WWW 17.10.2007

Geisteswissenschaften in den Feuilletons (10-16 Oct 07)

Hans Selge

Date 16 Oct 2007
Subject: Geisteswiss. NL Nr. 33

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons vom 10.-16.10. 2007

Interviews, Porträts, auch einen Auszug aus der Dankesrede gab es zur
Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Saul Friedländer
in den deutschen Feuilletons. Beachtung fand außerdem das erste Programm des
neuen "Verlags der Weltreligionen". Und es gab viel Kunstgeschichtliches:
Gratulationen zum 70. Geburtstag des Kunsthistorikers Martin Warnke in FAZ
und SZ, eine ausführliche Vorstellung des Briefwechsels zwischen Carl Justi
und Wilhelm Bode in der NZZ und eine Besprechung des als Auftakt des neuen
Verlags "Berlin University Press" prominent platzierten neuen Aufsatzbandes
von Gottfried Boehm.

Im Blickpunkt

Friedenspreis für Historiker Saul Friedländer

Am Sonntag erhielt der Historiker Saul Friedländer den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels. Die Feuilletons lieferten Rundumberichterstattung.
Hier ein Überblick.
In der Zeit nimmt der am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitende
Michael Wildt den Forscher gegen ein Missverständnis in Schutz: "Friedländer
hat eben nicht, wie [Martin] Broszat den jüdischen Historikern unterstellte,
Erinnerung als Kultur der steten Vergegenwärtigung der Vergangenheit
verstanden, nicht Erinnerung an die Stelle von Wissen gesetzt. Vielmehr
gelingt es Friedländer mit seiner Form der Darstellung, mit dem
literarischen Stil seiner Geschichtsschreibung, Wissen und Erinnerung
miteinander in Beziehung zu setzen, eine umfassende Textur zu weben, in der
die einzelnen Fäden erhalten bleiben - strenge Wissenschaft als hohe Kunst."
Für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat Johanna Adorján ein
Interview mit Friedländer geführt, in dem er vor heutigen Fundamentalismen
warnt: "Wenn man sich die Welt heute ansieht, sind es nicht mehr die
säkularen Ideologien - Kommunismus, Nationalismus, Faschismus -, die größte
Gefahr geht von religiösen Fundamentalisten aus."
Im Tagesspiegel-Interview mit Gerrit Bartels hält Friedländer fest: "Bei
einem Vortrag, den ich an einer Universität in den USA gehalten habe,
stellte jemand die Frage, ob man nach dem Holocaust, nach so etwas Extremem
und Schrecklichem, ein neues Menschenbild entwerfen müsse. Ich glaube, dass
diese Frage richtig ist, ich kann sie jedoch nicht beantworten."
Auszüge aus der Friedenspreisrede druckt die Welt. In ihren Berichten über
die Verleihung kommentieren Patrick Bahners in der FAZ, Joachim Güntner in
der NZZ, Harry Nutt in der FR und Uwe Wittstock in der Welt Friedländers
Rede.

Zeit, 11.10.
Tagesspiegel, 13.10.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/Saul-Friedlaender;art15911,2398669
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.10.
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E457AB3C6F94E4E
C28B94EEA94283857F~ATpl~Ecommon~Scontent.html
FAZ, 15.10.
NZZ, 15.10.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/wenn_die_erinnerung_kommt_1.569
628.html
FR, 15.10.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1225895
Welt, 15.10.
http://www.welt.de/welt_print/article1265799/Beschreibung_der_hemmungslosen_
Taeter_des_Holocaust.html
Auszüge aus der Rede in der Welt vom 15.10:
http://www.welt.de/kultur/article1264607/Friedlaenders_bewegenden_Dankesrede
_im_Wortlaut.html
[Geschichte]
[Gedächtnis]

Verlag der Weltreligionen

Mit einiger Spannung erwartet wurde das Programm des Suhrkamp-Imprints
"Verlag der Weltreligionen", in dem historisch-kritische Ausgaben wichtiger
Werke der Weltreligionen erscheinen sollen. Die Befürchtungen, die
Suhrkamp-Kultur könnte nun im affirmativen Sinne auf die Religion gekommen
sein, scheinen sich aber schnell zerstreut zu haben.
So stellt Arno Widmann in der FR fest: "Der 'Verlag der Weltreligionen' wird
der deutschen Öffentlichkeit die wichtigsten Texte der religiösen
Weltliteratur in - hoffentlich immer - hervorragenden Editionen zur
Verfügung stellen. Das wird uns reizen, sie zu lesen. Es wird ganz sicher
unser Interesse an Religion, an der Auseinandersetzung mit ihr fördern. Es
wird aber wahrscheinlich kein Beitrag zur Steigerung der Religiosität sein."
In der Welt äußert sich Uwe Wittstock mehr als nur anerkennend: "Die
Gründung des Verlags der Weltreligionen (VDWR) ist eine verlegerische
Großtat. Man muss nicht fromm sein, um das zu erkennen. Ein Verlag, der es
sich zur Aufgabe macht, die schriftlichen Grundlagen der Religionen nach den
strengen Regeln der Philologie zu publizieren, sie von exzellenten
Fachleuten übersetzen, edieren, erforschen und schließlich mit
allgemeinverständlichen Einführungen versehen zu lassen, verdient hohen
Respekt."
In der FAZ hat sich Helmut Mayer das erste Verlagsprogramm angesehen.

FR, 11.10.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1223645
Welt, 10.10.
http://www.welt.de/welt_print/article1249793/Geistliche_Labsal.html
FAZ, 10.10.
[Religionswissenschaft]
[Religion]

Themen der Woche

Industrielle Revolution durch Genvorteil

Im Interview mit der SZ verteidigt der Wirtschaftshistoriker Gregory Clark
seine Thesen, dass die industrielle Revolution möglicherweise auch auf einem
genetischen Vorsprung des englischen Mittelstands beruhte: "Wir wissen, dass
die englische Bevölkerung seit 1200 kaum anstieg. Deshalb konnte jede
Familie im Schnitt kaum mehr als zwei Kinder haben. Der Mittelstand aber -
Händler, große Bauern, wohlhabende Handwerker - hatte im Schnitt vier oder
fünf Kinder, die überlebten. Die Armen hatten weniger als zwei Nachkommen.
Der Adel konnte mit dem wohlhabenden Mittelstand auch nicht mithalten, wie
ich in langjährigen Archivstudien feststellen konnte. Die zahlreichen Kinder
dieser Reichen konnten aber nicht in ihrer Schicht bleiben, weil die
Ressourcen nicht ausreichten - also stiegen sie sozial ab und verdrängten
dort die Armen. Und mit ihnen breiteten sich die bürgerlichen Werte aus -
etwa Geduld, Tüchtigkeit, geringe Gewaltbereitschaft, harte Arbeit,
Sparsamkeit statt Konsum."

SZ, 12.10.
[Geschichte]

Briefwechsel zwischen Carl Justi und Wilhelm Bode

Sehr ausführlich stellt die Kunsthistorikern Karin Hellwig in der NZZ den
Briefwechsel zwischen Carl Justi und Wilhelm Bode vor, den führenden
Kunsthistorikern des deutschen Kaiserreichs. Hellwig arbeitet gerade an
einer historisch-kritischen Ausgabe dieses Briefwechsels: "Über
kunsthistorische Texte und Archivalien zur Geschichte der Institutionen
hinaus bilden Selbstzeugnisse wie Briefe, Autobiografien, Reiseberichte und
Tagebücher eine unentbehrliche Grundlage für die Erforschung der Fach- und
Methodengeschichte [...] Die Korrespondenz zwischen Justi und Bode erlaubt
einen Einblick in die wechselvolle Geschichte des Faches Kunstgeschichte aus
der Perspektive zweier außergewöhnlicher Gelehrter."

NZZ, 13.10.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/kunsthistoriker_im_
kaiserreich_1.568457.html
[Kunstgeschichte]

Dem Kunsthistoriker Martin Warnke zum Siebzigsten

Der Kunsthistoriker Martin Warnke feiert seinen siebzigsten Geburtstag. In
der SZ würdigt ihn Willibald Sauerländer: "Warnkes Darlegungen sind weit
entfernt von einer Kunstsoziologie, die in bildnerischen Formen nur die
Widerspiegelung von Klassengegensätzen sieht. Er zeigt, wie Kunst im Raum
der Institutionen ihre Phantasie und gestalterische Souveränität entfaltet.
In seinen Büchern über zwei große Hofkünstler - Rubens und Velázquez - hat
er dieses Wechselverhältnis von Bindung und Freiheit exemplarisch
geschildert. Aber das Problem ist virulent bis in unsere Tage. Warnke ist
skeptisch gegen eine Museumspolitik, welche sich der Verpflichtung zur
prüfenden Distanz entledigt und vor der schöpferischen Freiheit kritiklos
kapituliert."
In der FAZ bewundert Henning Ritter die Lebensleistung Warnkes: "Er hat
vielleicht noch nicht alles erreicht, was er sich vorgenommen hat.
Jedenfalls aber das, was ein Kunsthistoriker seiner Generation erreichen
konnte. Er hat zuerst aufgeräumt. Seine Sprachkritik an der
Kunstgeschichtsschreibung der Generation der Väter ist Ende der sechziger
Jahre von den Jüngeren als befreiend erlebt worden. Sie hat ihn selbst
allerdings zu einer gewissen sprachlichen Askese verpflichtet, zu einer
Nüchternheit, die freilich seinem Temperament entgegenkam."

SZ, 12.10.
FAZ, 12.10.
[Kunstgeschichte]

Homers Werke historisch betrachtet: unmöglich

Hellmut Flashar gratuliert in der SZ dem Gräzisten Wolfgang Kullmann zum
Achtzigsten - und erläutert dessen umstrittene Zentralthese: '"Homers
großartiges Gemälde ist historisch betrachtet eine Unmöglichkeit'; oder: man
käme 'vom Homertext her niemals auf den Gedanken, von einer mykenischen Zeit
zu sprechen' - solche Urteile behalten für Wolfgang Kullmann auch in seinen
neueren Publikationen ihre Gültigkeit. [...] Das alles ist heute nach wie
vor umstritten: Wolfgang Kullmann, der Schüler von Wolfgang Schadewaldt, ist
mit seiner stringenten und konsequenten Position in jedem Fall einer der
international anerkanntesten Homer-Forscher."

SZ, 12.10.
[Gräzistik]

Rezensionen und Bücher

Der Romanist Harald Weinrich legt unter dem Titel "Wie zivilisiert ist der
Teufel?" einen Sammelband mit Aufsätzen und Essays vor. Die Feuilletons sind
beeindruckt.
Burkhard Müller rühmt in der SZ: "Harald Weinrich, der vor kurzem seinen
achtzigsten Geburtstag gefeiert hat, ist von Haus aus Romanist; was er aber
tatsächlich treibt, bei nur geringem Übergewicht französischer Gegenstände,
ist eine umfassende Geistesgeschichte. Der Begriff der Geistesgeschichte
erfreut sich heute nur geringer Beliebtheit. Dem 'Geist' überhaupt schlägt
ein Misstrauen entgegen, das die Geisteswissenschaft ganz allgemein
auszubaden hat (obwohl man doch ihr Jahr schreibt) und das sie in
Selbstzweifel und Beschämung stürzt: Als ob sie vor dem Familiennamen der
"Wissenschaft" einen besonders altmodisch albernen Vornamen führte, den man,
wo man sich vorzustellen hat, am besten nur nuschelnd mitspricht."
Und in der Literaturbeilage der FAZ rühmt auch Andreas Platthaus den
Universalgelehrten Weinrich: "So ist das Buch auch kein rein romanistisches
Werk, sondern ein universalwissenschaftliches, das von der immensen
Verstandesschärfe seines Autors kündet. Der literaturwissenschaftliche Malus
der Neuzeit, die durch die Etablierung des Buchmarkts 'die Leser zunehmend
von der intensiven zur extensiven Lektüre umgeschult hat', wie Weinrich kühl
feststellt, wird in seinem eigenen Schreiben zum kulturgeschichtlichen
Bonus, denn was für ein Segen ist es, solch universal belesene Gelehrte zu
haben."

SZ, 12.10.
FAZ, 10.10.
[Romanistik; Literaturwissenschaft]

Der neue Band "Wie Bilder Sinn erzeugen" des Kunstwissenschaftlers Gottfried
Boehm ist von Interesse über das Buch selbst hinaus. Er erscheint nämlich
zum Auftakt des neuen, von Gottfried Honnefelder geleiteten Verlags "Berlin
University Press". In der NZZ stellt Bernd Stiegler Boehms Aufsatzsammlung
in diesem Kontext vor: "Die dezidierte wie programmatische Absetzung von der
Sprache ist der rote Faden dieses Bandes. Es geht darum, Bilder als 'Logos',
als 'sinnstiftenden Akt' neu zu denken und sie zugleich als tragende
Voraussetzungen unserer Kultur zu profilieren. Die Sprache in Gadamers
Formulierung wird zum 'Logos', und dieser wiederum zeichnet sich durch das
Prinzip einer 'ikonischen Differenz' aus, durch die Sinn entsteht."

NZZ, 11.10.
[Kunstgeschichte]

Konferenzen und Tagungen

Der George-Kreis der Rechtsstaatspatrioten

Auf einer Frankfurter Tagung zum George-Kreis, von der Martin Otto für die
FAZ berichtet, wurden interessante Ansichten wie diese geäußert:
"'Rechtsstaatspatrioten' seien die Männer des 20. Juli in jedem Falle
gewesen. Eine Schuld am Scheitern der Weimarer Republik trage der
George-Kreis nicht; dafür seien Ernst Jünger und Kurt Tucholsky und deren
Ungeduld mit der parlamentarischen Demokratie verantwortlich zu machen."

FAZ, 13.10.
[Literaturwissenschaft; Geschichte]

Die Lichtung der Theorie

Ebenfalls in der FAZ referiert Thomas Thiel ein poetisches Bild von
Vergangenheit und Gegenwart der Wissenschaftsgeschichte: "Der Wuppertaler
Wissenschafts-, Technik- und Ideenhistoriker Friedrich Steinle wählte für
den diesjährigen Kongress der Gesellschaft für Wissenschafts-, Technik- und
Medizingeschichte den Titel 'Praxis der Theorie'. Er stellte die
Geschichten, die dort erzählt wurden, mit diesem Titel ausdrücklich in den
Kontext der Grundlagenversicherung, einer denkbaren Öffnung und
Rückkehrbereitschaft seiner Disziplin. Aus dem Gestrüpp der Praxis, in das
sich die Wissenschaftsgeschichtenerzählung in den vergangenen zwei
Jahrzehnten begeben hatte - sie nannte es 'practical turn' -, dürfe sie
sich, wenn es ihr angelegen erscheine, wieder auf die Lichtung der Theorie
begeben, ihre heiteren Anhöhen beschreiten, um dann zu erkennen, dass der
Gipfel keinen Ruhepunkt bietet, sondern nur einen weiteren Ausblick öffnet
auf einen immer ferner lagernden letzten gemeinsamen Horizont."

FAZ, 10.10.2007
[Wissenschaftsgeschichte]

Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (10-16 Oct 07). In: ArtHist.net, 17.10.2007. Letzter Zugriff 19.05.2024. <https://arthist.net/archive/29769>.

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