ideengeber oder konkrete Vorlagen für ihre Konzeptionen komplexer Bildzyklen verwenden konnten. So ist Michelangelos Verwendung der in Venedig gedruckten Malermi-Bibel für einen Teil der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle nachgewiesen. Die nun in zahlreichen Sprachen verbreiteten Bibelausgaben ermöglichten es den Künstler:innen darüberhinaus, die biblischen Geschichten selbst zu lesen und eine individuelle Auffassung der alttestamentlichen Themen zu entwickeln. Trotz dieser Zusammenhänge wurde bislang wenig erforscht, inwieweit Bibelillustrationen als Inspirationsquellen oder konkrete Vorlagen fungierten und ihre langen Bilderstrecken neue Erzählweisen der alttestamentlichen Stoffe in der Malerei anregten. Zu beobachten ist, dass vor allem Episoden zur Darstellung kamen, denen besonderes erzählerisches Potential zukommt. Dreh- und Angelpunkte der Handlung oder besonders dramatische Momente wurden ausgewählt, um eigenständige, zusammenhängende Erzählstränge zu bilden. Die Geschichten des Alten Testamentes wurden in ihrem erzählerischen Selbstwert begriffen und das Schicksal ihrer Figuren ohne offensichtlichen Deutungsanschluss an das Neue Testament erzählt. Diese sich von der Typologie emanzipierende Rezeption ermöglichte eine gesteigerte Autonomie alttestamentlicher Bildthemen, die durch die spätbarocke Pendantbildung, die ein freies Kombinieren von Bildthemen erlaubte, ein erneutes Gegengewicht bekam. Vor dem Hintergrund dieser rezeptionsgeschichtlichen Verschiebungen ist es ein Anliegen der Tagung, die Bedeutung der weit verbreiteten Bibelillustrationen und druckgraphischen Reihen zum Alten Testament als Inspirationsquellen oder konkrete Vorlagen bei der Konzipierung von Bildprogrammen zu konturieren: Gibt es Werke, deren Zyklen in der monumentalen Malerei besonders intensiv reflektiert wurden? Und inwieweit erzeugten diese Bilderserien neue Erzählweisen der alttestamentlichen Stoffe? Führten frühneuzeitliche Bibelübersetzungen und die vermehrte Auslegung der biblischen Texte durch Laien auch zu einer größeren Autonomie ihrer Rezeption in der Kunst? Wie verhält sich der Rückgriff auf traditionelle Reihenbildungen und Kanones gegenüber neuartigen, möglicherweise nur im Einzelfall in Erscheinung tretenden Kombinationen von Bildthemen?
Der vorläufig als „Emanzipation“ bezeichnete rezeptionsgeschichtliche Wandel von der typologisch verstandenen Einzelszene hin zu einem zyklisch-erzählerischen Verständnis des Stoffes ist eng an die historischen Bedingungen der christlichen Kunst gebunden. Da Geschichten und Figuren des Alten Testamentes auch im Judentum und im Islam gleichermaßen von großer Bedeutung sind, ist danach zu fragen, ob sich in nicht-christlichen Darstellungen ähnliche rezeptionsgeschichtliche Brüche, Perspektivwechsel oder Loslösungen von rein theologischen Auffassungen beobachten lassen? Daneben sind es der in den Religionen jeweils unterschiedliche Status der biblischen Texte und die jeweils unterschiedlich verlaufende Kanonbildung, welche ihren Niederschlag in den genauen ikonographischen Ausprägungen oder in der Auswahl der Episoden finden. Trotz Differenzen in Exegese und den genauen Textgrundlagen teilen die Religionen bestimmte Bedeutungsfelder, daher legt die Tagung den Fokus auf Momente des transreligiösen Austausches und auf Möglichkeiten, diese als konkrete Kontaktzonen einzugrenzen: Können sie als Impulsgeber neuer Kontextualisierungen alttestamentlicher Darstellungen ausgemacht werden? Mit welchen Ansprüchen wurde dabei der gemeinsame religiöse Stoff verhandelt? Geschah transreligiöser Austausch als indifferente kulturelle Aneignung oder werden religionsspezifische Kategorisierungen deutlich? Wurden bestimmte alttestamentliche Themen mit einer der Religionen assoziiert? Galten die alttestamentlichen Geschichten aufgrund ihres Ursprungs in den älteren Textversionen des Tanach den Nicht-Juden als besonders „jüdisch“? Inwieweit boten sie Gelegenheit, um auf Konzepte wie Hebraica Veritas oder Ad fontes! zu verweisen oder dienten sie vielmehr zur Inszenierung antijudaistischer Motive?
Der intellektuelle Austausch zwischen theologischen Gelehrten oder die soziale Teilhabe an religiösen Riten stehen als Impulsgeber für die Migration von Elementen aus nicht-biblischen Quellen (Legenden, Kommentarwerke, Brauchtum) ebenfalls im Zentrum – genauso wie die mit der Verbreitung von Kunstwerken verbundene Migration darstellerischer Konzepte. Besonderen Aufschluss versprechen Konstellationen, in denen ein direkter Kontakt zwischen theologischen Gelehrten und Künstler:innen nachgewiesen werden kann, erstere möglicherweise sogar eine beratende Funktion bei der Planung von Bildprogrammen übernahmen. Außerdem interessieren Konstellationen, in denen Künstler:innen unterschiedlicher Konfessionen miteinander kollaborierten.
Jenseits des Aufbrechens theologischer Kategorien schlug sich der rezeptionsgeschichtliche Wandel in der Konstruktion gegenwartsbezogener Identifikationen nieder. Alttestamentliche Episoden, die historisch ferne, martialische Taten oder politisch brisante Momente zum Thema hatten, wurden zu in die Gegenwart übertragbaren Modellen, deren Darstellungen politisch-gesellschaftlich relevante Repräsentations- oder Kommentarfunktionen übernahmen. Die Identifizierung mit einzelnen Figuren verkündete den Anspruch auf deren moralische Qualitäten und die Vergleichbarkeit mit ihren heroischen Leistungen. Konnte die Visualisierung alttestamentlicher Episoden neben Herrschertugenden, politischen oder sogar militärischen Fähigkeiten auch genealogische Ansprüche, zum Beispiel eine Identifizierung mit dem israelitischen Volk, formulieren, oder Gründungsmythen konsolidieren, zum Beispiel nach dem Vorbild des Auszugs aus Ägypten? Wie weit reichte die Bandbreite ihrer repräsentativen Funktion und inwieweit reflektieren künstlerische Darstellungen eine präzise Charakterisierung, möglicherweise sogar eine Psychologisierung, der Held:innen? Wählte man Episoden und Figuren aus traditionsreichen Kanones oder treten auch überraschende, persönlich-biographisch eingefärbte Aneignungen zu tage? Neben personenbezogenen Identifikationen fokussiert die Tagung auch auf Strategien, alttestamentliche Held:innen mit bestimmten Orten zu verbinden. Auf welche Weise werden die Figuren mit lokalen, aktuell-politischen Verhältnissen und mit der Geschichte eines Ortes verknüpft? Waren alttestamentliche Darstellungen in Stadträumen sichtbar oder für Privaträume bestimmt und in welchen künstlerischen Medien erscheinen sie? Unterscheidet sich ihre inhaltliche Kontextualisierung je nach Darstellungsort und Adressat:innen? Außerdem bleibt die Frage zu erörtern, ob die vielgestaltige Aufladung mit neuen, gegenwartsbezogenen Bedeutungen als ausschließlich frühneuzeitliche „Emanzipation“ des Stoffes zu klassifizieren ist oder auch diachron verlaufende Dynamiken zu berücksichtigen sind, wie zum Beispiel durch die mittelalterliche Rezeption geprägte Rollenmodelle?
Wir laden Wissenschaftler:innen aller Qualifikationsstufen zu Beitragsvorschlägen ein, die mit den genannten Fragestellungen korrespondieren. Bitte senden Sie ein Abstract von max. 3.000 Zeichen mit dem Stichwort „Altes Testament“ sowie eine kurze biografische Notiz bis zum 07.01.2026 an folgende Adresse: nina.niedermeierphilhist.uni-augsburg.de
Beiträge für die Tagung können auf Deutsch oder Englisch eingereicht werden. Die Vorträge sollen ca. 20 Minuten dauern. Reise- und Übernachtungskosten können nach Maßgabe verfügbarer Mittel voraussichtlich ganz oder teilweise übernommen werden.
Bei Rückfragen oder Themenvorschlägen außerhalb des genannten Rahmens stehen wir gerne zur Verfügung.
Nina Niedermeier (Augsburg)
Quellennachweis:
CFP: Das Alte Testament als Bildthema in der Frühen Neuzeit (Augsburg, 8-10 Oct 26). In: ArtHist.net, 07.11.2025. Letzter Zugriff 10.11.2025. <https://arthist.net/archive/51085>.