In den letzten Jahren erfahren Museen und Ausstellungshäuser einen vermehrten gesellschaftlichen Druck, ihre Zeigeregime zu hinterfragen und zu verändern. Auch im wissenschaftlichen Kontext werden rege Debatten um Praktiken des (Nicht-)Zeigens und um eine verantwortungsvolle kuratorische und künstlerische Praxis geführt. Eine dieser Debatten, die Kontroverse um die Installation Poison soluble. Scènes de l’occupation américaine (2013) von Jean-Jacques Lebel auf der 12. Berlin Biennale, in welcher 2022 Folteraufnahmen aus Abu Ghraib gezeigt wurden, lieferte den Anstoß für das vom Philosophen, Komparatisten und Kurator Christopher A. Nixon herausgegebene Heft Visuelle Gerechtigkeit. Das Heft schließt an oben genannte Debatten um Repräsentation an. Dabei bezieht es sich auf einen Gerechtigkeitsbegriff im Sinne der ‚Social Justice‘ sowie eine Vorstellung von Visualität, die, laut Nixon, „als eine Verschränkung von Sichtbarkeit, Macht und Identität verstanden wird und soziale Wirklichkeit(en) mitproduziert“ (S. 4). Es ist die erste Publikation im deutschsprachigen Raum, die sich dezidiert dem Thema visuelle Gerechtigkeit widmet.
Nixon erklärt in seinem Editorial, bei der Frage nach visueller Gerechtigkeit gehe es um „unzählig[e] Bilder, die Gewalt an Menschen zeigen, in einem Unrechtskontext entstanden sind und diskriminierende Stereotype reproduzieren" (S. 4). Er stellt die Frage, wie „gerechte Bilddarstellungen und Zeigekontexte, in denen marginalisierte Personen erscheinen und in denen an ihre gewaltvolle Geschichte erinnert werden kann" (S. 3), aussehen können. Elf Autor:innen befassen sich in neun Beiträgen aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven mit Fragen um „künstlerische Bildethiken und bildbezogene Ethiken des Forschens und Kuratierens" (S. 3). Die fächerübergreifende Debatte ist dabei eine der Stärken des Hefts. In ihren Beiträgen aus Fächern wie Kunstgeschichte, Curatorial Studies, Kulturwissenschaften und Philosophie entwickeln die Autor:innen unterschiedliche Auffassungen visueller Gerechtigkeit, bewusst wird keine gemeinsame Definition visueller Gerechtigkeit vorgenommen. Die Offenheit des Begriffs ermöglicht dabei eine produktive Auseinandersetzung mit den zahlreichen Facetten des Themas. Von den vielen aufschlussreichen Artikeln im Heft seien hier nur einige wenige exemplarisch vorgestellt, die ebendiesen Facettenreichtum widerspiegeln und dabei insbesondere an Fragen nach visueller Gerechtigkeit anknüpfen, die sich mir aus kuratorischer Sicht stellen.
In seinem Beitrag untersucht der Kunsthistoriker und Jurist Grischka Petri visuelle Gerechtigkeit aus rechtsphilosophischer Sicht. Dabei erläutert er u. a., inwiefern visuelle Gerechtigkeit als eine Forderung in Reaktion auf beobachtete Ungerechtigkeit verstanden werden kann. Er fordert, auch im Ausstellungskontext Unrechtsgefühle ernst zu nehmen und anderen zuzuhören. Er plädiert für den kuratorischen Grundsatz „keine Darstellung ohne Konsultation“, durch welchen „eine Form des angemessenen Zeigens in der Ausstellung" (S. 13) entstehen könne. Im Prozess der Verhandlung visueller (Un-)Gerechtigkeit nähmen Ausstellungsinstitutionen, laut Petri, eine Rolle ein, die mit der eines Gerichts vergleichbar sei und in der sie Verantwortung für das Gemeinwohl trügen.
Verantwortung spielt auch in anderen Beiträgen eine wichtige Rolle. Schon im Editorial wird deutlich, dass für den Herausgeber Fragen der Verantwortung und Heimsuchung zentral für die Auseinandersetzung mit visueller Gerechtigkeit sind. Diese Fragen führt er in seinem eigenen Beitrag weiter aus. Nixon schlägt eine „kritische und Verantwortung tragende Form des Erinnerns" vor, „die die Gegenwart und die Vergangenheit in eine konstitutiv-produktive Beziehung" (S. 17) bringe. Er stellt verschiedene künstlerische Installationen und Werke vor und diskutiert, inwiefern diese als Beispiele visuell gerechter Darstellungen (oder dessen Gegenteil) gelten können. Er begreift dabei in Anlehnung an Derrida und Avery F. Gordon ‚Heimsuchung‘ und ‚Gespenster‘ als „conceptual metaphors" (S. 22), die es ermöglichten, eine Brücke zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit und der Verantwortung für eine gerechtere Zukunft zu schlagen. Gewalterfahrungen aus der Vergangenheit suchten die Gegenwart heim. Mit diesen Gespenstern zu leben, bedeute wiederum, Geschichte verantwortungsvoll anzunehmen und die Zukunft zu gestalten. Dabei sei eine „diachrone und intergenerationale (hantologische) Gerechtigkeitsvorstellung" (S. 22) notwendig. Unter der Linse der Heimsuchung betrachtet Nixon dann die Bilderserie der Schwarzen Künstlerin Lubaina Himidi zur gewaltvollen Geschichte der Menschen auf dem Schiff Le Rôdeur, in welcher sie versuche, „diesem historischen Ereignis und den davon betroffenen Menschen gerecht" zu werden, indem sie in ihren Gemälden „bewusst keine effektvolle Darstellung von Schwarzen Körpern und ihren physischen Qualen" suche (S. 23). Aus der Analyse dieser Bilder folgert Nixon: „Visuelle Gerechtigkeit ist möglich und notwendig" (S. 25). Für eine solche brauche es Imagination, „deren subversive Sprengkraft die Vergangenheit nach undenkbaren Möglichkeiten befragt und die Zukunft mit utopischen Träumen erfüllt" (S. 25).
In anderen Beiträgen werden weitere Voraussetzungen und Bedingungen für visuelle Gerechtigkeit herausgearbeitet. Die Kunsthistorikerin Marie Meyerding beispielsweise betont in ihrem Aufsatz die Bedeutung der Kontextualisierung von Bildern, insbesondere für kuratorische Arbeit. In ihrem Beitrag setzt sie sich kritisch mit der südafrikanischen Fotografin Constance Stuart Larrabee und deren Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Sie legt dar, dass Larrabee, anders als sie es selbst darstellte und in früheren wissenschaftlichen Arbeiten und Ausstellungen behauptet wurde, nicht nur eine Beobachterin Nazi-Deutschlands, sondern eine aktive Sympathisantin war. Auch ihre fotografischen Techniken seien stark von ihrer Studienzeit in Deutschland geprägt. Meyerding betont, dass visuell gerechte Darstellungen und das Ausstellen von Fotografien Kontextualisierung benötigten, die über die Selbstdarstellung von Künstler:innen hinausgehe. Eine solche Kontextualisierung beinhalte eine Erläuterung, wie die Begegnung zwischen Fotograf:in und Fotografierten zustande gekommen und von welchen Machtstrukturen und asymmetrien diese geprägt gewesen sei. Meyerding erklärt abschließend: “Context can transform just an image into a just image” (S. 37).
Die Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin und Vermittlerin Jocelyn Stahl nimmt sich in ihrem Beitrag den schwierigen Fragen der visuellen Gerechtigkeit in ethnologischen Museen an. Dafür präsentiert sie Installationen der Künstlerinnen Valerie Asiimwe Amani und Rehema Chachage in der Ausstellung 'Berge Versetzen' im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, welche sich der Geschichte des Gipfelsteins des Kilimandscharos im heutigen Tansania widmete. Dieser wurde im 19. Jahrhundert im Rahmen kolonialer Bestrebungen nach Deutschland gebracht. Stahl erläutert, dass visuelle Gerechtigkeit epistemische Gerechtigkeit voraussetze, also „eine im Denken verankerte Gerechtigkeit, die verschiedene Wissensformen und inhalte zulässt“ (S. 61). Diese Konzepte, genau wie Umverteilung und Anerkennung, seien große Worte für ethnologische Museen, könnten laut Stahl aber als utopisches Moment und Vision betrachtet werden.
Verschiedene Wissensformen und Multiperspektivität statt totaler Narrative stehen im Zentrum des Beitrags der Kunsthistorikerin Alessa K. Paluch. Darin erläutert sie, inwiefern die Technik der Collage potenziell visuell gerechte Repräsentationen von Queerness und nicht-weißen Erfahrungswelten ermögliche. Als „künstlerische Praxis des Zusammensammelns, Kombinierens und Recyclings“ (S. 46) sei sie dafür geeignet, die „Vielschichtigkeit, Multiperspektivität und Komplexität (nicht nur) queerer Identitäten“ (S. 48) abzubilden. Als „queering method“ (S. 49) breche die Collage Normen auf und schaffe multiperspektivische, multidimensionale Bildräume. Paluch versteht die Collage dabei nicht als „Ausdruck einer versöhnlichen Wiedergutmachung“ (S. 50), sondern „vielmehr als Möglichkeitsraum, in dem otherness und Queerness undiszipliniert und kompromisslos (im Sinne von 'unapologetic') ausgelebt, spielerisch und lustvoll ausprobiert und als reiche Erfahrungswelt sichtbar gemacht werden kann“ (S. 51). Bei der Verwendung von Archivmaterial wie kolonialen Fotografien könne mithilfe der „Um- und Aneignung durch Collage, Montage und Assemblage“ (S. 48) zudem die Ungerechtigkeit, die diesem Material inhärent sei, zumindest potenziell „visuell und formal nachvollziehbar“ (S. 48) gemacht werden. Paluch stellt hier jedoch eine zentrale Frage: „Kann [die Collage] für eine visuell gerechtere Repräsentation queerer Lebenswelten sorgen, wenn sie auf Bildmaterial zurückgreift, welches in und durch gewaltvolle Verhältnisse geschaffen wurde?“ (S. 53).
Abschließend lässt sich festhalten, dass sich das Themenheft der wichtigen Frage nach visueller Gerechtigkeit auf vielschichtige und zum Nachdenken anregende Weise widmet. Durch die Betrachtungen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und die Offenheit des Begriffs wird hier ein multiperspektivischer Zugang geschaffen, wie er in mehreren Beiträgen gefordert wird. Die Stärke des Begriffs der visuellen Gerechtigkeit, genauso wie des Hefts generell, liegt dabei insbesondere in dem Ansatz, visuelle Praxis als eine ethische zu begreifen und für diese einen normativen und verbindlichen Rahmen zu suchen. Die zugänglich und gleichzeitig fundiert geschriebenen Beiträge liefern zahlreiche Denkanstöße und Ideen. Insgesamt ist das Themenheft somit als wichtige Ergänzung zur Forschungslandschaft sowie als Anstoß für weitere Beschäftigung mit dem Thema zu betrachten und seine Lektüre wärmstens zu empfehlen.
Nixon, Christopher A. (Hg.) (Hrsg.): Visuelle Gerechtigkeit, Berlin: arthistoricum.net 2023
90 S., Open Access, Druckausgabe On-Demand 19,90 €, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Marie Vetter: [Rezension zu:] Nixon, Christopher A. (Hg.) (Hrsg.): Visuelle Gerechtigkeit, Berlin 2023. In: ArtHist.net, 23.11.2024. Letzter Zugriff 24.11.2024. <https://arthist.net/reviews/42910>.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.