WWW 09.05.2007

Presseschau Perlentaucher (Jahr d. Geisteswissenschaften)

Christof Biggeleben

Jahr der Geisteswissenschaften 2007

Aus den Feuilletons

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk outete sich bei der Verleihung der
Ehrendoktorwürde der FU Berlin, wie die FAZ berichtet, als
"autodidaktischer“ Leser geisteswissenschaftlicher Studien. Der
Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger erklärt in der NZZ, wie
geisteswissenschaftliche Experimentalsysteme aussehen. Und die Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung druckte ein Plädoyer für wissenschaftliche
Publikationszurückhaltung.

Im Blickpunkt

Ehrendoktor für Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk

Dieser Tage erhielt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
die Ehrendoktorwürde der FU Berlin. In der FAZ berichtet Heinrich Wefing:
"Heiter und augenscheinlich entspannt ließ der türkische Schriftsteller
fast anderthalb Stunden lang Lobreden über sich ergehen, stellte sich
geduldig den Kameras, dankte in erfrischend knappen Worten für die
akademische Auszeichnung, indem er sich als interessierter, wenngleich
'naiver, amateurhafter, autodidaktischer Leser' geisteswissenschaftlicher
Studien vorstellte..."
In der FR informiert Harry Nutt: "Der Literaturwissenschaftler Gert
Mattenklott, der Wert auf die Feststellung legte, dass die Anfrage zur
Ehrung aus Berlin-Dahlem Pamuk früher erreicht hatte als der noble Ruf aus
Stockholm, rühmte Orhan Pamuk als einen Meister der Metamorphosen."

FAZ, 5.5.2007
FR, 5.5.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=112885
[Literaturwissenschaft]

Wie in der Wissenschaft das Neue in die Welt kommt

Die NZZ druckt einen Vortrag des Wissenschaftshistorikers und Philosophen
Hans-Jörg Rheinberger ab, in dem dieser über die Logik der Entdeckung des
Neuen in der Wissenschaft nachdenkt. Der Ort, an dem dies geschieht, sind
die von ihm so genannten Experimentalsysteme - und die gibt es nicht nur
in den Natur- sondern auch in den Geisteswissenschaften. Allerdings haben
sie da, so Rheinberger, eine ganz spezifische Form: "Ich möchte aber
behaupten, dass die wichtigste Quelle des Neuen - nicht im Sinne des
Konstatierens von Fakten, sondern im Bereich der Interpretation - für den
Historiker wie in den Geisteswissenschaften wohl überhaupt das Schreiben
selbst ist. (...) Das Schreiben, so behaupte ich, ist selbst ein
Experimentalsystem. Es ist eine Versuchsanordnung. (...) Es gibt den
Gedanken eine materielle Verfassung - und zwar eine, die das Entstehen von
Neuem ermöglicht."
NZZ, 5.5.2007
http://www.nzz.ch/2007/05/05/li/articleELG88.html

Themen der Woche

Weniger publizieren!

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung plädieren der Soziologe
Hartmut Rosa und der Chefredakteur des Online-Magazins "sciencegarden" für
wissenschaftliche Publikationsaskese, d.h. die Veröffentlichung von nicht
mehr als drei Fachaufsätzen im Jahr. Die Devise "publish or perish" habe
längst katastrophale Folgen: "Wir haben keine Zeit mehr, durchdachte
Aufsätze zu schreiben, es fehlen die Ressourcen und Kriterien für
fundierte Gutachten, und wir studieren nicht mehr zielgerichtet und
systematisch, was unsere Kollegen produzieren. Der einzige Trost: dass
sich Letzteres in vielen Fällen auch gar nicht lohnen würde, schließlich
sehen sich ja alle gezwungen, halbfertige Projektideen und grob skizzierte
Rohfassungen zu veröffentlichen."

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.5.2007
http://www.faz.net/p/Rub439E4093E0144AF78E405530AD1C696A/Dx2~E248F87B5D13CD9FACD8FD45D3A51B64F~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Heinrich-Mann-Preis an Karl-Heinz Bohrer

Den diesjährigen Heinrich-Mann-Preis erhielt der Literaturwissenschaftler
Karl-Heinz Bohrer. Für den Tagesspiegel war Thomas Wegmann bei der
Verleihung. Zur Gemeinsamkeit von Namensgeber und Träger des Preises
stellt Wegmann fest: "Manns und Bohrers Werke bilden Ästhetische
Parallelen, die sich erst im Unendlichen schneiden auch wenn in der
Berliner Akademie der Künste solche Überschneidungen an anderen Orten
gefunden wurden, allerdings nur für einen instruktiven, aber endlichen
Abend lang."

Tagesspiegel, 2.5.2007
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/02.05.2007/3236410.asp
[Literaturwissenschaft]

Glückwünsche für Götz Aly

Der Historiker Götz Aly, der bahnbrechende Werke zum Nationaloszialismus
veröffentlichte, aber nie einen Lehrstuhl an einer Universität erhielt,
feiert seinen sechzigsten Geburtstag. In der FR gratuliert Arno Widmann:
"Götz Alys Bücher machen deutlich, wie sehr es dem Nationalsozialismus um
die Vernichtung ging. Juden, Behinderte, Homosexuelle sollten
"ausgerottet" werden. Götz Aly hat die Techniken der Vernichtung
untersucht und ihre Ökonomie. Er hat die Ideologie, die dieses Programm
legitimieren sollte, ebenso kritisch analysiert wie deren Vor- und
Nachgeschichte. Er hat uns gelehrt, dass es nicht nur Täter, Opfer und
Zuschauer gab. Es gab auch Profiteure."
Die Gratulation in der FAZ kommt von Lorenz Jäger: " Aly also ging stets
neue Wege, und meist fand er nicht das im pseudoreligiösen Tonfall
vorgebrachte 'Unerklärliche', sondern eine überraschend-erschreckend
plausible Ratio am Werk."

FR, 3.5.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1127199
FAZ, 3.5.2007

Glückwünsche für Robert Spaemann

In der FAZ gratuliert Henning Ritter dem Philosophen Robert Spaemann zum
Achtzigsten – und lobt ihn als auf alle akademische Esoterik verzichtenden
Teilnehmer am öffentlichen Diskurs: "Die aktuellen Auseinandersetzungen,
in die Spaemann sich verwickeln ließ, haben noch ein andere Folge gehabt,
die der Lesbarkeit und dem souveränen Gestus seiner Bücher zugutekam: Er
hat sich nie in dem heute üblichen Umfang auf die Argumentkultur der Zunft
und auf den technischen Apparat der akademischen Philosophie eingelassen."
Spaemanns jüngste Publikation, ein Band mit Aufsätzen zum Thema Religion,
wird in der NZZ besprochen.

FAZ, 5.5.2007
NZZ, 5.5.2007

Schnittstellenforschung zu Hirn und Geist

Von einer Veranstaltung, bei der die HU Berlin ihre Pläne für eine
koordinierte, interdisziplinär arbeitende Graduiertenausbildung
vorstellte, berichtet Armory Burchard im Tagesspiegel. Der ehemalige
Kulturstaatssekretär Julian Nida-Rümelin lobte das Vorhaben einer
Schnittstellenforschung zur Hirn und Geist, gerade angesichts der
aktuellen Schwierigkeiten für die Geisteswissenschaften: "Unter dem Druck
der Ökonomisierung drohten ganze Wissenschaftsbereiche marginalisiert zu
werden. Gegenwärtig etabliere sich ein Kolonialismus gegenüber
kulturwissenschaftlichen Disziplinen. So stellten Neurowissenschaftler
Begriffe wie Verantwortung oder freier Wille infrage, mit denen sich
traditionell Philosophen auseinandersetzten."
Tagesspiegel, 2.5.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/02.05.2007/3236357.asp
Weitere Informationen zum Programm: www.mind-and-brain.de

Bücher und Rezensionen

Christine Pries begrüßt in der FR eine neue Suhrkamp-Buchreihe, die sich
ausdrücklich an Studenten wendet: "Die neue Reihe 'Suhrkamp
Studienbibliothek' präsentiert klassische theoretische Texte in einem Band
mit einem ausführlichen Kommentar, der nicht nur einzelne Stellen
erläutern, sondern den Text umfassend historisch-systematisch einbetten
und die Positionen der Forschung vorstellen soll. Glossar und
biographischer Abriss wollen den Laien an die Thematik heranführen, eine
kommentierte Auswahlbiographie zum Weiterlesen einladen."

FR, 7.5.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1129794

Mit gewissem zeitlichem Abstand zur Veröffentlichung setzt sich in der FAZ
der Ratzinger-kritische Religionswissenschaftler Karl-Heinz Ohlig mit
dessen Jesus-Buch auseinander. Sehr problematisch findet er Ratzingers
ahistorische Perspektive: "Salopp ließe sich dazu bemerken: Wie man in die
Bibel hineinruft, so schallt es heraus. Ein solches Vorgehen mag für die
Rezeption Jesu in verschiedenen Kulturkreisen unvermeidlich sein, aber es
beantwortet nicht die wissenschaftliche Frage nach dem historischen Jesus.
Deswegen wehrt sich Ratzinger, trotz auch positiver Bezugnahmen und der im
Ganzen geäußerten Wertschätzung, gegen Ergebnisse der
historisch-kritischen Exegese."

FAZ, 7.5.2007
[Religion]

In der FR stellt Rolf Wiggershaus gleich zwei Neuerscheinungen zum
Philosophen Ernst Bloch vor. Der eine Band sammelt Blochs in der
Frankfurter Zeitung erschienene Artikel, der andere eine Bildmonographie.
Nichts aufregend Neues, konstatiert Wiggershaus, aber eine "nützliche
Ergänzung" des Vorhandenen.

FR, 4.5.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1128004

Konferenzen und Tagungen

Philologie der Philologie

In der SZ berichtet Volker Breidecker über eine Osnabrücker Tagung, auf
der sich Philologen mit der Geschichte der Philologie beschäftigten. Das
Fazit fällt positiv aus: "Den Philologien, die seit Jahren vornehmlich an
ihrer Selbstabschaffung arbeiten, ist die kritische Perspektive auf die
eigene Fachgeschichte - zumal mit den Instrumentarien, welche die
Disziplinen selbst bereitstellen - keine Selbstverständlichkeit. Häufig
wird der wissenschaftsgeschichtliche Antrieb als ein selbstbezügliches
Unterfangen - Philologie der Philologie - belächelt. Gerade da erbrachte
die Osnabrücker Tagung manchen Nachweis für die Fähigkeit der Philologien,
sich in historischer Selbstbesinnung und kritischer Selbstreflexion von
innen heraus zu erneuern und Dialoge aufzunehmen."
SZ, 4.5.2007

Willensfreiheit und Strafrecht

Einer Frankfurter Diskussion zum Thema Neurobiologie, Willensfreiheit und
Strafrecht hat sich für die SZ Rainer Maria Kiesow angehört. Gar nicht
zufrieden ist er mit dem Resultat, zu dem die Mehrheit der Diskutierenden
kam, darunter die Hirnforscher Wolf Singer, Jürgen Roth, der Philosoph
Klaus-Jürgen Grün und sein Doktorand, der auch anderweitig bekannte Michel
Friedman. Aus der Verneinung der Willensfreiheit wurde auf die Abschaffung
des Strafrechts geschlossen. Kiesow gibt zu bedenken: "Ob es humaner ist,
Gesetzesbrecher in die Fänge des medizinal-therapeutischen Komplexes zu
geben als ins Gefängnis zu stecken, ist sehr die Frage. Einem Sein kann
man nicht entrinnen, die Therapie wird zum fragelosen, rettungslosen
Dasein. Michel Foucault, Pierre Legendre und ihre Analysen der
therapeutischen Menschenzurichtungsmaschinenparks - Fehlanzeige, genauso
wie der alte Materialismusstreit."
SZ, 3.5.2007

Stadtpläne in Literatur und Film

Im Tagesspiegel informiert Steffen Richter über eine Berliner Konferenz
mit dem Titel "Metropolen im Maßstab" – die sich mit dem Thema Stadtplan
in Literatur und Film befasste. Er resümiert: " Wenn Stadtpläne in Büchern
oder Filmen auftauchen, geht es meist um Macht und Kontrolle über den Raum
und zugleich darum, sich dieser Kontrolle zu entziehen."
Tagesspiegel, 3.5.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/03.05.2007/3237784.asp

Quellennachweis:
WWW: Presseschau Perlentaucher (Jahr d. Geisteswissenschaften). In: ArtHist.net, 09.05.2007. Letzter Zugriff 02.05.2024. <https://arthist.net/archive/29302>.

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