Engagierte Kunstgeschichte. Verantwortung, Handlungsspielräume und Relevanz eines Fachs in Zeiten multipler Krisen.
Organisation: Prof. Dr. Isabelle Dolezalek; Prof. Dr. Bénédicte Savoy.
In einer Zeit gesellschaftlicher, politischer und ökologischer Eskalationen stellt sich die Frage nach der Verantwortung der Geisteswissenschaften mit neuer Dringlichkeit. Als reflexionsorientierte Fächer haben sie das Potenzial, Entwicklungen zu erkennen, zu benennen, sie einzuordnen, zu deuten und darüber hinauszudenken. Sie können interdisziplinäre, aber auch inner- und intergesellschaftliche Brücken bauen, Kultur und Menschlichkeit als gesellschaftliche Kraft stärken und dazu beitragen, nachhaltige Zukunftsmodelle zu entwerfen. Diese Wirkmacht der Geisteswissenschaften als einordnendes Korrektiv zu den technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen industrieller und postindustrieller Gesellschaften wurde auch in der Vergangenheit immer wieder nachdrücklich hervorgehoben (z. B. Ritter 1963).
Die Technische Universität Berlin wirbt mit dem Leitwort „Wir haben die Ideen für die Zukunft. Zum Nutzen der Gesellschaft“ für die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeit. Neben sechs technik-, natur- und wirtschaftswissenschaftlich arbeitenden Fakultäten schließt es ausdrücklich auch ihre Fakultät für Geistes- und Bildungswissenschaften mit ein. Bei der Neugründung der vorhergehenden Technischen Hochschule als Technische Universität im Jahr 1949 sollte nach den unmenschlichen, mit technologischer Effizienz ausgeführten Exzessen des Zweiten Weltkriegs ebendiese „Humanistische“ Fakultät mit einem Studium Generale für die „Förderung echten Menschentums“ Sorge tragen. Sie setzte sich zum Ziel, Persönlichkeiten auszubilden, die sich „der Kultur und ihrer Verwirklichung in Vergangenheit und Gegenwart bewusst sind“ und die, „die allgemeine Grundlage und die Verpflichtung menschlicher Bildung und Gesittung zu bewahren wissen“ (Killy 1952, Präambel der Humanistischen Fakultät). Zu den damals in die geisteswissenschaftliche Fakultät eingegliederten Fächern gehörte auch die Kunstgeschichte.
Noch heute bilden wir an unseren Fachgebieten einen kritischen Blick auf Bilder, Bauten, Objekte und Texte aus. Wir erforschen transkulturelle Verflechtungsprozesse, materielle Kulturen und ihre Bedeutungsräume, Praktiken des Sammelns, Zeigens und Bewahrens sowie die sich wandelnden gesellschaftlichen Rollen musealer Institutionen. Dabei beleuchten wir auch ästhetische, soziale, politische und epistemische Dimensionen von Kunst und kulturellem Erbe in unterschiedlichen Kontexten: Zum Nutzen der Gesellschaft? Wir meinen ja.
Dennoch sehen sich Forschende in der Kunstgeschichte und in benachbarten Fächern schon lange und mit immer drängenderer Aktualität mit einer schon in den 1970er-Jahren ausgerufenen „Krise der Geisteswissenschaften“ konfrontiert (z. B. Deutscher Bundestag, 2006). So konstatierte ein Gastbeitrag in der FAZ beispielsweise Anfang dieses Jahres einen bedenklichen Rückgang der Einschreibungen in geisteswissenschaftliche Studiengänge („Plötzlich vermeidlich?“, FAZ, 02/2025). Angesichts drastischer Sparzwänge sind Fachgebiete und ganze Fakultäten von Streichungen bedroht („Die Senatorin will die Geisteswissenschaften streichen“, FAZ 02/2025; „Hochschul-Präsidentin ‚äußerst irritiert‘“, FAZ 02/2025). Die aktuelle Logik der Wirtschaftlichkeit von Bildung an Universitäten setzt die Geisteswissenschaften unter Rechtfertigungsdruck.
Wenn sich dieser Workshop nun dem Thema einer engagierten Kunstgeschichte widmet, geschieht das allerdings nicht primär als eine Reaktion auf einen von außen angetragenen Legitimationszwang. Vielmehr möchten wir mit dieser Selbstreflexion die Potenziale des Fachs Kunstgeschichte und seine Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Probleme im Sinne eines geisteswissenschaftlichen „Empowerments“ in den Mittelpunkt stellen und die Selbstverständlichkeit betonen, mit der dieses Thema die Arbeit vieler Kolleg:innen prägt. Dafür laden wir zu einem offenen Austausch über die Möglichkeiten, Perspektiven und Herausforderungen eines gesellschaftlich engagierten kunsthistorischen Arbeitens ein.
Zur Diskussion stehen u. a. folgende Fragen:
- Worin liegt die gesellschaftliche Relevanz der Kunstgeschichte?
- In welcher Form kann und soll sich das Fach in gesellschaftliche und politische Themen einbringen, ohne die Grenzen zum Aktivismus zu überschreiten?
- Inwiefern sollen und dürfen Krisen die Ausrichtung geisteswissenschaftlicher Forschungsfragen leiten?
- Wie können wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung innerhalb unseres Fachs gerecht werden?
- Und welche Inhalte und Methoden der Kunstgeschichte bergen ein gesellschaftliches Transformationspotenzial?
Dabei soll der Blick auch auf historische Krisensituationen und die durch sie hervorgerufenen kunsthistorischen Entgegnungen gelenkt werden: Wann und in welcher Form hat die Kunstgeschichte in der Vergangenheit auf Krisen reagiert? Wann waren Kunsthistoriker:innen schon früher einmal „engagiert“ (z. B. Warnke, 1970)?
Mit diesen Fragen schließt der Workshop an viele vorhergegangene Initiativen, Tagungen, Publikationen, Diskussionsrunden und Überlegungen an, die sich mit einem spezifisch kunsthistorischen gesellschaftlichen Engagement befassen. Beispielsweise sind diverse Publikationen, Veranstaltungen und die „AG edk (ende der kunstgeschichte)“ des Ulmer Vereins zu nennen, die seit 2019 nicht nur Überlegungen zum gesellschaftlichen Potenzial des Faches vorantreibt, sondern auch „Handlungsspielräume für eine Zukunft der Kunstgeschichte“ öffnen möchte (cf. http://www.ulmer-verein.de/?page_id=14843). Die Zeitschrift für Kunstgeschichte widmet sich seit 2022 mit ihren „Essays zur Engagierten Kunstgeschichte“ fachspezifischen Diskussionen über aktuelle gesellschaftliche, kulturelle, technologische oder politische Entwicklungen. In diesem Rahmen rief Peter J. Schneemann einen „ökologischen Imperativ“ in der Kunstgeschichte aus (Schneemann, 2022). Auch die historische Reflexion über gesellschaftliche Rollen der Kunstgeschichte hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren. Zahlreiche Veröffentlichungen widmen sich der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus (z. B. Veröffentlichungsreihe „Brüche und Kontinuitäten“, hrsg. Bushart/Fuhrmeister). Eine Konferenz mit dem Titel „Die (Ent-)Politisierung der Kunstwissenschaft“ verfolgte den Werdegang marxistischer kunsthistorischer Ansätze seit 1968 (Org. Hammerschmidt/Ninnis/Püttmann, 10.–11. November 2023, TU Berlin), und wieder andere rückten ihre kolonialen Verstrickungen ins Blickfeld (z. B. Schmidt-Linsenhoff, 2005). Weitet man das Blickfeld jenseits der deutschsprachigen Kunstgeschichte aus, ist auch die Erwähnung der US-amerikanischen „Engaged Art History“-Community zwingend (z. B. Persinger/Rejaie, 2021), die allen Interessierten seit 2022 eine digitale Plattform bietet (cf. https://engagedarthistory.org/about/). Erwähnenswert ist hier die Webseiten-Rubrik „Resources“ mit Projektberichten, Vortragsmitschnitten und Denkanstößen, bei denen beispielsweise Empathie als kunsthistorisches und gesellschaftliches Werkzeug diskutiert wird.
Unser Workshop, der sich insbesondere auch an die akademisch jüngeren Generationen richtet, setzt sich zum Ziel, auf den bestehenden Initiativen aufzubauen, einen offenen, kollegialen Austausch über die gesellschaftliche Relevanz und Verantwortung der Kunstgeschichte im deutschsprachigen Raum zu befördern und systematisch zusammenzufassen. Er ist als interaktives, diskussionsorientiertes Format mit kurzen Impulsen, Thesen, Fragen und gemeinschaftlichem Austausch konzipiert.
Beiträge zum Workshop können folgende Formen annehmen:
- Impulsvortrag zu kunsthistorischen Antworten auf aktuelle oder historische Krisen (15 Minuten)
- Posterpräsentation
Wir begrüßen insbesondere Einreichungen zu den folgenden Themenbereichen:
- Gesellschaftliche Potentiale von kunsthistorischen Methoden (z. B. Bildanalyse, Textanalyse, Bewusstsein für Historizität)
- Bildanalyse in einer postfaktischen Welt
- Ambiguitätstoleranz und Multiperspektivität als Historiker:innen-Skills
- Kunstgeschichte und Politikberatung in historischer Perspektivierung
- Grenzen zwischen Kunstgeschichte und Aktivismus
- Kunsthistorische Forschung und Lehre als Instrument für gesellschaftlichen Wandel
- Gesellschaftliche Strahlkraft einer kritischen Kunstgeschichte durch Transfer- und Outreach-Formate
Abstracts von maximal 300 Wörtern für Vorträge oder für Poster können bis zum 31. August 2025 zusammen mit einem kurzen Anschreiben und einer Kurzbiographie eingereicht werden. Senden Sie diese bitte per E-Mail an: i.dolezalektu-berlin.de.
Alle Teilnehmer:innen sind dazu aufgefordert, vor Beginn der Veranstaltung ein einseitiges Thesenpapier zu Relevanz, Verantwortung und Handlungsspielräumen der Kunstgeschichte einzureichen. Die Thesenpapiere sollen in einem Thesen-Slam vorgestellt und in die folgende Workshop-Veröffentlichung integriert werden.
Beiträge von Forschenden in einer frühen Karrierephase sind ausdrücklich willkommen!
Eine professionelle Kinderbetreuung wird – nach Bedarf – vor Ort organisiert. Reisekosten werden erstattet.
Referenzen
Bahners 2025 a
Bahners, Patrick: Senatorin will die Geisteswissenschaften streichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2025, (URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tu-berlin-senatorin-will-die-geisteswissenschaften-streichen-110320274.html), 28.05.2025.
Bahners 2025 b
Bahners, Patrick: Hochschul-Präsidentin „äußerst irritiert“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.2025, (URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tu-berlin-hochschul-praesidentin-aeusserst-irritiert-110324867.html), 11.07.2025.
Bushart/Fuhrmeister 2016–2025
Bushart, Magdalena/Fuhrmeister, Christian (Hrsg.): Brüche und Kontinuitäten. Forschungen zu Kunst und Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, Veröffentlichungsreihe, Köln 2016¬2025.
Deutscher Bundestag 2006
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Die Geisteswissenschaften in der Diskussion, Dokumentation WD 8 - 175/2006, Abschluss der Arbeit: 19.09.2006, Fachbereich WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung, Deutscher Bundestag 2006.
Hüther 2025
Hüther, Michael: Plötzlich vermeidlich?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2025, (URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/nur-noch-jeder-zehnte-student-waehlt-geisteswissenschaften-110304486.html), 28.05.2025.
Killy 1952
Killy, Walther: Studium Generale und studentisches Gemeinschaftsleben, hrsg. von der Westdeutschen Rektorenkonferenz und dem Hochschulverband durch die Kommission für Hochschulreformfragen, vom Verband deutscher Studentenschaften und vom Verband deutscher Studentenwerke, Berlin-Lichterfelde 1952.
Persinger/Rejaie
Persinger, Cindy, Rejaie, Azar (Hrsg.): Socially Engaged Art History and Beyond. Alternative Approaches to the Theory and Practice of Art History, Cham 2021.
Ritter 1963
Ritter, Joachim: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, Münster, Westfalen 1963.
Schmidt-Linsenhoff 2005
Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte, in: Below, Irene/von Bismarck, Beatrice (Hrsg.): Globalisierung Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in der Kunst und Kunstgeschichte, Marburg 2005, S. 19–38.
Schneemann 2022
Schneemann, Peter: Der ökologische Imperativ als Paradigma einer engagierten Kunstgeschichte, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte ZfK, 2022, Bd. 85 Nr. 4, S. 433–439.
Warnke 1970
Warnke, Martin: Vorbemerkungen, in: Warnke, Martin (Hrsg.): Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970, S. 7–11.
Reference:
CFP: Engagierte Kunstgeschichte (Berlin, 15-16 Jan 26). In: ArtHist.net, Jul 15, 2025 (accessed Jul 17, 2025), <https://arthist.net/archive/50370>.