Tausend Tableaus
Die Bilder der Forschungsreisenden
Workshop des NFS Eikones, Basel 14.-15. Mai 2009
Alexander von Humboldt, der heute als großer Autor verehrt wird, tat sich
gerade mit dem Schreiben schwer. Er benötigte drei Jahrzehnte, um seine
Südamerikareise zu Papier zu bringen. Dabei brauchte er sein Vermögen auf
und legte zuletzt ein sperriges Textmassiv vor, das nur wenige Leser fand.
Seinen zahlreichen Nachfolgern erging es nicht besser: Im 19. Jahrhundert
stößt man immer wieder auf Forschungsreisende, die sich nach der Rückkehr
über der Menge ihrer Materialien und Daten verzettelten. Der illustrierte
Reisebericht, eines der erfolgreichsten literarischen und
wissenschaftlichen Genres der Aufklärung, geriet in die Krise. In den
Romanen Karls Mays, der sich mit seinen langatmigen
Landschaftsschilderungen als gelehriger Humboldtianer erweist, feierte er
eine späte Auferstehung im Reich der Fiktion.
Ganz anders erging es den beigegebenen Illustrationen. Bilder, die bis dato
in Texte eingebunden waren, verselbständigten sich, vervielfältigten sich
und ließen die Anschaulichkeit der "humboldtschen Wissenschaften"
explodieren. Sowohl auf als auch nach Expeditionen dominierte das Anliegen,
Sichtbarkeit herzustellen. Die Reisemalerei transportierte die Tropen in
bürgerliche Wohnzimmer und auf geographische Kongresse. Das neue Medium
Fotografie fand sein natürliches Sujet in Eingeborenengesichtern. Die
thematische Kartographie blühte auf. Nirgends wucherten Grafiken, Kurven,
Tabellen und Diagramme üppiger als in den Erdwissenschaften, nirgends wurde
eine größere Anzahl an großformatigen Atlanten publiziert. Man hat den
Eindruck, das Wissen der Forschungsreisenden habe seinen Sitz vom Text in
die Bilder verlegt. An die Stelle von Synthesen traten Synopsen. Während
die Nachbardisziplin der Geographie, die Geschichte, ganz auf den Text und
die lineare Erzählung verfiel, zersprang die Erdkunde in tausend Tableaus.
Sie wurde zur Domäne von Ansichten, Übersichten und Panoramen und zum
Experimentierfeld für die Visualisierung von Daten. Was sich nicht auf
einen Blick erfassen ließ, fiel durch das visuelle Raster der neuen
Reisekultur.
Der Workshop verfolgt das Ziel, die massive Sichtbarkeit, die diese
Reisekultur erzeugte, weniger in ihrer schieren Faktizität, als
hinsichtlich ihrer Möglichkeitsbedingungen und Folgen zu thematisieren.
Welche Rolle spielte die Mobilisierung der Malmittel für den Aufschwung der
Expeditionsmalerei? Wie veränderte das Ziel, Bilder zu gewinnen, die
Reisepraxis selbst? Welche Evidenz transportierten die Bilder, die sich von
Reiseberichten losgerissen hatten? Möglicherweise ging es hier weniger um
die wortlose Objektivität des 19. Jahrhunderts als vielmehr um
Vollständigkeit - ein Paradigma, dem visuelle Überblicke besser gerecht
werden konnten als epische Berichte. Diskussionswürdig scheint zudem, was
die Bilderflut für die rasante Erforschung der Welt bedeutete, die das 19.
Jahrhundert kennzeichnet. Wurde der synoptisch bebilderte Globus
tatsächlich übersichtlicher? Brachten bestimmte Orte bestimmte Bilder
hervor? Während die Tropen seit Humboldt ihre Rolle als Mutterboden einer
üppigen Naturphysiognomik spielten, wurden Arktis und Antarktis zu
Landschaften der Abstraktion: In der Eintönigkeit der Polargebiete entstand
eine diagrammatische Geophysik, der alle Anschauung fremd war. Statt in Öl
ausgeführter Panoramen schufen hier Isothermenkarten eine neuartige
Übersicht. Die Entscheidung für ein bestimmtes Bildmittel fiel dabei häufig
erst auf der Reise, und während die Geographen zuhause noch über den
Vorrang von Fotografie oder Zeichnung und über die Aufgaben der
Kartographie stritten, ergänzten sich die unterschiedlichen Bilder in der
Praxis bereits. Ihr Zusammenspiel und ihr Auseinandertreten sind mögliche
Themen der Diskussion.
Programm
Donnerstag, 14. Mai
15.00 - 15.30: Philipp Felsch, Zürich
Begrüßung & Einführung
15.30 - 16.15: Julia Voss, Frankfurt a. M.
Darwins Maler. Johann Moritz Rugendas\' Reise nach Brasilien 1821-1825
Kaffeepause
16.45 - 17.30: Anna Echterhölter, Berlin
Verzeichnete Expeditionen. Skizzen und Daten in den Nachrufen Carl Philipp
Martius'
17.30 - 18.15: Beatrice Kümin, Zürich
Transformationen im Exotismus. Bildliche Darstellungen von Forschungsreisen
durch Brasilien
19.30 Abendessen
Freitag, 15. Mai
9.30 - 10.15: Andrea Westermann, Zürich
Eine vergangene Juralandschaft erwandern. Amanz Gressly (1814-1865) und die
Historisierung des geologischen Profils
10.15 - 11.00: Jan von Brevern, Zürich
Der Blick von nirgendwo. Aimé Civiales voyages photographiques
Kaffeepause
11.30 - 12.15: Philipp Felsch, Zürich
Der Kartograf der Kälte. Wie August Petermann den Nordpol erfand
Mittagspause
15.00 - 15.45: Iris Schröder, Berlin
Pictures, science & fiction. Zu den Bildern und den Sprachen der Geographie
in den Romanen Jules Vernes
15.45 - 16.30: Michael Neumann, Dresden
Magie der Geschichten. Geographische Prosa im 19. Jh.
Kaffeepause
17.00 - 17.45: Jan Altmann, Stuttgart
Bilder als Medium der Beobachtung. Von der Entdeckungsreise zur
Forschungsreise
Reference:
CONF: Tausend Tableaus. Bilder der Forschungsreisenden (Basel 14-15 May 09). In: ArtHist.net, May 5, 2009 (accessed Jul 4, 2025), <https://arthist.net/archive/31587>.