Debattenthema kritische berichte 2024 (betreut von Julian Blunk)
In den vergangenen Jahren erleben wir zahlreiche existenzielle Krisen – den Klimawandel, die Corona-Pandemie, die neuen Kriege: Die darum geführten gesellschaftlichen Debatten sind von Emotionalisierungen und Ideologisierungen durchdrungen, nicht selten schlagen Angst, Verdrängung oder Trotzreaktionen in Umsturzphantasien oder Gewaltbereitschaft um. Mit der Verhärtung ideologischer Standpunkte und den Konjunkturen unterschiedlichster Verschwörungserzählungen gehen auch Angriffe auf die Wissenschaft und ihre Institutionen einher, die die Regeln der wissenschaftlichen Wahrheits- und Lösungsfindung immer wieder neu zur Disposition stellen. Und wenngleich geschlossene Weltbilder, parallele Realitäten oder Desinformationstechniken keine Erfindung der letzten Dekade sind, haben Trumps Präsidentschaft, die Corona-Proteste, Putins Trolle oder „Reichsbürgerbewegungen“ sich diese Mittel zuletzt verstärkt zunutze gemacht, während die „Quantensprünge“ der A.I.-Technik den Vertrauensverlust in vielen Formen der Kommunikation beschleunigen.
Wenn in den Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG von 2019 angemahnt wird, stets: „lege artis zu arbeiten, strikte Ehrlichkeit im Hinblick auf die eigenen und die Beiträge Dritter zu wahren, alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln sowie einen kritischen Diskurs in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zuzulassen und zu fördern“ (1), scheint (einmal mehr) gerade die Geisteswissenschaft dazu aufgerufen, verschiedene Möglichkeiten für gesellschaftliche Debattenkulturen vorzuschlagen. Das Debattenthema der kritischen berichte 2024, der Zeitschrift des Ulmer Vereins, will deshalb fragen, welche Strategien die Geisteswissenschaften und spezifisch auch die Kunstgeschichte bereithalten können, um auf den zeitgenössischen Umgang mit kommunikativen Regeln zu reagieren und etwa jene Rhetoriken einzufangen, die zunehmend aus rechtskonservativen Räumen in die Debatten Einzug erhalten. Die Debatte möchte aber auch diskutieren, wo die Geisteswissenschaften bereits selbst von der Erosion einer gemeinsamen verbindlichen Sprache oder von einer Kultur der übergebührlichen Reizbarkeiten erfasst worden ist?
Gerade öffentlich präsente Intellektuelle sind in der jüngeren Vergangenheit immer wieder in Verdacht geraten, sich selbst auf Kosten der Wissenschaftlichkeit und im Sinne medialer Aufmerksamkeitsökonomien im Gespräch zu halten und – im Namen des Friedens, der Gleichheit oder der Meinungsfreiheit – Irrationalem populistisch das Wort zu reden. Auch der akademische Diskurs weist Phänomene zunehmender Spaltung, Polarisierung, Skandalisierung auf, weil die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie eines neoliberalisierten Arbeitsmarktes eine Kultur der Empörung und Überbietung fördert, so dass sich Debatten zu Kulturkämpfen auswachsen: Hier werden der totalitäre Anspruch oder das vermeintlich identitäre Denken alles „Woken“ aufgezeigt, dort pauschale Feindbilder stabilisiert – nicht selten kaschieren die verhärteten weltanschaulichen Fronten innere Ressourcen- und Verteilungskämpfe.
Wo aber verlaufen die Grenzen zwischen politischem Aktivismus und Wahrheitsfindung, zwischen Toleranz und Haltung? Wie viel Emotionalität, wie viel Sachlichkeit, wie viel strategische Komplexitätsreduzierung und Lagerdenken verträgt die Geisteswissenschaft gerade auch im Namen der guten Sache, wenn sie einerseits gesellschaftlichen Wandel anstoßen, zugleich aber ihre eigenen Regeln verteidigen und ihre eigenen Reihen schließen muss, um ihrem weiteren Vertrauensschwund vorzubeugen?
Der CfP fragt nach aktuellen Bestandsaufnahmen: Wie können oder sollten die Geistes- und Kunstwissenschaften den gesellschaftlichen Fliehkräften, den weltweiten Angriffen auf die Demokratie und ihre Institutionen, den von neuen Medien und neuen Technologien befeuerten Vertrauensverlust der Bilder, den Emotionalisierungen und Verhärtungen der Debatten um kulturelle Identität, Teilhabe oder Aneignung, um gesellschaftliches oder natürliches Klima begegnen? Wann droht historische Aufarbeitung ins Revanchistische zu kippen und wann läuft der Kampf gegen verkrustete Strukturen, soziale Klischees oder politische Unduldsamkeiten Gefahr, diese durch neue zu ersetzen? Wie viel Mythos steckt – um mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu fragen – mitunter bereits wieder auch in den gegenwärtigen Projekten der Aufklärung? Die Beiträge können dabei verschiedene Formate annehmen: Von kurzen Essays und Analysen bis zu Statements, Thesen und zukünftigen Handlungsmöglichkeiten. Vorschläge können in Form eines Exposés (max. 2000 Zeichen auf Deutsch oder Englisch) mitsamt einer Kurzbiografie bis zum 15. September 2023 bei julian.blunkuni-graz.at eingereicht werden.
Die Debattenbeiträge in den kritischen berichten widmen sich jedes Jahr einem neuen Themenschwerpunkt, der vom Vorstand des Ulmer Vereins und von der Redaktion der kritischen berichte vorgeschlagen und betreut wird und ergänzen als eigenständige Kategorie die Inhalte der kb-Hefte.
Bisherige Themen der Debattenbeiträge:
Queerness in den Kunstwissenschaften (2023)
Undisziplinierte Institutionen. Kanonfragen, Sichtbarkeiten, Akteur:innen (2022)
Arbeitsbedingungen in den Kunstwissenschaften (2021)
Digitale Kunstgeschichte (2020)
Website der kritischen berichte, wo sie bei arthistoricum.net seit 2023 als open access erscheinen:
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/kb/index
(1): www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf, S. 9. Zugriff am 14.07.2023
Quellennachweis:
CFP: Die Regeln der Debatte: Zur Rolle der Geisteswissenschaft in der multiplen Krise. In: ArtHist.net, 25.07.2023. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/archive/39873>.