Jahr der Geisteswissenschaften 2007
Aus den Feuilletons vom 25.-31.7. 2007
In dieser Woche wäre der bürgerlich-konservative Politologie, Philosoph und
Intellektuelle Dolf Sternberger 100 Jahre alt geworden. Die Feuilletons
würdigen Leben und Werk aus vielfältigen Perspektiven. Außerdem zieht Ernst
Tugendhat, einer der bedeutendsten deutschen Philosophen, im taz-Interview
eine Bilanz von Leben und Werk. Referiert werden Tagungen, in denen es um
Esoterikforschung und das Verhältnis von Vernunft und Glauben ging.
Im Blickpunkt
Erinnerung an Dolf Sternberger
In den Feuilletons wird anlässlich seines 100. Geburtstags des 1989
verstorbenen Philosophen, Feuilletonisten, Intellektuellen und Politologen
Dolf Sternberger gedacht. In der FAZ schreiben auf einer ganzen Gedenkseite
gleich drei Autoren. Henning Ritter streicht Sternbergers Wertschätzung des
Bürgerlichen, insbesondere des bürgerlichen 19. Jahrhunderts heraus:
"Sternberger machte nun die Gegenrechnung auf, zuletzt in einem Plädoyer,
das 'Gerechtigkeit für das 19. Jahrhundert' forderte. Er wollte nicht mehr
und nicht weniger, als in aller Nüchternheit die humanen Leistungen der
Epoche zur Anerkennung zu bringen."
Günter Nonnenmacher weist auf Sternbergers Verständnis der Universität hin:
"Eine akademische Schule hat Sternberger, wie gesagt, nicht gebildet. Die
Universität in ihren geisteswissenschaftlichen Abteilungen war für ihn
ohnehin nicht nur eine Institution des Forschens, Lehrens und Lernens,
sondern vor allem auch eine Form der intellektuellen Geselligkeit (das Wort
Gemeinschaft mochte er nicht), der geistigen Unterhaltung." Und Frank
Schirrmacher erinnert an Sternbergers Rolle im Feuilleton der "Frankfurter
Zeitung": "Sternberger war der letzte Redakteur der großen 'Frankfurter
Zeitung', und am Titel des dort eigens für ihn geschaffene Ressorts
'Kulturpolitik' ermisst man, wo eine strategische Hoffnung Simons lag: von
Kultur schreiben, um die Politik des Regimes zu unterlaufen. Genau das hat
Sternberger bis zum Verbot der Zeitung mit einer die Todeszone fast
überschreitenden Tollkühnheit getan."
In der NZZ betont Uwe Justus Wenzel insbesondere die Bedeutung des
Sprachpflegers Sternberger: "Seine Verteidigung des guten, des umgänglichen,
gelenkigen und lebendigen Deutschs ist Verdienst genug, um Dolf
Sternbergers, der am heutigen Samstag hundert Jahre alt geworden wäre, zu
gedenken."
Thomas Schmid sieht in der Welt Sternberger als wichtigen Liberalen: "Dolf
Sternberger gehörte früh zu den wenigen politischen Denkern der
Bundesrepublik, die der liberalen Idee von Gesellschaft folgten und mit
Leidenschaft behaupteten, die Menschen hätten das Vermögen, sich selbst eine
politische Verfassung zu geben, eine Verfassung der Freiheit."
FAZ, 28.7.
Henning Ritter:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EE4B65F75B6604F
EF91693A3C059DA5EA~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Günter Nonnenmacher:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~ED0EDB6D289A349
1398B5FC8E5299EA87~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Frank Schirrmacher:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E54C6E2F320C846
FEBC139A52A4051B6C~ATpl~Ecommon~Sspezial.html
NZZ, 28.7.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/wortwandel_und_weltwandel_1.533
637.html
Welt, 28.7.
http://www.welt.de/welt_print/article1061368/Es_gibt_nur_eines_Politik.html
Themen der Woche
Philosoph Tugendhat zieht Bilanz
In einem ausführlichen taz-Interview mit Ulrike Herrmann zieht der Philosoph
Ernst Tugendhat eine Bilanz seines Lebens. Neben vielem anderen geht es auch
um den Unterschied zwischen kontinentaleuropäischen und
angelsächsisch-amerikanischen Denkstilen: "Hier findet ja sehr viel
Schaumschlägerei im Unibetrieb statt, während in England und in den USA ganz
anders nachgefragt wird. Zumal bei mir, weil mein Denkstil eher
angelsächsisch ist. Viele deutsche Kollegen haben es in Amerika einfacher,
weil man dort denkt, ach, das ist irgend so ein deutscher Tiefsinn, der so
tiefgründig ist, dass er sowieso nicht zu verstehen ist."
taz, 28.7.
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=do&dig=2007/07/28/a00
01&no_cache=1&type=98
[Philosophie]
Altphilologin deutet Giorgione-Gemälde
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichtet Tilman Spreckelsen,
wie die Altphilologin Karin Zeleny den rätselnden Kunsthistorikern bei der
Deutung eines Giorgione-Gemäldes half: "In ihrem Aufsatz verweist Zeleny auf
Raffaels 'Schule von Athen' und eine Figurenkonstellation auf diesem Bild,
die Pythagoras gemeinsam mit einem 'Greis in gelbem Gewand' zeigt, 'ein Mann
mit Turban blickt ihm über die Schulter'. Diese Attribute entsprechen,
schreibt Zeleny, 'augenfällig jenen in Giorgiones Gemälde. Es liegt nahe, in
den beiden Dreiergruppen dieselben Personen zu vermuten" und das heißt
neben Pythagoras noch Thales von Milet und Pherekydes von Syros.
FAS, 29.7.
[Kunstgeschichte, Altphilologie]
[Bild]
Die Türkei im Umfeld des Islam
In einem Interview mit der taz erläutert die Islamwissenschaftlerin Gudrun
Krämer die Rolle der Türkei im Feld von Islam und Islamismus und sieht in
dem Land weniger als ein Vorbild als einen Sonderfall: "Institutionen wie
die al-Azhar-Universität in Kairo, eine der wichtigsten islamischen
Lehrstätten nicht nur der arabischen Welt, orientieren sich nicht an einem
Land wie der Türkei, das sie tendenziell als islamische Peripherie
betrachten. Eher stellt sich die Frage, wie ein türkischer Religionsstudent,
der die strengere Islam-Auslegung der Azhar-Universität in Ägypten oder gar
in Saudi-Arabien kennengelernt hat, auf die Dinge in seinem Land blickt,
wenn er dorthin zurückkehrt."
taz, 26.7.
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=me&art=2371&no_cache=
1&type=98
[Islamwissenschaft]
FAS, 29.7.
Wissenschaft und Wissenschaftsmanagement
Im Interview mit der FR erklärt der Archäologe Hermann Parzinger,
wissenschaftlicher Leiter der großen Berliner Skythen-Ausstellung und neuer
Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, unter anderem, dass man
auch als Wissenschaftsmanager weiter Wissenschaft treiben kann: "Ich finde
es wichtig, dass solche Positionen (...) von erstklassigen Wissenschaftlern
geleitet werden. Ich denke auch, dass man in solchen Positionen die
Forschung nicht ganz aufgeben sollte. Archäologische Forschung ist
Teamarbeit, da muss man nicht wochenlang neben einem Grabhügel stehen."
FR, 25.7.
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1178730
[Archäologie]
Bücher und Rezensionen
In eine Reihe mit wichtigen jüngeren Werken der philosophischen Linken
stellt Ulrich Brieler in der taz die unter dem Titel "Der Schauplatz des
Anderen" erschienenen Essays des französischen Philosophen Etienne Balibar:
"Balibars Buch ist in eine Reihe zu stellen mit Jacques Derridas
Überlegungen in 'Marx' Gespenster' und der 'Politik der Freundschaft', aber
auch mit der Diskussion um Michael Hardts und Antonio Negris 'Empire'. Hier
wie dort herrscht ein Gespür für das Unbekannte einer historischen
Situation, die nach einer Neuerfindung der Politik schreit. Heute an der
realistischen Vorstellung freier und gleicher Menschen in der einen Welt
festzuhalten, ist vielleicht die stärkste materielle Kraft, die das Denken
aufbieten kann."
taz, 28.7.
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=pb&dig=2007/07/28/a00
20&no_cache=1&type=98
[Philosophie]
Nicht einfach zu lesen, aber so "barock" wie "raffiniert" erscheint Barbara
Stollberg-Rilinger in der SZ die Studie des Historikers Adriano Prosperi zur
Geschichte des Kindsmords mit dem Titel "Die Gabe der Seele". "Die Kernthese
Prosperis", so Stollberg-Rilinger, "lautet, dass es im Mittelalter eine
allgemein verbreitete, stillschweigend tolerierte Praxis der Abtreibung und
Tötung Neugeborener gegeben habe, die erst im Laufe der frühen Neuzeit
zunehmend kriminalisiert worden sei. In der grausamen Mutter, die ihre
Kinder tötet, sieht er eine fixe Idee vor allem der katholischen Kultur nach
dem Trienter Konzil, die sich von den Protestanten moralisch unter Druck
gesetzt fühlte."
SZ, 27.7.
[Geschichte]
Nicht weniger als ein Standardwerk hat der in Magdeburg lehrende finnische
Musikwissenschaftler Tomi Mäkelä mit seiner Studie zu Jean Sibelius
geschrieben, befindet Andreas Dorschel in der SZ: "Mäkelä gibt der
Wahrnehmung Sibelius' in Deutschland ein bislang unerreichtes Niveau, indem
er den Komponisten in den Zusammenhang stellt, aus dem er kam: denjenigen
der skandinavischen Moderne um 1900. Diese war keineswegs eine randständige
Erscheinung. Strindberg, Ibsen und Munch waren zentrale Figuren des Fin de
Siècle; in ihre Gesellschaft gehört die durchaus nicht provinzielle Figur
des Komponisten."
SZ, 31.7.
[Musikwissenschaft]
Konferenzen und Tagungen
Vernunft und Glaube
In der FAZ informiert Alexandra Kemmerer über eine Tagung in Regensburg, die
sich ganz den von Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede
aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Vernunft und Religion widmete:
"Besonders leidenschaftlich debattiert wurde das von Benedikt hervorgehobene
'innere Zugehen zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem
Fragen'. Mit Überlegungen zum Verhältnis von Metaphysik und Theologie ging
der Philosoph Werner Beierwaltes (München) dieser 'Hellenisierung' auf den
Grund, die für den Theologen Joseph Ratzinger, wie der Fundamentaltheologe
Jürgen Werbick (Münster) tags zuvor formuliert hatte, 'praktisch von Anfang
an die Leitperspektive vorgab'".
FAZ, 28.7.
[Theologie, Philosophie]
Aufwind für Esoterikforschung
Ebenfalls für die FAZ berichtet Thomas Thiel von einem großen Kongress zur
Esoterikforschung in Tübingen. Das Fach hat in den letzten Jahren auch in
Deutschland an Renommee gewonnen: "Die Esoterikforschung hält sich am Rande
verschiedener Disziplinen, der Religionswissenschaft und Geschichte. Umso
erstaunlicher, dass ausgerechnet Tübingen der vor eineinhalb Jahren
gegründeten 'European Society for the Study of Western Esotericism' nun das
erste öffentliche Podium schuf. Ein epochales Ereignis für die
Esoterikforschung, das die prägenden Figuren des Fachs von Moshe Idel
(Jerusalem) bis Antoine Faivre (Paris) anzog."
FAZ, 25.7.
[Theologie]
[Religion]
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Hans Selge
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www.abc-der-menschheit.de
Reference:
WWW: Geisteswissenschaften in den Feuilletons (25-31 Jul 07). In: ArtHist.net, Aug 2, 2007 (accessed Apr 25, 2025), <https://arthist.net/archive/29493>.