Wissenschaftsjahr 2007
"Die Geisteswissenschaften in den deutschen Feuilletons" ist eine
wöchentliche Presseschau, die der Perlentaucher in Kooperation mit dem
Wissenschaftsjahr 2007 "Die Geisteswissenschaften. ABC der Menscheit"
herausgibt. H-ArtHist veröffentlicht als Medienpartner der Initiative
eine Auswahl der Beiträge für den Bereich der Kunst- und
Kulturwissenschaften.
Weitere Perlen aus den Feuilletons finden Sie auf der Website
"ABC der Menscheit" <http://www.abc-der-menschheit.de/>
Im Blickpunkt
Historiker Jürgen Kocka nimmt Abschied als Leiter des Berliner
Wissenschaftszentrums
Aus Anlass seines Abschieds als Leiter des Berliner Wissenschaftszentrums
(WZB) spricht der Historiker Jürgen Kocka im Interview mit der SZ auch über
das Verhältnis von Geistes- und Sozialwissenschaften: "In der
Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine
Orientierung an Kulturgeschichte - manche würden sagen: ein Kulturalismus -
durchgesetzt: eine Rückkehr zur Erzählung, ein Interesse an Geschichten im
Plural, eine Betonung traditioneller und neuer hermeneutischer Methoden.
Damit war eine größere Distanz zur Soziologie, zur Politologie, erst recht
zur Ökonomie verbunden. Zugleich ist die Professionalisierung der
Sozialwissenschaften vorangeschritten. Im Unterschied zu den großen
Gründerfiguren sind sie heute viel stärker spezialisiert und, mit einigen
Ausnahmen, noch weiter weg vom Schreiben im Feuilleton, von der Diskussion
der Gebildeten." Aus seiner Lebenserfahrung im Umgang mit Wissenschaftlern
zieht Kocka den Schluss: "Es gibt verschiedene Wissenschaftlertypen, und
man muss versuchen, zwei Extreme zu vermeiden: das Fachidiotentum und den
Hansdampf in allen Gassen, der kulturwissenschaftlich über alles und jedes
redet."
SZ, 31.3.2007
Link zur Website des Wissenschaftszentrums: http://www.wz-berlin.de/
Orientierung an Mittelalterlicher Universität
In Italien haben, wie Thomas Migge im Deutschlandradio berichtet, Umberto
Eco und andere Geisteswissenschaftler die private Hochschule "Istituto di
Scienze Umane" gegründet - mit der ausdrücklichen Orientierung an der
umfassende Bildung anstrebenden mittelalterlichen Universität. Der
Historiker Franco Cardini, einer der Professoren des SUM: "Unserer Meinung
nach können Forschung und Studium von den mittelalterlichen Universitäten
lernen: damals zogen die Studierenden durch ganz Europa, von einer
Hochschule zur anderen, sprachen alle die gleiche Sprache und studierten
bei den wichtigsten Experten eines jeweiligen Fachs. Auf diese Weise waren
sie europäische Intellektuelle, die Grenzen und Räume überwanden. Die
heutige Uni-Tendenz geht hingegen zur Abgrenzung der Disziplinen."
Deutschlandradio, 28.3.2007
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/campus/609953/
Website des SUM: http://www.sumitalia.it/main.php
"Schlaf und Traum" im Hygiene-Museum
"Schlaf und Traum" in kulturgeschichtlicher und wissenschaftshistorischer
Perspektive sind in einer großen Schau im Dresdener Hygienemuseum zu
bewundern. Für die FAZ berichtet Henning Ritter: "Kulturgeschichtlich ist
dabei auch die Sicht auf die Wissenschaft. Nicht nur tragen ihre Apparate
und Verfahrensweisen die Signatur ihrer Zeit, als Vorstöße ins Unsichtbare
erscheinen sie oft genug in unseren Augen als surreale oder surrealistische
Gebilde."
In der SZ preist Burkhard Müller die Ausstellung als "vielfältig,
einfallsreich und bilderstark". Für die FR hat sich Elke Buhr im
Hygiene-Museum umgesehen, und für die Welt Cosima Lutz.
FAZ, 2.4.2007
SZ, 3.4.2007
FR, 3.4.2007
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1108089
http://www.welt.de/kultur/article790185/Der_allnaechtliche_Kontrollverlust.html
Themen der Woche
Comic-Schlacht an den Thermopylen
In dieser Woche läuft der auf Frank Millers gleichnamigem Comic beruhende
Film "300" an, der die Schlacht bei den Thermopylen auf die Leinwand
bringt. Der in Bern lehrende Althistoriker Stefan Rebenich rückt in der SZ
die Tatsachen zurecht und stellt fest: "Nicht die historische
Zuverlässigkeit der Rekonstruktion, sondern die fiktionale Kraft der
Imagination zählt. Es bedarf keines Bildungshintergrundes mehr, um die
trivialen Botschaften zu dechiffrieren. Die postmoderne Antikenrezeption
ist nicht mehr Angelegenheit von Eliten, sondern ein Massenphänomen."
SZ, 2.4.2007
Alte Erfolgsmethoden für deutsche Wissenschaft
Beim Blick in deutsche Zeitschriften referiert Ingeborg Harms in der FAZ
einen Essay des Historikers Anthony Grafton in Lettre, in dem dieser
erklärt, was deutsche Universitäten einst attraktiv machte für ausländische
Wissenschaftler: "In Städten wie Göttingen und Hannover orientierte man
sich seit dem achtzehnten Jahrhundert am Ideal der Wissenschaftlichkeit und
engagierte oder beförderte Professoren 'nach der Qualität ihrer
publizierten Forschungsarbeit'. Mit diesem Rezept zogen deutsche
Universitäten im neunzehnten Jahrhundert an die zehntausend Amerikaner an,
die nicht nur Geld ins Land brachten, sondern auch Ideen über den Atlantik
exportierten."
FAZ, 31.3.2007
Veränderungen der französischen Wissenschaftslandschaft
Von aufregenden Entwicklungen in der französischen Wissenschaftslandschaft
berichtet Judith Klein auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ: "Von
einengenden Begriffen befreit, beflügelt vom Wissen anderer Kulturen und
beschwingt vom Lob der Unordnung, öffnen sich französische
Naturwissenschaftler für Methoden und Erkenntnisse der Kulturwissenschaften
und Kulturwissenschaftler für die der Naturwissenschaften."
FAZ, 28.3.2007
http://www.faz.net/s/Rub5C2BFD49230B472BA96E0B2CF9FAB88C/Doc~E0B1CB5F2683D4B7E9CE3B84AF8D49069~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Ausstellung zur Weimarer Klassik
Ein von einem Jenaer Sonderforschungsbereich zum "Ereignis Weimar-Jena"
wissenschaftlich betreute Weimarer Ausstellung hat sich für die SZ ein
begeisterter Gustav Seibt angesehen: "Zwei Schwerpunkte setzen die
Ausstellung und der Sonderforschungsbereich: Es geht erstens um die
weimarisch-fürstliche Tradition von Gelehrtenkultur und Kunstförderung seit
der Reformation, in der die häretische Wissenschaft der Landesherrschaft
vorarbeitete; und dabei zweitens um die Doppelpoligkeit der Weimarer
Klassik zwischen Ästhetik und Wissenschaft in den Brennpunkten Weimar und
Jena. (...)Das Entzücken, das die Ausstellung gewährt, kommt wirklich aus
dem Ereignishaften, das hier erfahrbar wird: In den Objekten,
Handschriften, Bildern, Erstausgaben sieht man die scheinbar so ewig
geprägte Form in ihrer Geburtsstunde, als unerhörte Neuigkeit."
SZ, 2.4.2007
Vordenker autokratischer Staatsideologie
Felix Philipp Ingold porträtiert in der FAZ den 1954 verstorbenen
russischen Staats- und Rechtsphilosophen Iwan Iljin, der lange vergessen
war - nun aber als Ideologe der Autokratisierung des Staates en vogue ist.
Und so klingt das: "Solange die Russen noch nicht demokratiefähig seien,
benötigten sie eine vertrauenswürdige zentrale Führung, heißt es in einem
dezidierten Statement Iljins 'Über die Staatsform', und diese Führung müsse
'eine nationale, patriotische, keineswegs totalitäre, jedoch autoritäre -
zugleich erzieherische und auferweckende - Diktatur' sein."
FAZ, 28.3.2007
http://www.faz.net/s/Rub5C2BFD49230B472BA96E0B2CF9FAB88C/Doc~EBBC6699D987D4B4BB0503495E37DD97B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Der ausgestellte Barbarenschatz
Im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt der Archäologe Michael
Petrovszky die Bedeutung eines nun erstmals der Öffentlichkeit zugänglich
gemachten römischen Beutefunds, der die Lebensumstände des 3. Jahrhunderts
zu rekonstruieren hilft: "Habgier oder Not - was auch immer zu den
Plünderzügen geführt hat, im Ergebnis beschert uns heute der Barbarenschatz
tiefe Einblicke in die Lebenswirklichkeit des 3. Jahrhunderts n.Chr. - und
das ist in dieser Form sicherlich einmalig."
Deutschlandfunk, 29.3.2007
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/609515/
Bücher und Rezensionen
Von einem schmalen Band von Jacques Le Goff und Nicolas Truong zur
"Geschichte des Körpers im Mittelalter" zeigt sich in der FAZ Michael
Borgolte - auch wenn einige Fragen offen bleiben - beeindruckt:
"Eindrucksvoll zeigt Le Goff, dass im Mittelalter von einer allgemeinen
Abwertung des Leibes nicht die Rede sein kann, auch nicht von einem jemals
durchgehaltenen Vorzug des 'Geistes' oder der 'Seele' gegenüber dem
'Körper', sondern dass überall Widersprüche herrschten, oft zwischen Norm
und Wirklichkeit, oft genug aber auch zwischen konkurrierenden Normen
selbst."
FAZ, 30.3.2007
Reference:
WWW: Geisteswissenschaften in deutschen Feuilletons (28.03.-03.04.07). In: ArtHist.net, Apr 4, 2007 (accessed Jan 21, 2025), <https://arthist.net/archive/29201>.