Die Forschung zu Le Corbusier widmet sich in letzter Zeit vermehrt der Positionierung des berühmten Allrounders im Kontext von Politik, Gender Studies und der Rezeption seiner Werke. Werkimmanente Analyse scheinen weitgehend abgeleistet. Der vorgelegte Band ruft gleichwohl deren Relevanz ins Bewusstsein. Er vereint dreizehn zumeist ältere, in den 1970er- und 1980er-Jahren auf Französisch oder Italienisch erschienene und bereits 2013 in einem italienischen Sammelband edierte Studien des Autors, die hier nun leicht aktualisiert in sorgfältiger deutscher Übersetzung vorliegen.[1] Zum größten Teil handelt es sich um Werkinterpretationen der berühmten Villen- und Wohnbauten Le Corbusiers aus den zwanziger Jahren; außerdem sind drei Studien dem Carpenter Center for the Visual Arts in Cambridge (Mass.), dem wenig beachteten Krankenhausprojekt für Venedig (beide aus den 1960er Jahren) sowie den Bezügen der puristischen Malerei Le Corbusiers auf seine Architektur gewidmet. Die Bauten werden hinsichtlich ihrer, in den Worten des Autors, „intertextuellen“ Bezüge architektonisch analysiert. Damit wendet sich Reichlin programmatisch von den in den 1980er Jahren, um das Zentenarium der Geburt des Meisters, gängigen Zielen ab, vor allem nach „Innovationen“ im Werk von ‚Corbu‘ zu fragen und rückt stattdessen dessen überaus kreative und originelle Konzeptualisierung von Konstruktion, Raum und Gestalt in den Vordergrund, die er als Transformation von Überlieferungen deutet. Dies meint natürlich kaum die Tradition von Stilgrammatiken oder Bautypologien, sondern von Strategien und Konzepten architektonischen Denkens und Entwerfens.
Drei Themenbereiche seien herausgestellt: Zunächst zeigt Reichlin sehr eindrücklich, wie die früh, zwischen 1914 und 1920, entwickelten grundsätzlichen Architekturkonzepte des Dom-ino-Systems und des Citrohan-Hauses dialektisch aufeinander bezogen sind. Jenes stellt eine flexibel auszustattende Flächentragkonstruktion dar, in der die Konzeption von Grundrissen, Lichtführungen, Sichtachsen und Bewegungsimpulsen als individuell regelhaftes Komponieren geschieht. Dabei lassen sich immer wieder prinzipielle Bezüge zur puristischen Malerei herstellen. Das Citrohan-Konzept fungiert indessen als die plastisch klare, prismatische Hülle dieser Disposition, gleichsam als Rahmen, der das Innere jedoch subtil öffnen oder andeuten kann, wie Reichlin in mehreren Grafiken veranschaulicht. Die Systematik dieser Strategien wird dadurch untermauert, dass derartige Gestaltungsprinzipien immer wieder mit literarischen Verfahren, etwa der Synekdoche, des Chiasmus oder des Verschweigens verglichen werden. Le Corbusier selbst hat einen derartigen „lyrime“ explizit über einen banalen Funktionalismus gestellt. Pikanterweise wurde dem Architekten eine solche Monofunktionalität gerade auch von dem zeitgleich mit Reichlin in Zürich lehrenden Philosophen Elmar Holenstein recht ausführlich und harsch unterstellt. Dieser äußerte sich dazu als Herausgeber der poetologischen Schriften von Roman Jakobson – auf die sich Reichlin mehrfach bezieht – , dessen theoretisch reflektierte Multifunktionalität von Sprache Holenstein vom angeblich banalen Funktionalismus Le Corbusiers absetzt.[2] Gegen solche geisteswissenschaftlichen Missdeutungen des Architekten scheint Reichlin implizit anzugehen. Ein weiteres Paradigma ist das Verhältnis von Innen- und Außenraum in den Wohnbauten, das über die Zwischenmembran des Fensters subtil und variationsreich reguliert wird. Je nach Präsenz und Gestaltung von dessen Proportionierung und Rahmung wird die Membran negiert, wie es die Langfenster in den Häusern in Corseaux, Garches oder Poissy bewirken, oder aber ästhetisch als belebtes Bild der Außennatur entrückt, wie es sich vermittels gerahmter Fensterbilder an anderen Stellen in den genannten Häusern zeigt. In der Villa Church in Ville-d’Avray (zerst.) wurde diese Variation von Raumillusion noch insofern weitergetrieben, als die Rückwand des gerahmten Fensters verspiegelt war, das Zimmer sich dadurch im Raum visuell verdoppelte, in dessen Mitte das Fensterbild zu schweben schien – ein Effekt, der Reichlin zu Recht an Bilder Magrittes erinnert. Und schließlich geht es immer wieder um eine inhaltliche Differenzierung der von Le Corbusier propagierten „promenade architecturale“ als dynamischer Architekturerfahrung. Reichlin unterscheidet hier nach den Bewegungen des Körpers und des Blicks sowie nach den sich verändernden Status der in den Blick genommenen Bilder, nah oder distant, real oder in Rahmung „entnaturalisiert“. – Kritisch ist anzumerken, dass die Abbildungen zumeist sehr klein und deshalb einige Argumente nicht leicht nachzuvollziehen sind. Die historischen Bezüge und Verfahren werden vielfältig, aber insgesamt eher sporadisch benannt, etwa im Verweis auf Palladio, die Ecole des Beaux-Arts, Julien Guadet, De Stijl, Walter Gropius oder Gustav Umdenstock. Der redundant verwendete Begriff „Dispositiv“ bezieht sich wohl weniger auf Foucaults Terminologie, sondern ist als Helvetismus für ‚Gestaltungsoption‘ u. ä. zu verstehen.
Das methodische Rüstzeug Reichlins bietet insbesondere die in den 1980er Jahren sich neu formierende oder neu rezipierte Linguistik, Semiotik und Literaturanalyse, denen Reichlin immer wieder zentrale Begriffe wie Parallelismus, Chiasmus, Enjambement, Transparenz bzw. Stilmittel der Rhetorik entnimmt, um die grundsätzlichen Werkverfahren Le Corbusiers methodisch zu präzisieren. Zentrale Bedeutung nehme dabei der Begriff der Intertextualität nach Michail Bachtin und Julia Kristeva ein, der jedes sprachliche Werk als eine verdichtete Struktur von älteren Texten begreift. Reichlin sieht entsprechend auch das Werk von Le Corbusier als eine komplexe und subtile Überlagerung älterer Architekturkonzepte und bemüht sich in seiner Einleitung zum vorliegenden Band auch, den literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität durch den jüngeren der Interpiktoralität zu ergänzen und in den Bereich der modernen Architekturgeschichte zu integrieren. Die zu Rate gezogene Sekundärliteratur zu Le Corbusier selbst beschränkt sich im Wesentlichen auf wichtige Studien zur Entwurfsgeschichte der Villenbauten, vor allem von Tim Benton. Das ist aber durchaus programmatisch, denn es geht Reichlin als Architekt und Architekturtheoretiker dezidiert nicht darum, äußere Kontexte der Bauten, also etwa deren Auftraggeber, soziale, weltanschauliche, politische und regionale Umfelder kritisch zu bewerten, sondern um eine subtile immanente Werkanalyse. Hinzu kommt komplementierend die überaus intensive und aufmerksame Auswertung der zahlreichen Schriften Le Corbusiers, die als dessen komplex erläuternder theoretischer Kommentar sehr ernst genommen, nicht also als opportune Polemik, Marketingstrategie oder Mystifizierung abgewertet werden. Jeder der Studien Reichlins ist eine solche programmatische Textpassage Le Corbusiers vorangestellt. Es ist einer der überraschenden Nebeneffekte des Buches, dass hier aktuelle Teilübersetzungen einiger Textausschnitte Le Corbusiers vorgelegt werden, die die konzeptuelle und poetische Prägnanz und Subtilität des „Architekten des 20. Jahrhunderts“ bestätigen.
Man muss das Buch insgesamt in zweierlei Hinsicht und jeweils mit viel Gewinn lesen: zum einen als eine sehr subtile, weiterhin gültige Werkanalyse durch einen ebenso historisch wie auch architektonisch denkenden und produzierenden Autor. Zum anderen aber stellt es ein wichtiges historisches Zeugnis dar. Bruno Reichlin, Architekt und Architekturlehrer, war bekanntlich seit den 1970er Jahren ein wichtiger Protagonist des postmodernen Architekturdiskurses. Er hatte nicht nur bei Aldo Rossi assistiert und formulierte mit Fabio Reinhart im Anschluss an Rossi im Tessiner Kontext die „analoge Architektur“; eminent belesen, schaute und schaut er weit über die Grenzen seines Faches, gerade auch als Architekturprofessor in Zürich, Genf und Mendrisio.[3] Die Einleitungen von Catherine Dumont d’Ayot und Reichlin selbst sind insofern erhellend, denn sie zeigen, in welch intensiver Weise sich der Autor theoretisch und teilweise persönlich mit Roman Jakobson, Roland Barthes, Umberto Eco, Werner Oechslin u. a. auseinandersetzt(e). Reichlins Schriften zu Le Corbusier exemplifizieren also seinen vor allem literaturwissenschaftlich und keineswegs etwa soziologisch oder politisch-historisch geprägten Umgang mit älteren Bauten im Kontext seines eigenen Agierens als Architekt.[4] Sie sind solchermaßen vergleichbaren Analysen historischer Architekturen durch Aldo Rossi, Peter Eisenman oder Rem Koolhaas an die Seite zu stellen, setzen sich aber umgekehrt von der gleichzeitigen Entdeckung der politisch-ideologischen Semantik des Bauens in der damaligen Architekturhistoriographie, auch bezüglich von Le Corbusier, ab.[5]
[1] Annalisa Viati Navone (Hrsg.): Bruno Reichlin, Dalla „soluzione elegante“ all’„edificio aperto“. Scritti attorno ad alcune opere di Le Corbusier. Mendrisio/Mailand 2013; s. hierzu die Rezension von Georg German: Wenn Architekten über Architekten schreiben: Bruno Reichlin zu Le Corbusier, in: Kunstchronik 68/2015, 334–337.
[2] Elmar Holenstein: Einführung: Von der Poesie und der Plurifunktionalität der Sprache, in: Ders. (Hrsg.): Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt/M. 1979, ³1993 (stw 262), S. 7–61, hier S. 34–45.
[3] Hierzu jüngst: Elena Markus: Zum (Dirty) Realism: Analoge Architektur 1983–1987. Diss. München TU 2022.
[4] Lack, Peter: Bruno Reichlins gebaute Architekturkritik: moderne Architektur und Historizität. Alfter 1993.
[5] Fishmann, Robert: Form the Radiant City to Vichy: Le Corbusier’s Plans and Politics, 1928–1942, in: Russell Walden (Hrsg.): The Open Hand. Essays on Le Corbusier. Cambrigde (Mass.) u. London 1977, S. 244–288; McLeod, Mary: „Architecture or Revolution“: Taylorism, Technocracy, and Social Change, in: Art Journal 43/1983, S. 132–147.
Reichlin, Bruno: Le Corbusier. Von der eleganten Lösung zum offenen Werk, Zürich: Schneidegger & Spiess 2022
ISBN-13: 978-3-85881-854-6, 493 S., EUR 48.00, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Christian Freigang: [Rezension zu:] Reichlin, Bruno: Le Corbusier. Von der eleganten Lösung zum offenen Werk, Zürich 2022. In: ArtHist.net, 26.01.2025. Letzter Zugriff 27.01.2025. <https://arthist.net/reviews/43792>.
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