WWW 16.05.2007

Presseschau Perlentaucher (Jahr d. Geisteswissenschaften)

Hans Selge

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons

Einige hochkarätig besetzte Tagungen dominieren die
Feuilletonberichterstattung der letzten Woche. In Berlin wurde über das
Verhältnis von Feuilleton und Geisteswissenschaften diskutiert, in
Karlsruhe traf man sich, um über die Existenz oder Nicht-Existenz
gemeinsamer europäischer Werte nachzudenken. Die deutsche Akademie für
Sprache und Dichtung verband das Angenehme mit dem Nützlichen und hielt in
der Parkanlage von Wörlitz Vorträge zum Thema "Aufgeklärte Natur".
Beachtet wurde auch der Fund des ­ wohl echten ­ Herodes-Grabs nahe
Bethlehem.

Im Blickpunkt

Podiumsdiskussion zu Feuilleton und Geisteswissenschaften

Nicht nur auf dem Podium, sondern auch im Publikum saßen bei der
Großveranstaltung zum Jahr der Geisteswissenschaften im Berliner
Maxim-Gorki-Theater Journalisten. Diskutiert wurde unter anderem über das
Verhältnis von Feuilleton und Geisteswissenschaften. Eher kritische
Akzente setzte Dirk Knipphals in der taz: "Der Geist weht, wie er will.
Vielleicht macht es auch gar nichts, dass bei solchen Veranstaltung oft so
wenig herauskommt. Schließlich ist es auch eine Art Feier des Geistes, ihn
ab und zu mal aufblitzen zu lassen. Und ausgeschlafene Polemiker wie
Jürgen Kaube oder geschickte Popularisierer wie Luca Giulani haben so
etwas drauf."
Uwe Justus Wenzel referierte in der NZZ: Der neue Leiter des Berliner
Wissenschaftskollegs Luca Giuliani "hielt immer noch daran fest, dass es
in seinem Fachgebiet 'kein einziges Forschungsproblem' gebe, das er einem
aufmerksamen und interessierten Zuhörer nicht in kurzer Zeit verständlich
machen könne. (...) Auch das erschien Barbara Vinken,
Literaturwissenschaftlerin an der Universität München, noch unmöglich -
wie sie überhaupt auf dem nicht immer ins Allgemeinverständliche
übersetzbaren Eigensinn der geisteswissenschaftlichen Forschung beharrte.
Jürgen Kaube ('Frankfurter Allgemeine Zeitung') unterstützte sie, auf
allerdings indirekte Weise. Er warf die Frage auf, ob denn die
Geisteswissenschaften überhaupt genügend Probleme derjenigen Sorte hätten,
die ein allgemeines Publikum interessieren könne - Probleme, die sich in
Fragen kleiden ließen, die mit 'Warum', 'Weshalb' oder 'Wie' begännen."
In der Welt informiert Alexander Cammann: "Von der 'Verpoppung' der
Geisteswissenschaften hatte der Archäologe und Rektor des Berliner
Wissenschaftskollegs Luca Giuliani gesprochen. Giuliani sah vor allem die
Forscher in der Vermittlungspflicht... Gustav Seibt (Süddeutsche Zeitung)
erinnerte daran, dass das Feuilleton von einer Voraussetzung lebt, die es
selbst nicht schaffen kann: der Bildung."

taz, 10.5.2007
http://www.taz.de/dx/2007/05/10/a0227.1
NZZ, 11.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/11/fe/articleF68D9.html
Welt, 10.5.2007
http://www.welt.de/welt_print/article863095/Paartanz_oder_Rosenkrieg.html
[Geisteswissenschaften]

Fund des Herodes-Grabs

Unterschiedlich eingeschätzt in seiner Bedeutung wird der mutmaßliche Fund
des Herodes-Grabs nahe Bethlehem, wie der Tagesspiegel berichtet. Aber
mancher Experte staunt doch: "'Diese Wut auf Herodes ­ 70 Jahre nach
seiner Bestattung!' Für Linda-Marie Günther, Professorin für Alte
Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, ist die Entdeckung des Grabes
von König Herodes durchaus 'sensationell'. Dass der Sarkophag offenbar
einige Jahrzehnte nach der Bestattung zertrümmert wurde, passe zu der
kontroversen Persönlichkeit des Königs."
Im Deutschlandfunk zeigt sich der Bibel-Archäologe Wolfgang Zwickel
optimistisch, dass es sich bei dem bei Bethlehem entdeckten Grab wirklich
um das des Herodes handelt: "Es scheint also, im Gegensatz zu vielen
anderen Meldungen, die wir in der letzten Zeit hatten - ich denke an das
angebliche Jesusgrab, das am Karfreitag im Fernsehen gezeigt wurde -
scheint dies doch eine sehr zuverlässige Sache zu sein. Das Grab wurde
auch genau da gefunden, wo man es erwartet hat: nämlich in Herodium, das
ist eine Anlage, die Herodes gebaut hat in der judäischen Wüste, etwa 15
Kilometer östlich von Bethlehem."

Tagesspiegel, 10.5.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/10.05.2007/3253771.asp
Deutschlandfunk, 8.5.2007
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/623032/
[Archäologie]

Themen der Woche

Ästhetik des Bösen

In der NZZ denkt der derzeit viel gefeierte, soeben mit dem
Heinrich-Mann-Preis (vgl. Newsletter der letzten Woche) ausgezeichnete
Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer über eine Ästhetik des Bösen
nach und stellt fest: "Das Böse in der Kunst ist keine Frage des Genres,
auch wenn eine bestimmte Schule der romantischen Tradition eine
spezifische Affinität dazu hatte. Aber darüber hinaus wurde auch klar,
dass es die bedeutenden Repräsentanten der Literatur des 19. und 20.
Jahrhunderts sind, die dem Prinzip des ästhetisch Bösen verhaftet waren:
nicht als Stoff und Gehalt eines mörderischen Zeitalters, sondern als
Spiel und Stimmung, als Medium einer emphatischen künstlerischen Methode
der Überbietung des Gewöhnlichen."

NZZ, 12.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/12/li/articleF41MT.html
[Literaturwissenschaft]

Ironische Rückkehr der Sowjet-Ästhetik

Im Interview mit der SZ spricht der Philosoph Boris Groys über neue
Tendenzen zum Bildersturz in Osteuropa und über den heutigen Umgang mit
der Sowjet-Ästhetik: "Der öffentliche Raum wird entpolitisiert und
kommerzialisiert, der Nationalismus ist nur ein Übergang. Nirgends sieht
man das so deutlich wie in Moskau. Interessanterweise greift die russische
Werbung viele Elemente der Propaganda-Plakate aus der Sowjetzeit wieder
auf. Diese typischen weißen Buchstaben auf rotem Hintergrund zum Beispiel.
Es ist ein ironisches Spiel."

SZ, 11.5.2007
http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/726/113613/
[Philosophie, Kunstgeschichte, Geschichte]

Glückwünsche für Literaturwissenschaftler Norbert Miller

Der 70. Geburtstag des emeritierten Literaturwissenschaftlers Norbert
Miller war zwei Zeitungen einen größeren Glückwunschartikel wert. In der
NZZ gratuliert Martin Meyer: "Norbert Miller verfügt hierbei über die Gabe
eines großen und glänzenden Erzählers. Zwar beherrscht er, wo es
angebracht ist, die kurze Form souverän, und seine philologischen Fußnoten
dokumentieren das Wissen, das Grundlage jeder freien Hermeneutik ist. Aber
das eigentliche Element des temperamentvollen Könners erweist sich in der
Schilderung von weit gespannten Entwicklungsgängen."
Lothar Müller schwärmt in der SZ: "Norbert Millers Schriften bieten dem
deutschen Publikum eine Grand Tour, die aus der alteuropäischen Welt bis
in die Kunst und Literatur der Gegenwart führt. Und zwar so, dass kein
Reisegespräch über die deutsche Literatur möglich ist, das nicht die
klassischen Pole der Grand Tour - England und Italien - berührt und
Abstecher nach Frankreich macht."
In der FAZ streicht Richard Kämmerlings Millers Interesse auch an der
Gegenwartsliteratur heraus: "Als Mitherausgeber von "Sprache im
technischen Zeitalter", als Anreger, als Kritiker und Juror (etwa in
Klagenfurt) hat Miller nicht zuletzt auch die Gegenwartsliteratur immer
wieder von seiner Neugier profitieren lassen, die im Gleichtakt mit dem
Alter und dem Wissen zuzunehmen scheint."

NZZ, 14.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/14/fe/articleF5OKS.html
SZ, 14.5.2007
FAZ, 14.5.2007

Vor der Kunstwissenschaft

Im Fogg-Museum der Harvard-Universität findet die Ausstellung "The Last
Ruskinians: Charles Eliot Norton, Charles Herbert Moore, and Their Circle"
statt. Susanne Klingenstein wirft in der FAZ einen Blick auf diese
Frühgeschichte der Kunstwissenschaft: "Man kennt die Namen nicht mehr.
Doch um sie herum ist in dem von Studenten bevölkerten Fogg Museum das
Prinzip lebendig, für das sie lebten: die moralisch-ästhetische Erziehung
des Menschen durch die Anschauung großer Kunst.."

FAZ, 8.5.2007
[Kunstgeschichte]

Bücher und Rezensionen

Manfred Koch begeistert sich in der NZZ für Jan Philipp Reemtsmas
"brillanten Essay" über Gotthold Ephraim Lessings Hamburger Jahre und
resümiert: "In wenigen Strichen skizziert Reemtsma den Beitrag von
Lessings eigenen Dramen zu dieser Ethik eines aufmerksamen,
verständigungsbereiten Umgangs, die nicht gelehrt, sondern - in einer Art
theatralischer éducation sentimentale - dem Gefühlshaushalt direkt
eingepflanzt wird."

http://www.nzz.ch/2007/05/12/li/articleF3RW9.html
[Literaturwissenschaft]

In der FAZ schwärmt Markus Krajewski von Anke te Heesens
kulturgeschichtlicher Studie mit dem sprechenden Titel "Der
Zeitungsausschnitt": "Anke te Heesen gelingt es in ihrer luziden
Mediengeschichte der zerschnittenen Zeitung nicht nur, mit besonderer
Materialzärtlichkeit eine bislang weitestgehend übersehene kulturelle
Praktik zu rekonstruieren und analytisch auszudeuten. Vielmehr noch
entwickelt sie mit eleganter Beiläufigkeit eine kleine Theorie des
Fragments, wenn sie verdeutlicht, welch ungeheurer Akt im 'cut and paste'
einer Zeitung besteht."

FAZ, 11.5.2007
[Kulturgeschichte]

In der Welt spricht Eckhard Fuhr mit Micha Aster, der gerade eine
Geschichte der Philharmoniker als "Reichsorchester" der Nazis verfasst
hat. Aster erläutert: " Die Berliner Philharmoniker waren eine GmbH, an
der die Musiker Anteile hatten. 1933 gab es Verhandlungen zwischen dem
Goebbels-Ministerium und dem Orchestervorstand, die dazu führten, dass am
15. Januar 1934 das Reich die gesamte GmbH, also auch die Anteile der
Musiker, übernahm und die Berliner Philharmoniker so zum Eigentum des
Reiches, zum 'Reichsorchester' wurden."

Welt, 11.5.2007
http://www.welt.de/kultur/article864529/Die_Berliner_Philharmoniker_in_der_N
azi-Zeit.html
[Geschichte, Musikwissenschaft]

Werner Hofmann zeigt sich in der SZ beeindruckt von Felix Krämers
Untersuchung "Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900" und
lobt: "Felix Krämers Buch ist ein fakten- und ideenreicher, vom Verlag gut
ausgestatteter Beitrag zur Kunst- und Mentalitätsgeschichte des 19.
Jahrhunderts. Der Text liest sich gut und enthält eine Fülle von
Querverweisen zum gesamten geistesgeschichtlichen Kontext. Krämer ist mit
der Genderforschung genauso vertraut wie mit Jacques Lacan und Sarah
Kofman."

SZ, 15.5.2007
[Kunstgeschichte]

Konferenzen und Tagungen

Aufgeklärte Natur im Wörlitzer Park

In Wörlitz trafen sich die Mitglieder der deutschen Akademie für Sprache
und Dichtung im Park Wörlitz. Burkhard Müller informiert die Leser der SZ:
"Diesmal gab es einen besonders engen und fruchtbaren Bezug zwischen Ort
und Thema. Man fand sich im Wörlitzer Gartenreich nahe Dessau zusammen, um
über 'Aufgeklärte Natur' zu sprechen. Aufgeklärte Natur - das ist eine
Formulierung von geradezu ironischer Vieldeutigkeit; und sie entfaltete
sich, während draußen die Nachtigallen am hellen Tage sangen, nach und
nach in allen ihren Aspekten."
Für die NZZ berichtet Joachim Güntner: "Zum Auftakt der Tagung
porträtierte Gustav Seibt den Fürsten Franz als menschenfreundlichen
Reformer, der den Bruch mit dem König nicht scheute, mit großer
politischer Klugheit seine Chancen nutzte, sich sorgte um Bildung und
Auskommen seiner Untertanen, Stalltierhaltung und Fruchtfolge in die
Landwirtschaft einführte, die Juden seines Reichs schützte."
Wieland Freud hat die Tagung für die Welt besucht.

SZ, 14.5.2007
NZZ, 14.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/14/fe/articleF6IRH.html
Welt, 14.5.2007
http://www.welt.de/kultur/article867108/Selbst_der_Wald_ist_relativ.html
[Geschichte, Literaturwissenschaft]
[Aufklärung]

Judging Values

In Karlsruhe waren Staatsrechtler, Philosophen und Protagonisten der
Integrationsdebatte wie der umstrittene Autor Tariq Ramadan versammelt, um
auf einer von der Kulturstiftung des Bundes ausgerichteten Tagung mit dem
Titel "Wert Urteile - Judging Values" über Europa als Wertegemeinschaft
nachzudenken. Für die Welt hat Mariam Lau die Tagung besucht: " Wie sehr
die Postmoderne Vergangenheit ist, merkte man auch daran, dass Ramadan mit
seiner Behauptung, Probleme seien nur eine Frage der Wahrnehmung, und die
Mehrheit der Muslime käme gut mit der Demokratie zurecht, bei den
Teilnehmern nicht landen konnte."
In der NZZ berichtet Uwe Justus Wenzel, dass man die Wertegemeinschaft als
Gemeinschaft der Wertedifferenzen begreifen kann: "Jacob Burckhardt, daran
hat der Philosoph Ludger Honnefelder bei seiner Bilanz des europäischen
Diskurses in Sachen Bioethik erinnert, bestimmte das Proprium Europas als
discordia concors, als 'einige Uneinigkeit'; und auch der (einstweilen
gescheiterte) Entwurf für einen Verfassungsvertrag sprach von der 'Einheit
in Verschiedenheit'."
Wenig zufrieden zeigt sich mit der Veranstaltung Jens-Christian Rabe in
der SZ: "Für eine veritable Diskussion aber lagen die Beiträge zu weit
auseinander. Und so litt dieses im Grunde großartige Forum westlicher
Intelligenz an einem frappanten Gedächtnisverlust, der jedem gemeinsamen
Erkenntnisfortschritt im Weg stand. Geredet wurde nicht miteinander,
sondern nacheinander."

Welt, 13.5.2007
http://www.welt.de/welt_print/article867888/Europas_Muslime_sind_laengst_int
egriert.html
NZZ, 15.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/15/fe/articleF6MJA.html
SZ, 15.5.2007
[Philosophie]
[Toleranz]

Das Erbe der Monarchie

In der FAZ berichtet Martin Otto von einer von Medienwissenschaftlern,
Historikern und Vertretern anderer Disziplinen ausgerichteten Konferenz
zum Thema "Erbe der Monarchie" in Deutschland: "Das Fazit zog Christopher
Clark (Cambridge), Autor der gefeierten Geschichte Preußens . Bei aller
Sensibilität für Inszenierungen habe Wilhelm II. 'nicht kapiert', dass
eine mediale Monarchie nur entpolitisiert hätte überleben können. Der
Begriff des Untertanen sei durchaus egalitärer als der einer zwangsläufig
elitären Bürgergesellschaft; Clark verwies auf Texte der Aufklärung, in
denen der Heldentod für den König als Vehikel ständeübergreifender
Gleichheit erscheint."

FAZ, 14.5.2007
[Geschichte, Medienwissenschaft]

Muslimischer Feminismus

Die Frage "Gibt es einen muslimischen Feminismus?" wurde aus theologischer
Perspektive auf einer Tagung des Berliner Wissenschaftskollegs verhandelt.
Die Antwort lautete, wie Gustav Falke berichtet, ja ­ aber er sieht
durchaus anders aus als westliche Feminismen: "Während bei einer
entsprechenden Veranstaltung des westlichen Feminismus unweigerlich über
das richtige Leben debattiert worden wäre, galt hier Authentizität als
das, was jeder mit sich auszumachen habe. Doch zugleich war deutlich das
Gespräch der Seele mit sich selbst, die Vergewisserung des eigenen Selbst-
und Gottesverhältnisses, als Quell der Toleranz zu erkennen."

FAZ, 15.5.2007
[Theologie]
[Religion]

Strawinsky und Tanz

Ein großes Symposion zum Verhältnis des Komponisten Igor Strawinsky zum
Tanz fand in Wien statt. Gerhard R. Koch unterrichtet die Leser der FAZ:
"Immerhin lässt sich seit gut zwanzig Jahren wieder offen über die
Widersprüche in Sachen Strawinsky diskutieren, das Bollwerkdenken ist
längst Historie, die tradierten Muster verfangen nicht mehr."

FAZ, 11.5.2007
[Musikwissenschaft]

Quellennachweis:
WWW: Presseschau Perlentaucher (Jahr d. Geisteswissenschaften). In: ArtHist.net, 16.05.2007. Letzter Zugriff 01.05.2024. <https://arthist.net/archive/29321>.

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