Aus den Feuilletons vom 5.-11.9.
In einer eher ereignisarmen Woche mahnte kein Geringerer als der
Bundespräsident, künftige Exzellenzwettbewerbe besser auf die
Geisteswissenschaften zuzuschneiden. Daneben ging es unter anderem um
Freizeit im Faschismus, das Berliner Lautarchiv und eine Hamburger
Tagung zum Thema "Politik der Angst".
Im Blickpunkt
Elitewettbewerb besser auf Geisteswissenschaften zuschneiden
Alles andere als eitel Freude herrschte, wie Amory Burchard im
Tagesspiegel mitteilt, bei der Feier zum 50. Geburtstag des
Wissenschaftsrats in Berlin. Der forcierte Elitewettbewerb wird
offenkundig vor allem von geisteswissenschaftlicher Seite recht
kritisch gesehen: "Bundespräsident Horst Köhler mahnte den
Wissenschaftsrat in seinem Grußwort, darüber nachzudenken, 'wie wir
für alle Hochschulen den Anreiz erhalten, die eigenen Stärken
auszubauen'. In künftigen Wettbewerben sollten die Exzellenzkriterien
passgenauer für die Geisteswissenschaften sein, auch die Lehre sollte
eine Rolle spielen. Auch Wolfgang Frühwald, Germanist und
Wissenschaftsmanager, warnte vor den Folgen des
Wettbewerbsförderalismus, der durch den Elitewettbewerb und die
Föderalismusreform in Gang gesetzt werde. Die Universitäten dürften
'nicht nur als Trainingslager für Spitzenforschung' betrachtet
werden, 'sondern auch als Ausbildungsstätten für anspruchsvolle, auf
wissenschaftliche Methoden und Kenntnisse gründende Berufe'."
Tagesspiegel, 8.9.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Elitewettbewerb;art304,2374252
Verhältnis von Philosophie und Empirie
In der Tagesspiegel-Serie, in der Geisteswissenschaftler über
Gegenstände ihrer aktuellen Forschung berichten, denkt der Philosoph
Daniel Perler grundsätzlich über das Verhältnis von Philosophie und
empirischer Forschung nach: "Worin besteht also die Aufgabe der
Philosophie? Sicherlich nicht darin, dass sie den Anspruch auf
Begriffsklärung aufgibt und selber nach empirischen Daten jagt. Aber
auch nicht darin, dass sie im Elfenbeinturm bloß über die eigene
Verwendung von Begriffen nachdenkt. Philosophische Analysen sind dann
spannend und innovativ, wenn sie von empirischen Befunden der
Nachbarwissenschaften ausgehen, Begriffe mit Blick auf diese Befunde
testen und innerhalb von historisch gewachsenen Theorien situieren."
Tagesspiegel, 10.9.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Philosophie;art304,2376266
[Philosophie]
Themen der Woche
Die Stimmen der Völker: Das Berliner Lautarchiv
Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ informiert Reinhart Meyer-
Kalkus über das im Wilhelminismus gegründete Berliner Lautarchiv, das
als Grundlage für sprachwissenschaftliche Forschungen dienen sollte -
freilich dann doch kaum diente: "Der Initiator des Lautarchivs, der
Sprachwissenschaftler und Geschäftsmann Wilhelm Doegen, mochte von
einem Museum der Stimmen der Völker träumen, von einer Leistung, die
den Kriegsgegnern zeigte, dass Deutschland seiner Kulturmission auch
in Kriegszeiten treu blieb und sie mit überlegenen technischen
Mitteln durchführte. Dafür hatte er dank seiner politischen
Verbindungen während des Ersten Weltkriegs auch Unterstützung in den
preußischen Ministerien gefunden. Allerdings wurde das gehortete
Material von den Sprachwissenschaftlern, die die Aufnahmen
überwachten, niemals ausgewertet, von wenigen Ausnahmen wie dem
Anglisten Alois Brandl abgesehen."
FAZ, 5.9.
[Sprachwissenschaft]
Fünfzig Jahre Militärgeschichtliches Forschungsamt
Für die Welt hat sich Sven Felix Kellerhoff mit dem Leiter des
Militärgeschichten Forschungsamtes, dem Historiker und Oberst Hans
Ehlert unterhalten. Der Anlass ist das fünfzigjährige Bestehen des
Amtes, dessen Bezug zur Geschichteswissenschaft Ehlert erläutert:
"Das grundsätzlich Neue, das Abweichende von der klassischen
Generalstabshistorie war ja, dass sich das MGFA nicht nur mit Kriegen
und Feldzügen beschäftigt hat und beschäftigt, sondern mit dem
Militär und dem Soldaten in allen seinen Beziehungen - zur
Gesellschaft, zur Wirtschaft, zum Umland und so weiter. Wir haben zum
Beispiel mit geschichtswissenschaftlichen Methoden untersucht, welche
Bedeutung eine Garnison für den entsprechenden Landkreis hat, etwa am
Beispiel einer Garnison wie Oberviechtach. Das kann man natürlich
"sozialhistorisch" nennen, aber für mich ist das keine
Fehlentwicklung. Wenn die Militärgeschichte eine Teildisziplin der
allgemeinen Geschichtswissenschaft ist, dann muss sie auch reagieren
auf Trends in dieser Wissenschaft. Das gilt für Sozialgeschichte, für
Kulturgeschichte und ähnliches."
Welt, 6.9.
http://www.welt.de/welt_print/article1161266/
Die_Bundeswehr_braucht_Bildung.html
Website des MGFA: http://www.mgfa.de/index_2005.php?
lang=de&PHPSESSID=282f6a2bdea6045fe1db89ba273f9d50
[Geschichte]
Freizeit im Faschismus
Harry Nutt schreibt in der FR über eine in der riesigen KdF-Tourismus-
Anlage in Prora auf Rügen gezeigte Ausstellung zu "Freizeit im
Faschismus". Er findet sie überzeugend und hält sie für auf dem Stand
der aktuellen Forschung: "Die Ausstellung in Prora zeigt trotz ihrer
darstellerischen Beschränkung anschaulich, wie in den faschistischen
Bewegungen die auf den ersten Blick gegenläufigen Bedürfnisse von
Individualisierung und Massenbildung ineinander greifen. Die
Instrumentalisierung der Freizeit im Faschismus war kein geradliniger
Prozess. Die italienischen Faschisten waren sich zum Beispiel immer
dessen bewusst, dass sie sich der stark ausgeprägten proletarischen
Kultur nie vollständig bemächtigen konnten. Und KdF deckte die
deutsche Freizeitindustrie nicht vollständig ab. Gegen den
preiswerten nationalsozialistischen Gruppentourismus, der auch ans
und aufs Wasser führte, entwickelte sich ein gehobener
Individualtourismus, der verlorene Marktanteile zurückeroberte."
Frankfurter Rundschau, 11.9.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?
em_cnt=1207538
[Geschichte]
Bücher und Rezensionen
Sehr gut gefallen haben Gregor Dotzauer im Tagesspiegel die unter dem
Titel "Anders gesagt" erschienenen Überlegungen des Lausanner
Literaturwissenschaftlers Peter Utz zum literarischen Übersetzen:
"Utz rührt mit seinen englischen und französischen
Übersetzungslektüren von E.T.A. Hoffmann, Fontane, Kafka und
besonders Robert Musil ans dialektische Herz aller Fragen zu
Identität und Differenz – und das mit einer raffiniert spitzfindigen
Eleganz, die Sprachvertrauen und Sprachskepsis auch nur als zwei
Seiten derselben Sache ausweist. Utz stößt dabei nicht die
pragmatisch vernünftige Hierarchie von Original und Übersetzung um,
aber er dringt in die Lücke vor, die jeder Text zwischen Wortlaut und
Verstehen lässt. Es gibt, so zeigt er, schon in einer gegebenen
Sprache kein reines, den Sinngehalt eines Texts vollständig
ausschöpfendes Lesen, sondern zwangsläufig immer nur Interpretationen."
Tagesspiegel, 10.9.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/Literatur-Peter-Utz;art138,2375672
[Literaturwissenschaft]
Gleich zwei neue Bücher mit Texten von Jacques Derrida bespricht in
der SZ Klaus Englert, der die Vielseitigkeit wie die politische
Dimension des Denkens von Jacques Derrida herausstreicht: "Die
Dekonstruktion sollte sich ja als ein kritisches Denken bewähren, als
ein Denken, das nicht nur in Frage stellt, sondern gleichsam auf die
Praxis übergreift und die Herausbildung neuer institutioneller Formen
begünstigt. Wenn "Maschinen Papier" neben einem Vortrag über Paul de
Mans Rousseau-Lektüre auch einen offenen Brief an den US-Präsidenten
Bill Clinton enthält, in dem sich der Philosoph im Auftrag des
Internationalen Schriftstellerparlaments gegen die Todesstrafe für
den schwarzen Bürgerrechtler und Journalisten Mumia-Abu Jamal
ausspricht, dann hat dies einen plausiblen Grund: In der eigenen
Theorie waren immer auch die politischen Implikationen lesbar,
während die politische Praxis die aufklärerischen Ideen von
Demokratie und Gerechtigkeit transparent machen sollte."
SZ, 8.9.
[Philosophie]
Konferenzen und Tagungen
Günter Grass in internationaler Perspektive
In Liverpool fand eine internationale Tagung zum Werk von Günter
Grass statt. Gina Thomas, die sich für die FAZ die Vorträge angehört
hat, erklärt auch gleich, was "international" in diesem Fall zu
bedeuten hatte: "Die Behauptung von Volker Neuhaus, dass es in
Deutschland aufgrund der 'schrecklichen öffentlichen Unterschätzung'
des Schriftstellers undenkbar wäre, so viele Grass-Forscher zu
versammeln wie jetzt an der Universität Liverpool, schließt sich der
wehleidigen Selbstwahrnehmung des Nobelpreisträgers als einen
auswärts mehr als im eigenen Land geachteten Autor an. So zweifelhaft
diese Stilisierung angesichts der Aufmerksamkeit anmutet, welche die
deutschen Medien jeder Äußerung von Grass schenken, war in Liverpool
bei der Tagung 'Die Nation verändern: Günter Grass aus
internationaler Perspektive' augenfällig, dass der Kölner
Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Grass-Werkausgaben als
einziger Vertreter der deutschen Universitäten auf dem Podium saß.
Die Referenten kamen aus Kingston, Ontario und Lissabon, aus Kansas,
Valparaiso und Modena, aus Cambridge, New South Wales und Perth, um
Werk und Rolle des politisch engagierten Schriftstellers aus
historischer, literaturtheoretischer und biographischer Sicht zu
beleuchten."
FAZ, 10.9.
[Literaturwissenschaft]
Zur "Politik der Angst" im Kalten Krieg
Das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) veranstaltete eine
Tagung zum Thema "Politik der Angst". Ines Kappert berichtet für die
taz: "Bernd Greiner, der die Forschungsstelle 'Theorie und Geschichte
der Gewalt' am HIS leitet, lud vor allem KollegInnen ein, die sich
mit den USA und Deutschland beschäftigen - das östliche Europa, Japan
und China blieben ausgespart. Insofern fand der Umgang mit der Angst
vor einem Nuklearschlag, weder in Polen, der Tschechoslowakei oder
Ungarn noch in der so genannten Dritten Welt Berücksichtigung - also
immerhin dort, wo die Stellvertreterkriege ausgetragen worden sind.
So ganz ist der Eiserne Vorhang, der den Westen zum Nabel der humanen
Welt erklärt, eben doch noch nicht Geschichte."
Für die Süddeutsche war Willi Winkler auf der Tagung zugegen. Kaum
ein Referent aus Amerika, berichtet er, konnte sich den Hinweis auf
Parallelen zwischen Kaltem Krieg und der Gegenwart unter Bush
verkneifen. Aber auch Historisches wird referiert: "Monique Scheer
(Tübingen) berichtete, dass es nie so viele Marienerscheinungen gab
wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zumindest bei den Katholiken
wurde die Jungfrau Maria in den politischen Dienst genommen, um die
Furcht vor dem Kommunismus zu schüren und im Marienkult zugleich ein
Heilmittel gegen diese Irrlehre anzubieten."
taz, 10.9.
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-
artikel&ressort=ku&art=4384&no_cache=1
Süddeutsche, 10.9.
[Geschichte]
Quellennachweis:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (5-11 Sep). In: ArtHist.net, 13.09.2007. Letzter Zugriff 10.05.2025. <https://arthist.net/archive/29560>.