Jahr der Geisteswissenschaften 2007
"Die Geisteswissenschaften in den deutschen Feuilletons" ist eine
wöchentliche Presseschau, die der Perlentaucher in Kooperation mit dem
Wissenschaftsjahr 2007 "Die Geisteswissenschaften. ABC der Menscheit"
herausgibt. H-ArtHist veröffentlicht als Medienpartner der Initiative
eine Auswahl der Beiträge für den Bereich der Kunst- und
Kulturwissenschaften.
Weitere Perlen aus den Feuilletons finden Sie auf der Website
"ABC der Menscheit" <http://www.abc-der-menschheit.de/>
Im Blickpunkt
Paul Watzlawick gestorben
Sehr freundlich gedenken die Feuilletons des im Alter von 85 Jahren
verstorbenen Therapeuten, Psychologen und Philosophen Paul Watzlawick. In
der SZ würdigt ihn der Kulturwissenschaftler Thomas Macho als
menschenfreundlichen Denker des radikalen Konstruktivismus: "Ein Denken in
Beispielen gehört dagegen zu den elementaren Strategien der Therapie, der
Beratung, der Lebenskunst. Und es gehört zu den Prinzipien einer Ethik der
Toleranz, die Watzlawick vielleicht als das wichtigste Erbe des radikalen
Konstruktivismus betrachtete."
Der Systemtheoretiker Dirk Baecker bedauert in der taz, dass die
Kommunikationstheorie Watzlawicks weithin ignoriert wurde und wird: "Keines
der Fächer, die das eigentlich anging, ob Literaturwissenschaften,
Soziologie, Politologie, Ökonomie oder Psychologie konnte mit dem von
Watzlawick entwickelten Kommunikationsbegriff etwas anfangen."
Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk preist der Medienwissenschaftler Jochen
Hörisch den Prosakünstler Watzlawick: "Ein Stilist von Graden. Da merkt man
wirklich die österreichische Schule. Er hat Leute gelesen wie Nestroy oder
wie Karl Kraus oder wie Arthur Schnitzler, hat natürlich auch seinen Freud
intus gehabt. Das sind ja Stilformen, das sind ja Formen von
Wissenschaftsprosa, da kann man heute nur von träumen."
In der FR erklärt Arno Widmann, warum der Konstruktivist Watzlawick für eine
desillusionierte Linke so attraktiv war: "Mit Watzlawick kam die Praxis zum
Zug. Nicht mehr die große, die gesellschaftsumwälzende Praxis, die nie
funktioniert hatte, sondern die kleine, alltägliche."
Und Christian Geyer bringt in der FAZ Watzlawicks Denken auf die folgende
Formel: " Die Dinge sind nicht das, was sie scheinbar objektiv sind, sondern
die Dinge sind das, was wir aus ihnen machen."
SZ, 4.4.2007
taz, 4.4.2007
http://www.taz.de/pt/2007/04/04/a0153.1/text
Deutschlandfunk, 3.4.2007
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/612358/
FR, 4.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1108883
FAZ, 4.4.2007
Kritische Worte zum "Jahr der Geisteswissenschaften"
In der Zeitschrift Merkur kommentiert der Philosoph Volker Gerhardt die
Initiative zum "Jahr der Geisteswissenschaften" und erkennt schon in der
Zusammenfassung einzelner Wissenschaften zum Kollektiv eine Geste der
Herablassung: "Warum hat man nicht das Jahr der Germanistik, der
Kunstgeschichte, der Theologie oder das der Klassischen Philologie
proklamiert? Warum hat man den Philologien oder den Geschichtswissenschaften
keine separate Auszeichnung gewährt? Sind sie nicht groß, reich und
interessant genug, um sich neben einem Fach wie der Physik oder neben den
Geowissenschaften sehen lassen zu können? Das sind natürlich rhetorische
Fragen. Die einzelnen Geisteswissenschaften scheinen den Geschäftsträgern
der Wissenschaft so wenig aufzufallen, daß man ihnen nur noch im Kollektiv
Aufmerksamkeit zu schenken vermag." Allerdings möchte Gerhardt auch die
positiven Seiten der Aufmerksamkeit nicht leugnen. Dazu zählt er die
Möglichkeit, endlich wieder ohne Scheu vom aus der Mode gekommenen "Geist"
zu sprechen.
Merkur, April 2007
http://www.online-merkur.de/seiten/lp200704b.php
Ausstellung zum "Schmerz" in Berlin
Viel Aufmerksamkeit hat die in der letzten Woche eröffnete Ausstellung zum
Thema "Schmerz" gefunden, für die sich das Berliner Museum für
zeitgenössische Kunst "Hamburger Bahnhof" und das "Medizinhistorische
Museum" der Charité zusammengetan haben. Für die FR erklärt Elke Buhr: "Die
Schau zielt auf eine kulturhistorische Annäherung an dieses zentrale und
doch oft schwer vermittelbare Gefühl und zapft dafür Medizingeschichte,
Wissenschaft und Kunst gleichermaßen an."
In der FAZ berichtet Julia Voss: "Herausragend ist die Ausstellung vor allem
dann, wenn die Objekte in Beziehung miteinander treten: Ein Raum zeigt das
Triptychon des englischen Malers Francis Bacon 'Crucifixion' von 1965
zusammen mit einer Vitrine aus der Pathologischen Sammlung der Charité."
Für die Welt schreibt Julia Walde über die Ausstellung aber auch Eckhard
Fuhr hat in der Ausstellung "gelernt, was es heißt, die Zähne zusammen zu
beißen".
Nicht ganz überzeugt zeigt sich in der taz Brigitte Werneburg von beiden
Teilen der Ausstellung: "Anders als in der Melancholie-Ausstellung fügen
sich die Exponate nicht zu einem übergreifenden Panorama des Schmerzes als
Gegenstand von Wissenschaft, Kunst und Religion."
FR, 7.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1110617
FAZ, 7.4.2007
Welt, 5.4 und 8.4.2007
Walde:
http://www.welt.de/kultur/article796193/Wenn_der_Schmerz_nicht_nachlaesst.ht
ml
Fuhr: http://www.welt.de/welt_print/article798037/Schmerz_verbindet.html
taz, 10.4.2007
Themen der Woche
Archäologie und Politik
Von einer Diskussionsveranstaltung in Berlin berichtet im Tagesspiegel
Michael Zajonz. Es ging um diplomatische Implikationen der Archäologie: "Wie
politisch darf Archäologie - in Deutschland eines der wichtigsten Elemente
auswärtiger Kulturpolitik - sein, ohne wissenschaftlich Schaden zu nehmen?
Sind Archäologen die besseren Diplomaten? Oder sollten sie sich mit der
Rolle des Notarztes bescheiden, der den Westen bei Militäraktionen berät, um
Kollateralschäden wie im Irak zu verhindern?"
Tagesspiegel, 5.4.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/05.04.2007/3184674.asp
Jesus als Figur der Fiktion
Im Interview mit der FR erläutert der Archäologe und
Literaturwissenschaftler Thomas Lawrence Thompson, warum ihn Jesus nur als
fiktive Figur interessiert: "Es geht mir darum, klar zu machen, dass die
Evangelien nicht in einer wie auch immer rekonstruierten historischen
Wirklichkeit des ersten Jahrhunderts spielen. Sie und mit ihnen das leere
Grab sind Teil einer fiktiven Geschichte, in der das alte Thema des Sieges
des Lebens über den Tod zu einem beeindruckenden vorläufigen Abschluss
gebracht wird."
FR, 5.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=
1109631&em_cnt_page=1
Was ist eine gute Religion?
In der Serie der NZZ zur Frage "Was ist eine gute Religion?" äußert sich in
dieser Woche der Professor für jüdisches Denken Paul Mendes-Flohr. Er weist
auf die Verpflichtung aller Religionen für die Schöpfung hin: " Die
unterschiedlichen Religionsgemeinschaften sind lediglich die kulturellen
Rahmenbedingungen, innerhalb deren wir die uns von Gott auferlegte
Verantwortung gegenüber der Schöpfung und füreinander wahrnehmen sollen.
Diese Verpflichtung aus dem Blick zu verlieren, heißt, Gottes Sein zu
leugnen."
NZZ, 5.4.2007
http://www.nzz.ch/2007/04/05/fe/articleEYV9N.html
Hannah Arendt und die Literatur
Für die SZ hat sich Volker Breidecker die Frankfurter Ausstellung zu Hannah
Arendt und ihrem Verhältnis zur Literatur angesehen und liefert folgende
Beschreibung: "Unter Vitrinen, auf Wandbehängen und transparenten
Stellwänden bietet die Ausstellung allerhand zu entziffern und zu lesen,
eigene Texte, Briefe, ja auch Gedichte, sowie von anderen, von
Schriftstellern und Poeten an Hannah Arendt in Prosa und in Versen
adressierte Würdigungen und Widmungen."
SZ, 5.4.2007
[Philosophie]
Porträt Jürgen Kocka
Ausführlich würdigt im Tagesspiegel Hermann Rudolph den Sozialhistoriker
Jürgen Kocka, der nach sechs Jahren als Leiter des Wissenschaftszentrums in
Berlin in den Ruhestand geht: "Man muss das Paket, das sich der untersetzte,
unaufgeregte Mann, der frei ist von allem Paradiesvogelgehabe, aufgeladen
hat und damit auch die sechs Jahre Wissenschaftszentrum als Gipfel dieser
Aktivität , wohl auch begreifen als Tribut an sein Leitbild des
Wissenschaftlers. Es ist, herangewachsen in der wissenschaftlichen Arbeit
wie in bewusst gelebter Zeitgenossenschaft, der Wissenschaftler in seiner
Verantwortung gegenüber der Gesellschaft."
Tagesspiegel, 10.4.2007
http://www.tagesspiegel.de/wissen-forschen/archiv/10.04.2007/3190523.asp
Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth wird achtzig
Er ist mit Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass befreundet und hat mit
der Gründung des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen für
frischen Wind in der deutschen Theaterwissenschaft gesorgt. Peter von Becker
gratuiert im Tagesspiegel Andrzej Wirth zum achtzigsten Geburtstag: "Bald
aber wurde die 'Gießener Schule' bekannt im ganzen Land und die Provinz zur
Provenienz: Aus Gießen, von Wirth kamen nun Regisseure, Dramatiker,
Romanciers und Pop-Performer, die wie ihr Lehrer nach Berlin oder New York
drängten; ihre Namen reichen von René Pollesch bis Tim Staffel und Moritz
Rinke, von der Gruppe Rimini Protokoll bis zu den She She Pops."
Tagesspiegel, 10.4.2007
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/10.04.2007/3190691.asp
Historiker Wolfgang Reinhard wird siebzig
Patrick Bahners richtet in der FAZ seine Glückwünsche an den Historiker
Wolfgang Reinhard aus: "Wolfgang Reinhard kostet sein Talent zum Sarkasmus
aus, indem er in seinen Spott über den Ehrgeiz der Geschichtsforscher die
eigenen Anstrengungen einbezieht. Das mag die Demut dieses durchaus
selbstbewussten Historikers sein."
FAZ, 10.4.2007
[Geschichte]
Rezensionen und Besprochene Bücher
In der taz bespricht Simon Rothöhler das neue Buch des Filmwissenschaftlers
Thomas Elsaesser. Darin entwickelt Elsaesser an Beispielen aus dem
deutschsprachigen Film eine Theorie zum Zusammenhang von Trauma und Kino:
"Im theoretischen Zentrum seiner Überlegungen geht Elsaesser von einer
strukturellen Affinität von Trauma und Kino aus 'denn dort verdichtet sich
Realität zu Affekt, und was gewesen ist, wird immer wieder gegenwärtig und
präsent gemacht"'. Wenn er das Trauma als in der Latenz gehaltene Spur des
Vergangenen versteht, so erkennt er darin einen Weg, 'wiedererlangte
Referenzialität' zu denken."
taz, 5.4.2007
http://www.taz.de/pt/2007/04/05/a0215.1/text
Gleich sechs neue deutschsprachige Übersetzungen von Büchern Jacques
Derridas stellt in einer Sammelrezension der NZZ Michael Mayer vor. Es
befindet sich darunter mit drei Jahrzehnten Verspätung auch Derridas
wohl experimentellstes Werk "Glas": "Dass ausgerechnet das letzte grosse
Werk Derridas, das zu seinen Lebzeiten noch nicht ins Deutsche übertragen
war, den Titel 'Glas' trägt, 'Totenglocke', entbehrt nicht einer
melancholischen Note. Dieses Totengeläut macht auch ein wenig beklommen."
NZZ, 10.4.2007
http://buecher.nzz.ch/books/nzzbooks/0/list/$EVYY0$T.html
In der SZ weist Volker Breidecker auf einen in der Zeitschrift Kultur &
Gespenster erschienen Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Dirk Linck hin,
in dem dieser die 68er als sehr viel "cooler" beschreibt, als man sie
gemeinhin wahrnimmt. Ein Zitat aus dem Aufsatz: "Die Szene von 68, die
immerhin Stadt-Guerilla und Spaß-Guerilla hervorbrachte, hat das, was
aktuell gegen sie in Stellung gerückt wird, immer schon selbst im Repertoire
gehabt: Distanz, Rollenbewusstsein, theatralische List, Kälte, Konzepte der
Mittelbarkeit für ein gegenwärtiges Leben. Vom Pop lernte 68, was Coolness
ist."
SZ, 4.4.2007
Konferenzen und Tagungen
Von einer außergewöhnlichen Tagung berichtet Jörg Bremer in der FAZ: In
Jerusalem trafen sich Historiker und andere Wissenschaftler zu einer
Konferenz über das deutsche Erbe in Israel: "Nach wenigen Tagen waren alle
dreihundert Eintrittskarten ausverkauft. Was vor nicht langer Zeit in Israel
noch als anrüchig galt, gilt nun als besonders interessant: 'Germany in
Jerusalem' heißt das Tagungsthema. Es kommen auch nicht nur aus Deutschland
stammende Juden, also die 'Jeckes', sondern vor allem generell europäisch
geprägte Israelis."
FAZ, 10.4.2007
Quellennachweis:
WWW: Perlentaucher-Presseschau (Jahr d. Geisteswissenschaften). In: ArtHist.net, 11.04.2007. Letzter Zugriff 13.07.2025. <https://arthist.net/archive/29244>.