Kanonisierung und Revision. Historische Prozesse ästhetischer Autoritätsbildung.
Jahrestagung des SFB 1391 "Andere Ästhetik", Universität Tübingen, 4.-6. Juli 2024.
Historische, fachspezifische und gesellschaftskonstitutive Hintergründe haben vielfach zu Fest- und Fortschreibungen von Kanonvorstellungen geführt, die ästhetische Autoritätsbildungen und Wertungen z.T. bis heute prägen. Auf die forschungsgeschichtlich in hohem Maß notwendige Aufarbeitung dieser Prozesse und Traditionen zielt die erste Jahrestagung der zweiten Förderphase des SFB 1391 "Andere Ästhetik" mit ihrem Thema „Kanonisierung und Revision“ und profitiert dabei von den aktuell in unterschiedlichen Zusammenhängen stattfindenden kontroversen Auseinandersetzungen mit tradierten Kanones. Gemeinsame Grundlage dieser Diskussionen und Bestrebungen bildet dabei – u. a. ausgehend von der postkolonialen Kritik an tradierten Wertmaßstäben und damit verbundenen Exklusionsmechanismen – nicht zuletzt ein Unbehagen an autonomieästhetisch geprägten Voraussetzungen und der mit ihnen zusammenhängenden Problematik der meist auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Kanones. Die Tagung möchte in diesem Kontext herausarbeiten, dass fachgeschichtlich wirksamen Normierungsprozessen und Kanonisierungsprozessen ein erhebliches Verdrängungspotential anderer Autoritätszuschreibungen und Kriterien der Wertschätzung eignet, das aus unterschiedlichen Interessen resultiert und häufig die Praxis von der Theorie trennt.
Um diese komplexen Zusammenhänge und Dynamiken herauszuarbeiten, widmet sich die interdisziplinäre Tagung vergleichend den unterschiedlichen Arten vormoderner Kanonisierungsprozesse, der fachdisziplinären Kanonbildung des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zeitgenössischen Diskursen und Debatten. Ziel ist es, aus einer diachronen Perspektive die historischen Implikationen sowie Grundstrukturen und Methoden normsetzender Verfahren offenzulegen, die zu einer Etablierung oder Dekonstruktion von Kanones – inklusive der damit einhergehenden jeweiligen Ausgrenzungen – beitrugen.
Tagungsort
Universität Tübingen
Alte Aula
Münzgasse 30
72070 Tübingen
Programm:
Donnerstag, 4. Juli 2024
14:00 Annette Gerok-Reiter / Anna Pawlak: Begrüßung und Einführung
KANON-DEBATTEN: ÄSTHETISCHE AUTORITÄTSBILDUNG IM DISKURS
Moderation: Iris Brahms
14:30 Hubert Locher (Universität Marburg): Lauter „Meisterwerke“? Kanonbildung, Kanonkritik und Affirmation in der Kunstgeschichte seit 1950 im medialen Kontext – oder der zerbrochene Kanon
15:15 Florian Kragl (FAU Erlangen-Nürnberg): Literaturwissenschaft und Literaturpflege, Distanz und Emphase, das „Jüngere Hildebrandslied“ und Vergil: Der Kanon als empirisches, heuristisches und praxeologisches Instrument
16:00 Kaffeepause
Moderation: Jörg Robert
16:30 Laurenz Lütteken (Universität Zürich): Augenblick und Gedächtnis. Zum Problem musikalischer Kanonisierungen
17:15 Jürgen Leonhardt (Universität Tübingen): Kanon als produktionstechnische Kategorie
KANONISIERUNGSPROZESSE: VORMODERNE MODELLE DER IDENTITÄTSSTIFTUNG
18:00 Ralf von den Hoff (Universität Freiburg): Wiederverwendung. Pragmatik, Anschluss an die Vergangenheit und Kanonisierung im antiken Griechenland
Freitag, 5. Juli 2024
Moderation: Katharina Fezer
9:00 Bernhard Huss (FU Berlin): Selbstkanonisierung Petrarcas und Delegitimierung Boccaccios. Anmerkungen
zum literarischen Vermächtnis von Petrarca im letzten Buch seiner Altersbriefe
9:45 Dietmar Till / Frank Schuhmacher (Universität Tübingen): Ein neues Stilideal: Die Kanon-Debatte um eine deutschsprachige Argutia im 17. Jahrhundert
10:30 Kaffeepause
Moderation: Cristina Murer
11:00 Thomas Thiemeyer / Luisa Vögele (Universität Tübingen): Kunstkammern und Museen als Institutionen der Kanonbildung
11:45 Ekaterini Kepetzis (RPTU Kaiserslautern-Landau):
„Dabiturque Licentia Sumpta pudenter“. William Hogarths Opposition gegen den akademischen Kanon
KANONISIERUNGSTRADITIONEN: FACH- & REZEPTIONSGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVEN
12:30 Philipp von Rummel (Deutsches Archäologisches Institut): Wir und sie. Das kanonisierte Barbarenbild und die Altertumswissenschaften
13:15 Mittagessen
14:30 Rebecca Merkelbach (Universität Tübingen):
„Betra er slíkt með gamni at heyra“: Kanonisierung und die isländische Sagaliteratur
15:15 Sarah Dessì Schmid / Katharina Fezer (Universität Tübingen): Zum Verhältnis von Kanonisierung und
Standardisierung. Italienische und französische Sprachgeschichte im Vergleich
16:00 Kaffeepause
Moderation: Saskia Wendel
16:30 Susanne Wittekind (Universität Köln): Material, Formung und Effekt – Zur Kunstauffassung Francisco Pachecos
17:15 Stefanie Acquavella-Rauch (Universität
Mainz): (Neue) Räume für Musik: Musicking,
musikalische Netzwerke und Kanonisierung im 18. und 20. Jahrhundert
18:00 Andreas Holzem (Universität Tübingen): Die Kanonisierung der Papstfigur. Ästhetik und Gegenästhetik ultramontaner Autoritätsbildung im 19. Jahrhundert
Samstag, 6. Juli 2024
KANON-REVISIONEN: KRITIK & PLURALISIERUNG
Moderation: Jan Stellmann
9:00 Eva von Contzen (Universität Freiburg): Andere Innovation: Zum Verhältnis von Wiedererzählen und Kanon zwischen Vormoderne und Gegenwart
9:45 Christina Lechtermann (Universität Bochum): Schöne Rezepte, wunderbare Anleitungen. Der Umgang mit vormoderner Wissens- und Könnensliteratur zwischen Marginalisierung und Chance
10:30 Kaffeepause
Moderation: Johannes Lipps
11:00 Megan Luke (Universität Tübingen): The Canon of Copies in the Age of Mass Reproduction
11:45 Annette Geiger (Hochschule für Künste Bremen): Kunst und Design zwischen Kanon und Häresie – Oder warum wir eine Ästhetik der low arts brauchen
12:30 Katharina Fezer / Johannes Lipps: Konklusion und Abschlussdiskussion
Konzept und Organisation:
Katharina Fezer, Annette Gerok-Reiter, Johannes Lipps, Anna Pawlak
Quellennachweis:
CONF: Kanonisierung und Revision (Tübingen, 4-6 Jul 24). In: ArtHist.net, 01.07.2024. Letzter Zugriff 02.05.2025. <https://arthist.net/archive/42255>.