TOC 28.06.2022

Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 48 (2021)

Karin Kirchhainer

Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft Band 48

Veröffentlichung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg/Lahn und des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg

Gedruckt mit Unterstützung der Wilhelm Hahn und Erben-Stiftung in Bad Homburg
Weimar/Kromsdorf: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2021

Herausgegeben von Ingo Herklotz und Hubert Locher
Redaktion: Karin Kirchhainer


INHALT:

KAREN MICHELS: „Die Gottlosen des freigelassenen Temperaments“. Zur Theorie und Praxis der gebauten Pathosformel

Der von Aby Warburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägte Begriff der „Pathosformel“ hat als Leitmotiv einer ganzen Reihe von geisteswissenschaftlichen Ansätzen eine eindrucksvolle Karriere gemacht. Sein Erfinder hat ihn in erster Linie zur Beschreibung von bildlichen Darstellungen genutzt. Hier soll gefragt werden, inwieweit sich die „Pathosformel“ in ihrem ursprünglichen Sinne auch für die Architektur fruchtbar machen lässt. Ein bisher kaum beachteter Hinweis auf entsprechende Überlegungen findet sich im Tagebuch seiner „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“, in der Warburg „die neue Cadenz in der Massenverteilung auf der Fassade“ und den „Rustikasockel“ als symbolisch relevante Medien ins Spiel bringt. Letzterer kann, so das Ergebnis der hier vorgestellten Versuchsanordnung, mit Recht als eines jener kulturellen Symptome, als eines jener energetisch aufgeladenen „Superlative der Gebärdensprache“ betrachtet werden, in denen sich „allgemeine und wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes“ (Erwin Panofsky) oder einer historischen Situation zu einer Formel verdichten.


JULIAN GARDNER: “Modern” Saints, Competing Orders and Comparative Iconographies. The Representation of Mendicant Saints from Francis of Assisi to Elzéar de Sabran

Papal requirements for canonization were increasingly codified by the early fourteenth century. Francis and Dominic were rapidly canonized, but the voluminous dossier for Nicholas of Tolentino failed. Francis was commemorated at his Assisi tomb with a mural cycle subsequently mutilated by the insertion of private chapels. Its successor, the Saint Francis Legend differed fundamentally. Dominic was commemorated in his burial church by an elevated, sculpted shrine, which rejected the Franciscan linkage of tomb and altar. The purpose-built Cappellone at Tolentino displayed the cycle of a local saint with differentiated viewing entrances and a prominent musical iconography. Differing strategies were adopted for subsequent mendicant saints. Simone Martini was decisive in establishing the iconographies of Louis of Toulouse († 1297) and the Augustinian Beato Agostino Novello († 1309). The Dominicans systematically funded the shrine of Peter Martyr († 1252) at Milan. Formally similar to Dominic's shrine it imposed different viewing imperatives. Thomas Aquinas († 1274) is accorded exceptional prominence in Lippo Memmi's Glorification of Thomas and Orcagna's Strozzi Altarpiece. None of these newer mendicant saints achieved a lasting iconography. Francesco Traini adopted a retrospective approach for his St. Dominic at Pisa. The shrine of Elzéar de Sabran († 1323) at Apt was modelled on the high altar ciborium of the Lateran. The most convincing new iconography was created for Nicholas of Tolentino recording a sanctity neither heroic nor subversive – but of a prodigious thaumaturge.


HELGA BILL: Sakrale Miniatur- und Monumentalmalerei für den Deutschorden in Frankfurt. Zwei Werke der Frühgotik in Hessen.

In Frankfurt am Main haben sich zwei Werke der Frühgotik in Hessen erhalten, die in der Kunstgeschichte bisher wenig Beachtung fanden. Das nach der Deutschordensliturgie geschriebene und vermutlich für die Weihe der Deutschordenskirche in Frankfurt bestimmte Brevarium cum Calendario ist mit Miniaturen zum Leben und zur Passion Christi geschmückt. Die sakrale Monumentalmalerei in der Frankfurter Deutschordenskirche erzählt in bewegenden Bildern vom Leiden und Sterben des Gottessohnes. Stilistische Besonderheiten sprechen dafür, dass die beiden Werke im Wirkungsbereich der ersten Hessischen Landgrafschaft im Werkstattzusammenhang der damaligen Kunstzentren Marburg und Fritzlar zu verorten sind und ihre Ausführung während des ersten Viertels des 14. Jahrhunderts erfolgte. Die Miniaturen des Breviers und die Wandmalerei in Frankfurt dokumentieren den Prozess der Stilentwicklung in einer Region, die künstlerisch nie originär eigenständig, sondern aufgrund ihrer geographischen Lage stets mannigfaltigen überregionalen Kunstströmungen ausgesetzt war.


DANIELE GUERNELLI: VANNI DI BALDOLO “ET SOCII”. Una nuova Matricola perugina

The article presents a previously unpublished illuminated manuscript of Vanni di Baldolo, a painter and illuminator active in the second quarter of the XIV Century Perugia. Preserved in Modena’s University Library, the codex was gifted to the library by Marques Campori, and its text is a version of the Register of the member of the Guild of ‘Pannilana’, that gathered tanners, carders, spinners, weavers, dyers and toppers of the city of Perugia. It is decorated with five illuminations, with Archangel Michael, Saint Hercolanus (or Gregory the Great), Saint Peter, Saint Susanna and Saint James, that corresponds to the five gates of the city: Porta Sole, Porta Sant’Angelo, Porta Santa Susanna, Porta Eburnea and Porta San Pietro. These Saints were cut from an old version of the ‘Matricola’, and pasted in the present one, datable around 1450–1460. They are also an interesting exemple of how the Vanni di Baldolo, who in another ‘Matricola’ in private collection signed “Vanes Baldoli et socii fecerunt me sub annis D[om]ini MCCCXXXIII”, intended the reuse of his models, leaving the ‘true hand’ of Vanni still not easy to focus, within the clear frame of his style.


Philipp Hubert: Septem Orbis Admiranda. Antonio Tempestas Radierungen der Sieben Weltwunder (1608)

Der Beitrag untersucht erstmals Antonio Tempestas Serie von Radierungen, die als frühes Beispiel für das im 16. Jahrhundert einsetzende Interesse an der Abbildung der Sieben Weltwunder gelten kann. Tempesta kombinierte kenntnisreich die Beschreibungen antiker Autoren mit anderen Darstellungen der Wunder und gelangte so zu Rekonstruktionen, die zum Teil noch heute überzeugen. Ein offensichtliches Interesse des Künstlers scheint dabei der kollektive logistische Aufwand gewesen zu sein, der zur Errichtung der Bauten erforderlich war. Tempesta setzt damit einen ungewöhnlichen Schwerpunkt, da die Weltwunder in der Regel als außergewöhnliche künstlerische Leistungen betrachtet wurden, wie ein kurzer Vergleich mit Marten van Heemskercks einflussreicher Serie zum selben Thema zeigt. Doch dies ist nicht das einzige ungewöhnliche Merkmal von Tempestas Darstellungen, denn die Weltwunderbauten werden in einer osmanischen Umgebung gezeigt, wodurch die antiken Monumente die territoriale Situation um 1600 reflektieren. Der Künstler verkaufte seine Platten nach Antwerpen, wo die Bilder mit Versen versehen und einem niederländischen Fürsten gewidmet wurden. Die Beischriften verändern die Bedeutung der Darstellungen, da sie die Wunder mit der Nichtigkeit des weltlichen Ruhms verbinden und sie somit in einen moralisierenden Kontext einfügen.


LOTHAR SICKEL: Vorheilige Verehrung. Inoffizielle Personenkulte in römischen Kirchen dokumentiert von Jaime Juan Balaguer im Dezember 1618

Eine neu entdeckte Serie von sechs anonymen Zeichnungen vermittelt einen selten lebendigen Eindruck von der populären Verehrung noch nicht heiliggesprochener Geistlicher in römischen Kirchen. Die Zeichnungen ließ der aus Valencia stammende Kanoniker Jaime Juan Balaguer im Dezember 1618 anfertigen und notariell beglaubigen, um mittels jener „Beweisstücke“ das stockende Verfahren zur Seligsprechung des 1612 in Valencia verstorbenen Francisco Jerónimo Simón zu unterstützen. Die Initiative blieb erfolglos, doch handelt es sich bei den Zeichnungen um einzigartige Bildzeugnisse der damals in Rom anzutreffenden Andachtsstätten für Filippo da Ravenna, Pedro de Alcántara, Angelo del Pas und Felice da Cantalice. In dem illustrierten Zustand sind sie alle nicht mehr erhalten. Als Rarität können die Zeichnungen auch deshalb gelten, weil sie die Strategien von Heiligsprechungsverfahren zumal in jenen Fällen beleuchten, in denen jene Prozesse nicht selten scheiterten.


STEFANIE LENK: „Außerchristliche“ Kunst zwischen Theologie und Religionswissenschaft – Rudolf Ottos und Heinrich Fricks Religionskundliche Sammlung an der Universität Marburg

Mit der Gründung der Religionskundlichen Sammlung an der Universität Marburg im Jahr 1926 beförderte der Religionswissenschaftler Rudolf Otto die Etablierung der akademischen Disziplin Religionswissenschaft. Gemeinsam mit dem Missionswissenschaftler Heinrich Frick schuf Otto eine in Größe und Qualität außerordentliche Sammlung religiöser Kunst und materieller Kultur. In der Gründungsphase (1926–1929) bildeten sich zwei Grundpfeiler der Sammlungs- und Ausstellungspolitik heraus: Die annähernde Abwesenheit ‚westlicher‘ christlicher Exponate und der Anspruch auf einen Alltags- und Gegenwartsbezug in der Darstellung von Religion. Der Aufsatz beleuchtet die Motivationen hinter diesen Entscheidungen und weist auf vorbildgebende Einrichtungen für die Museumsgründung hin. Neben Institutionen der Religionswissenschaft – das Musée Guimet in Paris und Hans Haas’ ,Bilderatlas zur Religionsgeschichte‘ – waren auch Vorbilder aus Theologie und Kunstgeschichte wegweisend. Marburger Impulsgeber könnten der Kirchenhistoriker Hans von Soden, unter dessen Leitung die Sammlung des christlich-archäologischen Seminars die Moderne einbezog, sowie der Kunsthistoriker Richard Hamann gewesen sein. Der Aufsatz diskutiert abschließend die problematische Balance von Gegenwartsbezug und Zeitlosigkeit in der Darstellung östlicher, westlicher und sogenannter ‚primitiver‘ Religionen in den Anfangsjahren der Sammlung.


ANDREAS ZEISING: Das künstlerische Ethos der Frau: Die deutsch-jüdische Kunstschriftstellerin Margot Rieß (1893–1942)

Margot Rieß (1893–1942) war nach einer Promotion im Fach Zoologie seit 1925 in Berlin als freie Kunstschriftstellerin und in der Volksbildung tätig, sie lieferte zudem auch Beiträge für das neue Zeitgeistmedium Radio. Bis in die dreißiger Jahre hinein machte sie die moderne „schöpferische Frau“ und „weibliches Künstlertum“ zum bevorzugten Gegenstand ihrer Veröffentlichungen. Der Aufsatz diskutiert, ob von einem Beitrag zur Emanzipation oder von einem Rückzug auf ein geduldetes Terrain „weiblicher Kreativität“ zu sprechen ist. Mit einem bibliografischen Anhang der Publikationen von Margot Rieß.


ALEJANDRA MANTILLA DIAZ: Aesthetics of Nostalgia in Three Contemporary Latin American Films

Digitalization has changed the way we communicate and experience the world. In filmmaking, every part of the filmmaking practice has changed, from digital technologies for image and sound recording to changes in editing and distribution. This shift has caused anxiety regarding the future of media and society itself, producing nostalgia. Following Svetlana Boym’s statements about nostalgia as a sentiment resulting from significant social changes, this text studies the connection between nostalgia and the cinematographic medium. By analyzing three films from different Latin American countries (Mexico, Chile, and Colombia) shot in analog technologies throughout the digital era, the essay aims to understand the implications of analogy as an aesthetic choice, taking the materiality, style, narrative, and filmmaking process of the medium into account. The nostalgia represented in these films is hybrid. It reflects on the past while taking part in the modernization processes driving this nostalgia.

Quellennachweis:
TOC: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 48 (2021). In: ArtHist.net, 28.06.2022. Letzter Zugriff 16.04.2024. <https://arthist.net/archive/37034>.

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