Paris–Nidwalden. Der Passagencharakter der Kunst und die Innerschweiz zwischen Scharnierfunktion des Kunsttransportes und innovativer Anverwandlung.
Das Denkmodell von Zentrum und Peripherie hat die Aufmerksamkeit von der Betrachtung der Entwicklung in den großen Kunstzentren auf den Beitrag regionaler Gravitationsorte für den Fortgang der Künste gelenkt. Damit hat sich unsere Vorstellung von Einfluss, Transfer und Appropriationen der Kunst verschoben, und das tradierte Bild ihrer Geschichte wurde neu justiert. Doch als Modell, um sich dem tatsächlichen Verlauf künstlerischer Rezeption, dem von Produktion und Einflüssen zu nähern, erweist sich auch dieses Konzept als unzureichend. Denn um die Statik der Vorstellung einer linearen Kunstentwicklung aufzubrechen, zeigen sich alle mathematisch geometrisch gedachten Bilder des Kunsttransfers kontraproduktiv. Die Topographien der Kunst folgen viel eher einem Relief der Vielgestalt.
Anhand einer für die europäische Kunstgeschichte der Neuzeit zentralen Region will das Kolloquium beleuchten, welche Rolle den Brennpunkten der Passagen des Kunsttransportes zukommt. Im Blick auf das Reisen von Werken, von Künstlern oder Ideen kommen tatsächlichen Hindernissen und möglichen Wegen so gut wie politischen und infrastrukturellen Bedingungen eine zwingende Rolle zu. Die Zentralschweiz und insbesondere die Region um den Vierwaldstätter See ist ein Ort einer solchen Engführung, wenn es um diese Wege der Kunst geht, die von West- und Nordeuropa ihrem Bestimmungsort im Süden zustreben und umgekehrt. Die von den oberitalienischen Ländern nach Norden exportierten Künstler und Werke erreichen ihr Ziel gezwungenermaßen über die Alpenpässe, hier den Gotthard-Pass als bestimmender Route, die noch heute von Mailand über Como und Lugano zur Etappe in Stans und Luzern führt. Einzige Alternative ist der Transport zu Wasser, über den Hafen Genuas weiter nach Norden durch das Rhône-Tal.
Am Beispiel des Kantons Nidwalden soll es dabei nicht nur um den Ort und seine Infrastruktur als vermittelnde Instanz gehen. Der Kanton steht prägnant und stellvertretend für eine Analyse, die sowohl die Rolle der Region und ihrer Protagonisten als Vermittler als auch die Herausbildung eines eigenen Beitrags zur Geschichte der Kunst zu untersuchen erlaubt.
Das Entstehen eines ureigenen Architekturstils, etwa mit dem Typus seiner Landkirchen, zeigt auf, wie Elemente des römischen Barock, des Tessiner Baudekors, der oberitalienischen Skulptur, der französischen Malerei und des süddeutschen Kirchentypus konkurrieren und fusionieren und zu bis dato ungesehenen Lösungen führen, während die Zivilarchitekturen wie das städtische Bürgerhaus sich an den Pariser und Deutschen Modellen orientieren. Abhängig von mit zeitlichem Versatz greifenden Moden, vom Reisen der Baumeister oder dem von Muster- und Lehrbüchern sind die Instanzen der Transfers zugleich institutioneller Natur. Mit dem in Rom, Zürich und Paris geschulten Maler Johann Melchior Wyrsch, der seine Erfahrungen mit der Gründung der École de peinture et de sculpture in Besançon in die von ihm dann begründete Luzerner Malerschule überträgt, widmet sich ein Teil des Kolloquiums einer exemplarischen, europäischen Künstlerkarriere (Winkelriedhaus, Stans, 06. September 2024). Der sich der Architekturgeschichte zuwendende Teil (DFK Paris, Paris, 28.-29. Mai 2024) versucht die Genese lokaler Bautraditionen im Kontext europäischer Zentren der Architekturgeschichte zu fassen.
Das Vorhaben versucht den Dualismus bisheriger Denkmodelle zu übersteigen, macht den Weg zum Ziel der Untersuchung und lenkt das Interesse auf die prägenden Tendenzen von Architektur und Bildenden Künsten, nicht nur abseits der mondänen Kunstzentren Europas sondern in einer privilegierten Region, die sowohl als Vermittler wie als Profiteur von Innovationen verstanden werden kann.
Vorschläge zu Beiträgen von 20 bis maximal 30 Minuten werden bis zum 15.12.2023 erbeten an kolloquiumdfk-paris.org und kulturnw.ch.
Reference:
CFP: Paris–Nidwalden (Paris/Stans, 28 May-6 Sep 24). In: ArtHist.net, Nov 21, 2023 (accessed Nov 23, 2024), <https://arthist.net/archive/40661>.