Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft Band 49
Veröffentlichung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg/Lahn und des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg
Gedruckt mit Unterstützung der Wilhelm Hahn und Erben-Stiftung in Bad Homburg
Herausgegeben von Ingo Herklotz und Hubert Locher
Redaktion: Karin Kirchhainer
Weimar/Kromsdorf: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2022
INHALT:
KATHRYN BRUSH: A North American Aby Warburg? Frontier Mythology and Medieval Europe in the Scholarly Imagination of Arthur Kingsley Porter
Aby Warburg’s encounter with Indigenous peoples in the American southwest in 1895–1896 has usually been regarded as a unique chapter within the historiography of art and cultural historical scholarship. But it was not. The Harvard medievalist Arthur Kingsley Porter (1883–1933), best known today for his landmark ‘Romanesque Sculpture of the Pilgrimage Roads’ (10 vols., 1923), likewise gained substantial first-hand knowledge of North America’s First Peoples and their cultures during the early years of his career. Operating in historical and intellectual circumstances very different from our own, both scholars imagined that such encounters with the “living past” could in some fashion help them to comprehend the mentality and cultural conditions of pre-modern Europe. Because Porter’s sustained interactions with the North American frontier and its Native inhabitants have been hitherto unknown, the present essay focuses on these new circumstances. The American scholar’s experiences differed in many ways from those of the German, but they appear to have left an equally important imprint on his mode of thinking and methodology. Porter’s mental and bodily engagement with “frontier conditions” helped to animate his scholarly imagination, giving him a multidimensional sense of time, space, and history that contributed to his early twentieth-century vision of Wanderstrassen der Kultur connecting pilgrims, artists, objects, images, and ideas in medieval Europe, the Mediterranean and beyond.
WOLFGANG BRASSAT: Leonardo oder Annibale? Über Anti-Kunst, Hampelmänner und die Anfänge der Karikatur
In seinem Vorwort zu einer 1646 publizierten Sammlung von 80 Radierungen nach Zeichnungen Annibale Carraccis, dem ersten Text, in dem der Begriff „caricatura“ vorkommt und eingehend erörtert wird, rühmte Giovanni Antonio Massani den Bologneser Maler als Erfinder dieser Gattung. Die Kunstgeschichte hat sich dieses Urteil zu eigen gemacht, das in der deutschen Forschung bis heute unisono vertreten wird, obwohl es nicht eine einzige Karikatur gibt, die sich Annibale Carracci sicher zuschreiben ließe, und schon Filippo Baldinucci 1685 in seiner Vita des Baccio del Bianco Massani widersprochen, nämlich beteuert hat, in Florenz habe es dergleichen schon in den 1480er Jahren gegeben. Auf der Grundlage einer Erörterung von Begriff und Entstehung der Karikatur, die hier als eine auf Spottgraffiti von Laien zurückgehende kultivierte Anti-Kunst bzw. an der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst operierende Form verstanden wird, zeigt dieser Beitrag, dass bereits Leonardo da Vinci erste Exemplare dieser Gattung hervorgebracht hat, und wirft Schlaglichter auf deren weitere wechselhafte Geschichte.
MAXIMILIAN NALBACH: ‚Cleopatra animam efflans‘ – Rosso Fiorentino und Benvenuto Cellini im Dialog
Der Aufsatz untersucht eine von der kunsthistorischen Forschung bislang nicht diskutierte Radierung des Malers Giovanni Battista Cipriani aus dem späten 18. Jahrhundert, die – wie die Bildlegende ausweist – ein Wachsmodell von Benvenuto Cellini reproduziert. In kompositorischer und ikonographischer Hinsicht steht die Graphik Rosso Fiorentinos ,Sterbender Kleopatra‘ aus der Sammlung des Brauchschweiger Herzog Anton Ulrich-Museums äußerst nahe. Anhand verschiedener Quellen eruiert der Beitrag die historische Plausibilität der Existenz eines solchen „Kleopatra-Modells“ von der Hand Cellinis sowie dessen mögliche Rolle bei der Genese von Rossos Gemälde, welches die erste Auseinandersetzung des Malers mit einem antiken Bildthema markiert. Im Zentrum steht dabei die Hypothese eines künstlerischen Dialogs beider Florentiner Künstler im Zeichen des ,Paragone‘, der sich in Rom um das Jahr 1524 ereignet haben könnte.
KLAUS ENDEMANN: Politik und Architektur. Der ,Deutsche Bau‘ der Stadtresidenz in Landshut
Seit jeher hat der sogenannte ,Italienische Bau‘ der Stadtresidenz Landshut als „erster Italienischer Palazzo nördlich der Alpen“ (1537–1542) das Interesse der Forschung gefunden. Der klassizistisch umgestaltete sogenannte ,Deutsche Bau‘, der in seiner angenommenen ursprünglichen Gestalt und Disposition auf norditalienische Bautraditionen zurückgeführt wurde, gibt sich nach gründlicher Bauforschung und Untersuchung jetzt als Erstling einer neuen Entwicklung im Palastbau der Hochrenaissance zu erkennen. Tatsächlich haben wir es mit der Umkehrung eines wissenschaftlichen ‚Dogmas‘ zu tun. Diese von Herzog Ludwig X. von Bayern 1536 begonnene städtische Residenz wurde wegen ihrer aus dem höfischen Zeremoniell entwickelten räumlichen Disposition zum Vorbild für den Palastbau der Folgezeit. Andrea Palladio übernahm sie nur vier Jahre später für seinen, von der Forschung (Herbert Pée, Erik Forssman, Rudolf Wittkower) als Meisterwerk gelobten Palazzo Porto in Vicenza.
GEORG SATZINGER: Giambologna’s Bronze Venus for Henri IV?
In the controversy over whether the bronze of a ‘Bathing Venus’ (private collection) is a cast after Giambologna’s marble Venus (Getty Museum), made in Sweden in 1697, or a second version modelled by Giambologna himself in Florence in 1597 as a gift from the Grand Duke Ferdinando I for King Henri IV of France and which was cast by an itinerant caster from Stockholm, the article evaluates the arguments of the parties and supplements them with observations on the Tuscan order of the column with the result that there can be no doubt about the creation of the bronze by Giambologna in Florence in 1597 and its destination as a diplomatic gift for Henri IV.
CHRISTINA STRUNCK: Overlooked Presences. Empress Elisabeth Christine, Maria Antonia of Austria and Empress Maria Amalia in Asam’s, Amigoni’s and Bys’ Ceiling Paintings at Pommersfelden and Schleißheim
In Baroque palaces the main staircase and the central hall on the first floor are often decorated with elaborate pictorial programmes. Apart from the vestibule, they were the first rooms a visitor encountered and were thus particularly important in Baroque court ceremonies. Traditionally, the programmes of such rooms have been interpreted with reference to the personality and aims of the male patron. This article argues, however, that female presences should not be overlooked. In Schloss Weißenstein at Pommersfelden, the frescoes were commissioned by Lothar Franz von Schönborn to celebrate Emperor Charles VI, but as the patron was particularly close to Empress Elisabeth Christine, she takes pride of place both in Johann Rudolf Bys’s ceiling painting in the staircase and in the adjacent Marble Hall decorated by Johann Michael Rottmayr, both dated to 1717. Similarly, at Schloss Schleißheim near Munich, Cosmas Damian Asam and Jacopo Amigoni did not only glorify the patron, Elector Maximilian II Emanuel of Bavaria, and his son Karl Albrecht, but also their wives, Maria Antonia and Maria Amalia of Austria. As both women belonged to the imperial family, these dynastic unions had a high political value for the house of Wittelsbach and were accordingly emphasized in these ceiling paintings of 1721/22.
KATHARINA KRAUSE: Friedrich Gilly und die Straßen von Paris
Im Zentrum des Beitrags steht eine Zeichnung, die Friedrich Gilly während seiner Studienreise in Paris angefertigt hat. Sie zeigt einen Abschnitt der Rue de Chartres, die im Rahmen einer Immobilienspekulation nach 1780 zwischen Louvre und Tuilerien errichtet wurde und unter Napoléon III wieder verschwand. Für das Wohn- und Geschäftshaus, dem Gillys besonderes Interesse galt, kann hier erstmals ein Plansatz zugeordnet und der Architekt identifiziert werden. Es handelt sich um Nicolas-Samson Lenoir le Romain, von dem auch der städtebauliche Entwurf für das Quartier stammte. Gillys Blatt kombiniert Eigenschaften der präzisen Architekturzeichnung und der Veduten, um die architektonischen Stärken und die städtebaulichen Schwächen seines Gegenstandes zu zeigen: das moderne Haus, die enge, dazu noch abknickende Straße in einem belebten, zentral gelegenen Pariser Stadtviertel.
ANNA MARIA VOCI: Rifugio negato. Nikolaus Pevsner e il progetto di emigrare in Italia nel 1933
Questo saggio è un contributo alla biografia di Nikolaus Pevsner, in particolare alle vicende del 1933, un anno cruciale per lo storico dell’arte, come per innumerevoli altri accademici tedeschi ed ebrei che perdettero il posto e furono costretti all’esilio. Grazie a nuovi documenti è stato possibile ricostruire molti aspetti, finora ignorati, del primo tentativo di emigrazione di Pevsner, che non fu diretto verso la Gran Bretagna, ma verso l’Italia, a Roma. Da altre fonti, rimaste fino ad oggi ignote, si apprende inoltre che, quando, durante l’estate del 1933, l’opzione italiana cominciò a mostrarsi impraticabile, egli cercò anche, ma inutilmente, un posto in Turchia, a Istanbul.
INGEBORG BECKER: Eugen Spiro (1874–1972): Ein Maler der Berliner Secession im Pariser Exil. Neue Archivalien aus den Jahren 1935–1940
Eugen Spiro, ein sehr erfolgreicher deutsch-jüdischer Künstler der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik, verließ Berlin nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten; er fand in Frankreich Exil und später in den USA eine neue Heimat. In Deutschland gehört Spiro – aufgrund von Emigration und Exil – zu den vergessenen Künstlern seiner Generation. Im französischen Exil von 1935 bis 1940 engagierte sich Spiro mit großer Aktivität in der anti-nationalsozialistischen Kulturarbeit eines „Freien Deutschlands“. Sein Archiv und seine persönlichen Unterlagen ließ er infolge seiner weiteren Flucht und der Ausreise in die Vereinigten Staaten in Paris zurück. Durch neue Auswertungen des zwar nur fragmentarisch vorhandenen Nachlasses Spiros aus diesen Jahren, der sich heute in Berlin im Archiv der Akademie der Künste befindet, sind weitergehende Einblicke in sein künstlerisches und gesellschaftliches Umfeld sowie in sein Alltagsleben im Pariser Exil möglich geworden.
Reference:
TOC: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 49 (2022). In: ArtHist.net, May 31, 2023 (accessed Oct 9, 2024), <https://arthist.net/archive/39380>.