kritische berichte 2.2024: "Visuelle Gerechtigkeit / Visual Justice"
Im letzten Jahr wurde die auf der von Kader Attia kuratierten 12. Berlin Biennale gezeigte labyrinthartige Installation "Poison soluble. Scènes de l’occupation américaine à Bagdad" des französischen Künstlers Jean-Jacques Lebel kontrovers diskutiert. Sie nämlich zeigte ungefiltert die 2004 und 2006 geleakten und von US-amerikanischen Militär- und CIA-Angehörigen selbst angefertigten Folterfotos aus dem Gefängnis Abu Ghraib. Die irakische Kuratorin Rijin Sahakian kritisierte in einem offenen Brief an die Ausstellungsleitung, dass die Installation rassifizierte Stereotype verfestigte und den irakischen Körper für eine politische Kunst des Westens instrumentalisierte. Sahakians Kritik gibt Anlass dazu, grundsätzlich zu fragen, wie rassifizierte Menschen im epistemischen Regime des Eurozentrismus und seinen visuellen Repräsentationen ‚Gerechtigkeit widerfahren‘ kann und wie demgemäß eine verantwortliche theoretische, künstlerische und kuratorische Praxis aussehen müsste.
Folgt man Homi K. Bhabha muss in jedem Fall kritisch untersucht werden, wie sich die politische Handlungsfähigkeit und soziale Teilhabemöglichkeit von marginalisierten Subjekten historisch verändert. Diese Veränderung ist eng mit ihrer fremd- beziehungsweise selbstbestimmten Bedeutungskonstruktion in Bildern verbunden. Die figurative ‚Politik‘ der Bilder sowie die hegemoniale Schau- und Interpretationspraxis müssen neu befragt werden. Hierzu könnte der in der gesellschaftlichen Praxis selbst verwurzelte Begriff der Gerechtigkeit neue Erkenntnisse liefern. Dies wird dadurch möglich, dass soziale Gerechtigkeit heute als Problem der sozioökonomischen Umverteilung und identitätspolitischen Anerkennung verhandelt wird. Der ‚Kampf um Anerkennung‘ hat in den transkulturellen agonistischen Gesellschaften heute längst schon die epistemische Ungerechtigkeit in den visuellen Repräsentationsregimen offengelegt. Wie also ließe sich visuelle Gerechtigkeit in Theorie und Praxis gewinnbringend einführen und umsetzen?
Um diese Frage zu beantworten, muss ‚visuelle Gerechtigkeit‘ als Begriff erst neu bestimmt werden. Zwar wurde die Visualisierung von Macht und Recht in bildender Kunst und Film sowie ihre Bedeutung für eine historisch kontingente Gerechtigkeitsvorstellung bereits breit diskutiert. Eine Diskussion um das Verhältnis von Visualität und Gerechtigkeit in Theorie und Praxis fehlt jedoch. Das zweite Heft der kritischen berichte 2024 will sich deshalb diesem Thema widmen. Transdisziplinären Beiträge sollen noch unzureichend bearbeitete Fragen um subversive Bildpolitiken, gerechte visuelle Repräsentationsregime, Produktionsverhältnisse, Interpretationsformen und Ausstellungspraxen sowie entsprechende gesellschaftliche Auseinandersetzungen aufgreifen. Das Heft möchte hierzu Beiträge unter anderem aus Philosophie, Kunstwissenschaft, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Museologie, Demokratietheorie und den visual studies versammeln.
Wissenschaftler:innen, Kurator:innen und Künstler:innen sind eingeladen, bis zum 20. August 2023 ein Abstract mit maximal 250 Wörtern zu ihrem geplanten Beitrag sowie einen kurzen CV per E-Mail an christopher.nixonhs-rm.de einzureichen.
Einsendungen und Beiträge sind in Englisch und Deutsch möglich. Über die Annahme der Beiträge wird bis Ende August entschieden. Die angenommenen Beiträge sollen einen Umfang von 25.000 bis 30.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) besitzen und müssen bis spätestens 22. Januar 2024 vorgelegt werden.
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https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/kb/index
Quellennachweis:
CFP: Visuelle Gerechtigkeit/Visual Justice, kritische berichte 02/2024. In: ArtHist.net, 27.07.2023. Letzter Zugriff 06.10.2024. <https://arthist.net/archive/39887>.