Prophetie und Prognostik
Jahrestagung des Zentrums fuer Literatur- und Kulturforschung (ZfL)
Donnerstag, 25.11.2010 bis Samstag, 27.11.2010
Tagungsort: ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin,
3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Die jüngste Finanzkrise hat eindrücklich deutlich gemacht, in welchem
Maße ökonomische und politische Entscheidungen von Wissen über die
Zukunft abhängig sind und wie unzuverlässig dieses Wissen sein kann. Die
dramatische Falsifikation von Wachstumsversprechungen, aber auch die
daraus erwachsenden Krisen- und Untergangserwartungen legen es nahe, die
suggestive Kraft des Sprechens von der Zukunft kulturwissenschaftlich in
den Blick zu nehmen. Denn auch das methodisch reflektierte
Zukunftswissen bezieht seine eigentliche Macht aus der Vorwegnahme von
Zukunft im Hier und Jetzt der Äußerung. Jede Prognose lässt sich immer
auch als Appell, Warnung, Drohung oder Trost verstehen.
Die Prophetie ist demgegenüber keinesfalls nur ein
'vorwissenschaftlicher' Vorgänger der Prognostik, sie hat vielmehr
eigene Formen der Rede ausgebildet, die durch die gegenwärtige Rückkehr
der Religionen neue Aktualität gewonnen haben. Ein Prophet sagt nicht
primär Zukunft voraus, sondern tritt als Bote auf, dessen Stimme eine
höhere, transzendente Wahrheit zu Wort kommen lässt. Das wiederum ist
problematisch, weil sich ein solcher Bote zugleich mit seiner Botschaft
identifizieren und sich von ihr unterscheiden muss. Während also
Prognosen Fiktionen einer wahrscheinlichen Zukunft entwickeln, sind
Prophezeiungen Fiktionen einer unwahrscheinlichen Wahrheit.
Auch prognostisches Wissen entstand oft im religiösen Kontext. In der
Neuzeit versucht jedoch die statistische Prognostik, die vorausgesetzte
Regularität weltlicher Prozesse vor dem Horizont kontingenter
Möglichkeiten auf eine wahrscheinliche Zukunft hin auszurechnen. Somit
spielt die Prognostik eine entscheidende Rolle in der politischen
Planung und wird in der zukunftsorientierten Moderne zu einem
entscheidenden Faktor kulturellen Wissens. Die heutige methodisch
reflektierte Zukunftsforschung beansprucht nicht, zukünftige Gegenwarten
zu erforschen, sondern versteht sich als Wissenschaft gegenwärtiger
Zukünfte. Auch sie entgeht allerdings nicht gänzlich der
Suggestionskraft des Vor-Wissens. Der Prognostiker kann daher auch
weiterhin mit dem Propheten verwechselt werden: Beide stehen für
unsichere Äußerungen, die spezifische Formen des Wissens
(wissenschaftliche Modelle, mathematische Verfahren) mit kulturellen
Symboliken (Erfüllung und Katastrophe, Frist und Ende) und typischen
Äußerungsformen (Warnung, Drohung, Trost) vielfältig kombinieren.
PROGRAMM
Donnerstag, 25.11.2010
15.00 Uhr
Sigrid Weigel (ZfL): Begrüßung
Daniel Weidner/Stefan Willer (ZfL): Einführung: Prophetie und Prognostik
SEKTION 1: Prophetie, Prognose, Politik
Moderation: Jörg Thomas Richter (ZfL)
15.30-17.30 Uhr
Brian Britt (Virginia Tech): Die Zukünfte der biblischen Prophetie
Armin Grunwald (Karlsruher Institut für Technologie): Zur Verfertigung
'wissenschaftlicher' Zukünfte für die Politikberatung
18.00 Uhr
Podiumsdiskussion "Aktualität der Prognostik"
Daniel Weidner im Gespräch mit Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe (Potsdamer
Institut für Klimafolgenforschung), Ulrike Herrmann (die tageszeitung),
Thomas Macho (HU Berlin)
Freitag, 26.11.2010
SEKTION 2: Schauplätze des Sprechens
Moderation: Daniel Weidner
10.00-12.00Uhr
Robert Stockhammer (LMU München): Das Tier, das vorhersagt.
Pro-Sprechakte zwischen Vor- und Ver-Sprechakten
Birgit Griesecke (ZfL): Then you know. Sprachspiele der
Pränataldiagnostik
12.30-13.30 Uhr
Herbert Marks (Indiana University): The Ghost of Samuel, or the Biblical
Critique of Prophecy
SEKTION 3: Visionen von Schrecken und Trost
Moderation: Jörg Thomas Richter
15.00-17.00 Uhr
Bernd Mahr (TU Berlin): Ansichten der Zukunft. Modelle und Visionen
Margarete Vöhringer (ZfL): "Die Zukunft ist unser einziges Ziel".
Utopisches und Konkretes in der Kunst der russischen Avantgarde
17.30-18.30 Uhr
Jürgen Brokoff (Universität Bonn): Heilsversprechen, Trost, Rettung. Zur
Konstellation Hölderlin - Hellingrath - George
19.00 Uhr
Lesung
Patrick Roth: Real Time an den Feuern
Moderation: Stefan Willer
Samstag, 27.11.2010
SEKTION 4: Vorgängerschaft und Nachleben
Moderation: Martin Treml (ZfL)
10.30-12.30 Uhr
Ian Balfour (York University): Shelley between Spinoza and Benjamin: On
the Spirit of Prophecy
Herbert Kopp-Oberstebrink (ZfL): Der Historiker als "rückwärts gekehrter
Prophet". Zum Nachleben einer Denkfigur der Romantik
13.00-14.00 Uhr
Angelika Neuwirth (FU Berlin): Der Prophet Muhammad. Ikone eines
Rebellen im Wahrheitsstreit oder Tabula rasa für den Empfang göttlicher
Wahrheit?
SEKTION 5: Nicht-Wissen und Fiktion
Moderation: Stefan Willer
15.30-16.30 Uhr
Gabriele Gramelsberger (FU Berlin): Prognose, Projektion, Szenario.
Storylines der Klimamodellierung
17.00-19.00 Uhr
Rüdiger Campe (Yale University): Prognostisches Präsens. Zur Zeitform
des probabilistischen Denkens
Elena Esposito (Università di Modena e Reggio Emilia): Formen der
Zirkularität in der Konstruktion der Zukunft
Kontakt:
Birgit Dreiling, dreiling [at] zfl-berlin.org;
Jana Wolf, wolf [at] zfl-berlin.org
Ein detailliertes Exposé sowie ein laufend aktualisiertes Programm
finden Sie unter:
http://www.zfl.gwz-berlin.de/veranstaltungen/veranstaltungen//_/379/?
cHash=0bcea02b25
Quellennachweis:
CONF: Prophetie und Prognostik (Berlin, 25-27 Nov 10). In: ArtHist.net, 10.11.2010. Letzter Zugriff 20.10.2025. <https://arthist.net/archive/33168>.