[English version below]
Der architektonische Witz zwischen Invention und Komik. Wie viel „Verähnlichungsvermögen“ verträgt die Baukunst?
CFP zu einem Workshop, 12. bis 14. Juni 2026 an der Universität Regensburg.
Julian Jachmann, Universität Regensburg und Petra Lohmann, Universität Siegen.
Seine zweischneidige Wirkung entfaltet der ‚Witz‘ auch in der Architektur [1]. So bezeichnet der Begriff üblicherweise eine erheiternde Aussage, kann aber ebenso für die Fähigkeit zur spontanen Erfindung stehen. Letztere erweist sich in Gestalt ingeniöser Kraft als unverzichtbar für das Selbstverständnis der Disziplin – angefangen von Kallimachos‘ legendärer Inspiration eines Kapitells beim Betrachten eines umrankten Korbes, bis hin zur ähnlich mythenumwobenen Serviettenskizze als Nachweis schöpferischer Authentizität. Parallel zum kreativen Gedankensprung entwickelt sich allerdings auch der symbolische Wildwuchs spöttischer Umdeutungen. ‚Goose-Pie House‘, ‚Schwangere Auster‘ oder ‚The Gherkin‘ – das Publikum ist mit despektierlichen Bezeichnungen für prominente Neubauten schnell bei der Hand; und Satellitenaufnahmen scheinen gar die gebaute Umwelt als wirre Kalligrafie aus obszönen und verfassungsfeindlichen Grundrissfiguren zu entlarven [2]. Muss also die Entwurfsidee als Negativfigur, die Erfindung als Ausschlussprinzip definiert werden, um Assoziationen zu hierarchisieren, zu kontrollieren, auszuschließen?
Dass sich das Schicksal des architektonischen Witzes nicht in einer hygienischen Trennung von Produktions- und Rezeptionsästhetik, von genialischer Assoziation und misstrauisch beäugter Publikumsreaktion erschöpft, belegt die Architekturgeschichte nachdrücklich. So ist die Innovation im Sinne bislang unentdeckter Verbindungen nicht durch die Ratio, sondern den Witz des Architekten zu begreifen, der es versteht, im potenziell infiniten Spektrum räumlicher, konstruktiver und ästhetischer Fragestellungen sinnvolle und überraschende Verbindungen herzustellen – sei es zwischen Material und Lichtführung wie beim Streiflicht auf den Betonoberflächen Tadao Andos, sei es zwischen Gesellschaft und Bautechnik wie in der technik-utopischen Urbanistik der 1960er, sei es zwischen Geschichte, Tektonik und Proportionslehre in Gestalt der klassischen Säulenordnungen. Derartige ‚Junkturen‘, wie sie Werner Oechslin nannte, lassen sich als spezifische Form des architektonischen Witzes verstehen, der die gesamte Lebenswirklichkeit einbeziehen kann und wesentlich dazu beiträgt, Ziele und Umriss der Disziplin ständig neu zu definieren [3]. Am deutlichsten manifestieren sich die Verknüpfungen auf semiotischer Ebene, in Gestalt von Zeichen, die sich einem allgemeinen Diskurs öffnen [4]. Besonders in den Exponenten mimetisch konzipierter Architektur, der Architecture parlante und der Postmoderne ist die Janusköpfigkeit des Witzes zu spüren. So nehmen die ironischen Erfindungen von Charles W. Moore, Robert Venturi oder Denise Scott Brown die spöttische Umdeutung und Aneignung der Bauten bereits vorweg, wenn der Kopf des Architekten als Wasserspeier Verwendung findet oder sich ein Seniorenheim stolz mit einer vergoldeten Fernsehantenne präsentiert [5].
Neben der Architektur- und Kunsttheorie bietet gerade die Philosophie Modelle, diesen Befund erneut zu beleuchten. Wie in Überblicksdarstellungen [6] festzustellen, wird zumeist die erfinderische Kraft des Witzes betont und entwickelt, gleichzeitig aber auch in vielfach variierter Weise mit Momenten des Komischen und Humorvollen verwoben. Insbesondere die erheiternde Inkongruenz, die Ermöglichung einer komischen und überraschenden Verbindung zwischen wesensfremden Gegenständen bot Ansatz für Überlegungen so unterschiedlicher Denker wie Cicero, Francis Hutcheson, Schopenhauer oder Kierkegaard. Der Witz entfaltet sich in einer Auflösung von Erwartungen oder im Spielerischen, im Umgang mit Illusion, Täuschung und Enttäuschung. Besonders prägnant fasst Immanuel Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht den Witz als ein ‚Verähnlichungsvermögen‘, welches die Voraussetzung für gleichzeitig sprunghafte wie präzise geistige Bewegungen bietet. Der Witz ist für den Königsberger Denker ein auf Offenheit gerichtetes Vermögen, Vorstellungen, die zunächst keine Gemeinsamkeiten zu besitzen scheinen, in einen Zusammenhang zu bringen. Durch den Witz werden „heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Association) weit auseinander liegen“ [7], in eine Einheit gebracht. Fruchtbar werden diese Überlegungen nicht zuletzt in der teils antithetischen, teils ergänzenden Rolle der „Urtheilskraft“, der es obliegt „das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden“ [7]. Erkenntnis beruht hier auf einer Verähnlichung mit dem zu erkennenden Objekt. Im Unterschied zum Verstand erweist sich die Urteilkraft als ein ausgezeichnetes Vermögen, das sich nicht durch bloße „Regeln“ [8] kultivieren lässt, sondern vielmehr mittels ästhetischer „Beispiele“ [9] „(ein)geübt sein will“ [10]. Ziel ist in Rücksicht des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinen eine freie, spielerische Verknüpfung der Vorstellungen, die sich Kant zufolge nicht mit dem erlernbaren Schulwitz, wohl aber mittels der „Naturgabe“ des „Mutterwitzes“ [11] erreichen lässt.
Für die Geschichte der Architektur und ihrer Theorie ergeben sich daraus konkrete Fragen: Wie gestaltet sich das Wechselspiel von Witz und Urteilskraft, von Assoziation und Distinktion in Entwurfs- und Kommunikationsprozessen? Wie werden Momente der Invention gefördert und in Szene gesetzt – oder auch versteckt? Wann spielt der mögliche Umschlagspunkt vom Schöpfungsreichtum zum Moment der Überraschung und vielleicht sogar zum komischen Effekt eine Rolle? Welche Bedeutung kommt den menschlichen Vermögen oder – gerade in der Vormoderne – rhetorischen Strategien und Kunsttheorien zu? Welche gesellschaftliche Aufgabe besitzt ein derartiges Architekturverständnis – sind Heiterkeit, sind ironische oder metaphorische Konzepte (noch) legitim, sind sie Teil oder Lösung der in die Tiefe gestaffelten globalen Krisen?
Das Thema soll auf einem interdisziplinären und international besetzten Workshop verfolgt werden, der vom 12. bis 14. Juni 2026 an der Universität Regensburg stattfindet. Die Veranstalter freuen sich über Vorschläge zu Beiträgen aus allen relevanten Disziplinen wie Philosophie, Kunstgeschichte, Architektur, Geschichte oder den Philologien. Ausdrücklich sind auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eingeladen, Projekte und Skizzen in kollegialer Atmosphäre vorzustellen. Reisekosten und Unterkunft können in der üblichen Weise erstattet bzw. gestellt werden.
Bei Interesse bitten wir um ein Exposé in digitaler Form bis zum 1.10.2025 an die Adresse julian.jachmannur.de.
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[1] Die Veranstaltung knüpft an die Tagung derselben Veranstalter an: Eine „Hülle für die Vernunft“? Witz, Komik und Humor der Baukunst in historischer und philosophischer Perspektive, internationale Tagung, Regensburg 2023, Tagungsband in Vorbereitung.
[2] Für zahllose Beispiele vgl. Emeli Steinbacher, Humor und seine Relevanz in der Architektur, Diplomarbeit, Technische Universität Wien 2017 [https://repositum.tuwien.at/handle/20.500.12708/5729; 8.6.2022]
[3] Werner Oechslin, „Struktiv-symbolisch“ „struktiv-technisch“ – oder: welche ‚Junkturen‘ braucht der Architekt, um sich der Bedeutung seiner Bauten zu versichern, in: Mildred Galland-Szymkowiak, Julian Jachmann und Petra Lohmann (Hg.), Architektursymbolik: Modelle und Methoden. Le symbolisme de l’architecture: Modèles et méthodes, Siegen 2019, S. 41-83
[4] Vgl. Eva von Engelberg-Dočkal, Markus Krajewski und Frederike Lausch (Hg.), Mimetische Praktiken in der neueren Architektur: Prozesse und Formen der Ähnlichkeitserzeugung, Heidelberg 2017
[5] Vgl. Emmanuel Petit, Irony, or, the self-critical opacity of postmodern architecture, New Haven 2013; Gabriele Neri, Caricature architettoniche. Satira e critica del progetto moderno, Macerata 2015
[6] Stefan Willer, Witz, in: Uwe Wirth (Hg.), Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017, S. 11-16; Markus Winkler und Christine Goulding, Witz, in: Ästhetische Grundbegriffe, Band 6, Stuttgart 2010, S. 694-729
[7] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, AA VII, 220 1
[8] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), zitiert nach B-Auflage 1787, 172
[9] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), zitiert nach B-Auflage 1787, 173; vgl. Christian Dries, Die Erfindung der Urteilskraft. Eine genealogische Skizze, in: Österreich Z Soziol 46 (Suppl 1), S. 255–280 (2022), hier S. 260
[10] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), zitiert nach B-Auflage 1787, 172
[11] Ebd.; vgl. Wolfgang Ritzel, Immanuel Kant: Eine Biographie, Berlin [u.a.] 1985, S. 252
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Towards a Humorous Wit of Invention. How Much of the ‘Faculty of Assimilating’ Can Architecture Endure?
CFP, Workshop at the University of Regensburg June 12th to 14th 2026.
Julian Jachmann, University of Regensburg and Petra Lohmann, University of Siegen.
The characteristic ambivalence of the German word "Witz" proves pertinent even in architecture [1]. Typically, the term denotes a joke, yet it can also refer to the capacity for spontaneous invention, i.e. wit. The latter occurs as an ingenious force that is indispensable to the discipline’s self-conception — ranging from Callimachus’ legendary inspiration for a capital upon seeing a woven basket, to the mythicized sketch on a napkin serving as evidence of creative authenticity. Parallel to these instances of creativity, however, develops a symbolic proliferation of mocking reinterpretations. “Goose-Pie House,” “Schwangere Auster [Pregnant Oyster],” or “The Gherkin” — the public is quick to assign derisive nicknames to prominent buildings; and satellite images seemingly expose the constructed environment as a chaotic calligraphy of obscene and politically incorrect floor plan shapes [2]. Does this suggest that architectural conception itself must be defined as a negative force, with invention serving as an exclusionary principle to hierarchize, control, or exclude associations?
The history of architecture convincingly demonstrates that the fate of architectural wit neither resides in a hygienic separation of production and reception aesthetics, nor in the dichotomy of genius-inspired association versus an antagonistic reaction of the public sphere. Instead, innovation in the sense of discovering previously unknown connections can be understood as stemming from the architect’s wit — a capacity to establish meaningful and surprising links across a potentially infinite spectrum of spatial, structural, and aesthetic questions. These links may manifest between material surfaces and lighting design, as in Tadao Ando’s use of glancing lighting on concrete surfaces; between society and building technology, as in the urban utopias of the 1960s; or between history, Tectonics, and proportion in the classical column orders. Such "Junkturen", as Werner Oechslin termed them, can be understood as a specific form of architectural wit that encompasses potentially all of life’s aspects and significantly contributes to constantly redefining the concrete goals and outlines of the discipline [3]. These connections are most visibly expressed on a semiotic level, manifesting as signs that enable a wider field of discourse [4]. Particularly in the case of mimetic architecture, ‘architecture parlante’, and Postmodernism, the duplicitous nature of ‘Witz’ is perceptible. For example, the ironic inventions of Charles W. Moore, Robert Venturi, or Denise Scott Brown preempt the witty reappropriation of buildings — when the architect’s head is depicted as a gargoyle or a retirement home is adorned with a gilded TV antenna [5].
In addition to architecture and art theory, philosophy offers models for reevaluating this phenomenon. As indicated in overview studies [6], the inventive power of wit is often emphasized and developed, yet it is also intertwined with moments of the comic and humorous in diverse ways. The humorous incongruity, enabling surprising and comic connections between fundamentally different objects, has inspired thinkers as varied as Cicero, Francis Hutcheson, Schopenhauer, and Kierkegaard. Wit unfolds through the dissolution of expectations, playing with illusion, deception, and disillusionment. Immanuel Kant succinctly summarizes this in ‘Anthropology from a Pragmatic Point of View’: “Witz” is a form of “Verähnlichungsvermögen” (Faculty of Assimilating) that provides the precondition for both quick and precise mental movements. For Kant, “Witz” is a capacity geared toward openness — the ability to connect ideas that initially seem to have no common ground, “heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Association) weit auseinander liegen [heterogeneous ideas, which often differ greatly according to the law of the law of imagination (association)]“ [7]. These considerations become fruitful, not least, in the partly antithetic and partly complementary role of the “Urtheilskraft [faculty of judgment]” which is required “das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden [to determine the particular under the general and to apply the faculty of reason to cognition]” [7]. Knowledge, in this view, relies on a form of resemblance to the object to be recognized. Unlike understanding, the faculty of judgment proves to be an excellent capacity that cannot be cultivated solely through “Regeln [rules]” [8], but rather has to be “kultiviert [cultivated]” [9] using “Beispiele [examples]” [10]. In regard to the relationship between the particular and the universal, Kant advocates a free, playful linking of ideas, which according to him can be achieved not through learned “Schulwitz [school wit],” but through the “Naturgabe [gift of nature]” — “Mutterwitz [mother wit]” [11].
Pertinent questions for the history and theory of architecture arise: How does the interplay of wit and the faculty of judgment, between association and distinction, evolve within design and communication processes? How are moments of invention fostered and staged — or concealed? When does the threshold between creative richness and surprise, or even comic effect, become relevant? What roles do human capacities play — or, especially in pre-modern contexts, rhetorical strategies and art theories? What is the position of architecture in contemporary society— are cheerfulness, ironic, or metaphorical concepts (still) to be considered legitimate? Are they part of or a solution to the deeply layered global crises?
The topic will be pursued within an interdisciplinary and international workshop scheduled to take place from June 12 to 14, 2026, at the University of Regensburg. The organizers welcome proposals for contributions from all relevant disciplines, e.g. philosophy, art history, architecture, history, and philology. Early-career researchers are explicitly invited to present projects and sketches in a collegial atmosphere. Travel expenses can be reimbursed and accommodation provided in the customary manner.
Applicants are kindly asked to submit a brief proposal in digital form by October 1, 2025, to the email address julian.jachmannur.de.
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[1] The event builds upon the organizers’ previous conference: "Eine „Hülle für die Vernunft“? Witz, Komik und Humor der Baukunst in historischer und philosophischer Perspektive", an international symposium held in Regensburg in 2023, with proceedings in preparation.
[2] For countless examples cf. Emeli Steinbacher, Humor und seine Relevanz in der Architektur, Diplomarbeit, TU Vienna 2017 [https://repositum.tuwien.at/handle/20.500.12708/5729; 8.6.2022]
[3] Werner Oechslin, „Struktiv-symbolisch“ „struktiv-technisch“ – oder: welche ‚Junkturen‘ braucht der Architekt, um sich der Bedeutung seiner Bauten zu versichern, in: Mildred Galland-Szymkowiak, Julian Jachmann und Petra Lohmann (ed.), Architektursymbolik: Modelle und Methoden. Le symbolisme de l’architecture: Modèles et méthodes, Siegen 2019, pp. 41-83
[4] Cf. Eva von Engelberg-Dočkal, Markus Krajewski und Frederike Lausch (ed.), Mimetische Praktiken in der neueren Architektur: Prozesse und Formen der Ähnlichkeitserzeugung, Heidelberg 2017
[5] Cf. Emmanuel Petit, Irony, or, the self-critical opacity of postmodern architecture, New Haven 2013; Gabriele Neri, Caricature architettoniche. Satira e critica del progetto moderno, Macerata 2015
[6] Stefan Willer, Witz, in: Uwe Wirth (Hg.), Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017, pp. 11-16; Markus Winkler und Christine Goulding, Witz, in: Ästhetische Grundbegriffe, Band 6, Stuttgart 2010, pp. 694-729
[7] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, AA VII, 220 2
[8] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), edition B, 1787, 172
[9] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), edition B, 1787, 172
[10] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (EA 1781), edition B, 1787, 173; vgl. Christian Dries, Die Erfindung der Urteilskraft. Eine genealogische Skizze, in: Österreich Z Soziol 46 (Suppl 1), pp. 255–280 (2022), cf. p. 260
[11] Ibid.; cf. Wolfgang Ritzel, Immanuel Kant: Eine Biographie, Berlin et al. 1985, p. 252
Reference:
CFP: Der architektonische Witz zwischen Invention & Komik (Regensburg, 12-14 Jun 26). In: ArtHist.net, Sep 7, 2025 (accessed Sep 21, 2025), <https://arthist.net/archive/50476>.