CFP Oct 28, 2010

Wiederaufgelegt (Berlin, 5-7 May 11)

Annette Gilbert

Wiederaufgelegt.
Zur Appropriation von Texten und Büchern

Workshop zur Vorbereitung eines Sammelbandes und einer Anthologie
5. - 7. Mai 2011, Kunstbibliothek Berlin
Deadline für Abstracts: 20.12.2010

Was Jorge Luis Borges 1939 in "Pierre Menard, Autor des Quijote" noch
imaginierte, ist inzwischen aus der Literatur nicht mehr wegzudenken:
Seit den 1950er Jahren, insbesondere in den letzten Jahren, entstehen
zunehmend Bücher, für die keine neuen, eigenen Texte mehr produziert
werden. Statt dessen werden bereits existierende Texte und gar ganze
Bücher re-ediert, das heißt: wiederaufgelegt, abgeschrieben,
katalogisiert, aktualisiert, kopiert, paraphrasiert, imitiert,
plagiiert, variiert, zensiert, manipuliert, korrigiert,
rekontextualisiert etc. und in (zumeist kleinen) Verlagen
herausgebracht. Die 'recycelten' Texte und Bücher entstammen dabei
unterschiedlichsten Diskursen: von der Philosophie und Psychologie über
die Massenmedien und Populärkultur bis hin zur Kunst und Literatur. Im
Fall der Appropriation literarischer Werke, der im vorliegenden Projekt
besondere Beachtung geschenkt werden soll, werden mit Vorliebe
kanonische Texte appropriiert, etwa Büchner, Flaubert, Hemingway, Joyce,
Mallarmé, Melville, Milton, Rossetti, Poe, Puškin, Shakespeare, Stein.
Als Leitmotto der gegenwärtigen Welle von Appropriationen von Büchern
und Texten dient häufig eine Aussage des Konzeptkünstlers Douglas
Huebler aus dem Jahr 1969: "the world is full of objects, more or less
interesting; I do not wish to add any more". Sie kann, wie Michalis
Pichler in seinen "Statements of Appropriation" (2009) zeigt, ohne
Weiteres auf die Literatur übertragen werden: "The world is full of
texts, more or less interesting; I do not wish to add any more."
Beispielhaft kann für diese Attitüde auch das folgende Statement Ron
Sillimans stehen: "The New Sentence? The Old Sentence, reframed, is
enough." Kreativität und Originalität müssen bei dieser Art von
"uncreative writing" an ungewohnter Stelle gesucht werden – nicht im
Text selbst, der 'geklaut' ist, sondern im speziellen Umgang mit diesem,
im Konzept. Denn wie in der Concept Art wird das angeeignete Material
einer Idee unterworfen und neu aufbereitet. Der Konzeptdichter Kenneth
Goldsmith formuliert in Abwandlung eines berühmten Statements von Sol
LeWitt: "When an author uses a conceptual form of writing, it means that
all of the planning and decisions are made beforehand and the execution
is a perfunctory affair. The idea becomes a machine that makes the
text." Auf dieser Analogie zur Concept Art gründet die Bündelung der
oben beschriebenen Phänomene unter dem Label des Conceptual Writing, das
in den letzten Jahren – geschickt lanciert von einer Gruppe
US-amerikanischer Dichter und Literaturwissenschaftler um Craig Dworkin
und Kenneth Goldsmith – zunehmend an Verbreitung und Akzeptanz gewinnt
und von Craig Dworkin als "Poesie des Intellekts, nicht der Emotion"
definiert wird.
Da der künstlerischen Appropriation von Texten und Büchern also ein
Verständnis von Sprache, Schrift, Text und Buch zugrunde liegt, das
statt der Semantik ihre Qualität als Material, Objekt, Datenmenge,
Schriftbild, Layout in den Vordergrund stellt, wirkt sie häufig
provokant. Und da die Auswahl und die Art der Behandlung der
Ausgangstexte implizit als Kommentierung derselben wirken, stellen
Appropriationen darüber hinaus meist auch eine parodistische und/oder
intervenierende und immanent politische Geste dar. Zudem werden mit ihr
traditionelle ästhetische und juristische Kategorien wie Original,
Kopie, Autor, Urheberschaft in Frage gestellt. Im Gegensatz etwa zur
appropriation art Sherrie Levines in den 1980er Jahren und zu den
jüngsten 'Plagiaten' Helene Hegemanns hat dies bisher jedoch weder zu
stürmischen Erregungen im Kunst- und Literaturbetrieb noch zu einer
tiefer gehenden Beachtung in der Wissenschaft geführt. Das mag daran
liegen, dass die Werke bisher alles andere als einer breiten
Öffentlichkeit bekannt sind und im normalen Buchhandel selbstredend
nicht zu finden sind. Literaturbetrieb und -wissenschaft ignorieren
jedenfalls weitgehend experimentelle und konzeptuelle Literatur und
Künstlerbücher, die Diskussion von Strategien der Appropriation
beschränkt sich hier meist klassisch auf Fragen des Plagiats, der
Intertextualität, des Zitats und der Collage/Montage und betrifft
allenfalls die Popliteratur. Und in der Kunst(-wissenschaft) wurde
bisher – sieht man von einzelnen Werken wie Marcel Broodthaers "Un Coup
de Dès (image)" und John Cages "Writing-Through Finnegans Wake" oder dem
gegenwärtigen Boom von Ed Ruscha-Appropriationen ab – noch kaum
konstatiert, dass zunehmend auch Literatur, Texte und das Medium Buch
zum Objekt künstlerischer Appropriationen geworden sind. So ist bspw.
kaum bekannt, dass Sherrie Levine nicht nur Fotos von Walker Evans unter
ihrem Namen ausgestellt, sondern auch Flauberts "Un Cœur Simple" neu
aufgelegt, mit ihrem Namen auf dem Cover und einer ISBN versehen und in
den Buchhandel gebracht hat.

Das vorliegende Projekt soll das oben beschriebene Phänomen erstmals
erfassen und bekannter machen, es dabei in einen größeren Kontext
stellen und einen ersten, umfassenden Überblick über seine Bandbreite in
historischer, systematischer und komparatistischer Sicht geben. Gefragt
sind vor allem übergreifende Beiträge zur künstlerischen Appropriation
von (insbesondere literarischen und philosophischen) Texten und Büchern
in Büchern – und zwar nicht nur in der amerikanischen und
westeuropäischen Literatur und Kunst, sondern gern auch in anderen
Sprach- und Kulturräumen, etwa dem südamerikanischen oder osteuropäischen.

Zu dem Workshop in Berlin vom 5.-7. Mai 2011 sollen neben
WissenschaftlerInnen (v.a. der Literatur- und Kunstwissenschaften) auch
KünstlerInnen und ggf. VerlegerInnen eingeladen werden. Aufgehen sollen
die Ergebnisse des Workshops in einem Sammelband mit wissenschaftlichen
Beiträgen und einer Anthologie mit künstlerischen Werken.

Der projektierte Sammelband könnte sich in folgende Sektionen gliedern:
1) einführende, überblicksartige und vergleichende Beiträge zur
Kontextualisierung des Phänomens (Vorläufer und Parallelen, etwa
Duchamp, concept art, conceptual writing, appropriation art, fluxus, pop
art, Popliteratur, copy art, experimentelle Poesie, Oulipo,
L=A=N=G=U=A=G=E Poetry, Situationismus, Moskauer Konzeptualismus etc.)

2) übergreifende theoretische und systematisierende Beiträge zu
grundlegenden Kategorien und Konzepten (etwa zur Frage von Autorschaft –
Originalität; Original – Kopie, Wiederholung, Objektivität –
Subjektivität; zur Umwertung der Werte: "unboring boring", "uncreative
writing"; zur Appropriation zwischen Kritik, Intervention, Détournement,
Parodie)

3) Systematisierende und vergleichende Beiträge zu typischen Formen,
Operationen und Verfahrensweisen der Appropriation von Texten und
Büchern (z.B. zu Operationen der Verdichtung, Subtraktion, Addition,
Permutation, Inversion, Löschung, Visualisierung, Übersetzung; zum
ordnenden Umgang mit Datenmengen in Archiv, Katalog, Enzyklopädie,
Alphabet; zu Art und 'Tiefe' des Eingriffs und seiner Markierung; zu
Fake / Imitation / Plagiat der Buch- und Covergestaltung im Stile
bestimmter Verlage oder Buchgenres und -formate etwa bei Reclam- oder
Gallimard-Appropriationen oder im Fall von äußerlichen Anleihen bei der
Bibel, Handbüchern, Katalogen, Bilderbüchern, etc.)

4) Studien mit besonderem Fokus auf der Appropriation von Werken aus der
Literatur und Philosophie. Denkbar sind sowohl vergleichende Studien zu
einzelnen AutorInnen/Werken, die mehrfach appropriiert wurden (etwa
Shakespeare oder Mallarmé) als auch zu DichterInnen/KünstlerInnen, die
mehrere literarische Appropriationen vorgelegt haben (etwa Rodney
Graham) als auch zu Spezialfällen wie Popliteratur und erasure poetry.
Weitere Vorschläge sind willkommen.

Abstracts im Umfang von max. 2 Seiten (inkl. Arbeitstitel und kurzer
Biobibliographie) richten Sie bitte bis 20.12.2010 an
annette.gilbertfu-berlin.de. Die Beiträge zum Workshop können gern
Skizzencharakter haben und sollen als Diskussionsgrundlage dienen. Sie
sollten bis 10.04.2011 vorliegen, damit sie an alle Beteiligten vor
Beginn zur Vorbereitung verschickt werden können.

Das Projekt wird gefördert von der VolkswagenStiftung. Die Kosten für
Anreise und Übernachtung können erstattet werden.

Organisation und Kontakt:
Dr. Annette Gilbert
Dilthey Fellow der VolkswagenStiftung
Peter Szondi-Institut für AVL an der FU Berlin
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
e-mail: annette.gilbertfu-berlin.de

Als erste Orientierung seien folgende Beispiele von Appropriationen genannt:
Heimrad Bäcker: nachschrift, Derek Beaulieu: Flatland. A Romance in Many
Dimension, Derek Beaulieu: Local Colour, Caroline Bergvall: Via, Jen
Bervin: Nets, Marcel Broodthaers: Un coup de Dés (image, Marcel
Broodthaers: Charles Baudelaire: je hais le mouvement qui déplace les
lignes, Riccardo Boglione: Ritmo D – Feeling the blanks, Bob Brown:
Gems: A Censored Anthology, James Lee Byars: P.I.I.T.L., John Cage:
Writing through Finnegans Wake; Ulises Carrion: SONNET(S), Gerhild Ebel:
Die neue Versleere, Cerith Wyn Evans: Un Coup de Dés (2009), Rob
Fitterman: The Sun also also rises, Rodney Graham: La Veranda, Rodney
Graham: The System of Landor's Cottage, Rodney Graham: Through the
Forest, Peter Greenham: Aus deutscher Lyrik, Robert Groborne: Une
lecture ... (du Livre des ressemblances, Edmond Jabès), Paul Heimbach:
Textbetrachtung. Textabschnitt aus Entweder – Oder von Sören
Kierkegaard, Matthew Higgs: Total Despair, Ronald Johnson: Radi Os,
Thomas Kapielski: Gadamer, Thomas Kapielski: Ungares Gulasch; Martin
Kippenberger: William Holden Company; Yves (Klein): Peintures. Preface
de Pascal Claude; Jarosław Kozłowski: "Reality", Michael
Maranda: Un Coup de Dés, Steve McCaffery: Dark Ladies (2006), Scott
McCarney: Diderot Americana, Simon Morris: re-writing Freud, A.R. Penck:
Analysis; Tom Phillips: A Humument. A Treated Victorian Novel, Michalis
Pichler: SOME MORE SONNET(S), Michalis Pichler: Der Einzige und sein
Eigentum, Michalis Pichler: Un Coup de Dés, Simon Popper: Ulysses,
Dmitrij Prigov: Evgenij Onegin Prigova Puškina, Edition Ex Libris des
Salon-Verlags; Allen Ruppersberg: Henry David Thoreau's Walden, Nick
Thurston: Reading the Remove of Literature, Timm Ulrichs: Raymond
Chandler: Playback, Timm Ulrichs: Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner techn. Reproduzierbarkeit. Die Fotokopie der Fotokopie der
Fotokopie, Vadim Zacharov: Auf einer Seite: Dante Alighieri I "Die
Hölle", Heimo Zobernig / Adolf Freiherr Knigge: Über den Umgang mit
Büchern / Über den Umgang mit Menschen …

Reference:
CFP: Wiederaufgelegt (Berlin, 5-7 May 11). In: ArtHist.net, Oct 28, 2010 (accessed Nov 5, 2025), <https://arthist.net/archive/33011>.

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