Das Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 33 (2006), ist
erschienen. Wir möchten Sie auf den Inhalt aufmerksam machen.
AUFSÄTZE
Kristin Böse
Spürbar und unvergänglich. Zur Visualität, Ikonologie und Medialität von
Textilien und textilen Reliquiaren im mittelalterlichen Reliquienkult (S.
7-27)
Textilien stellten zumeist die erste, unmittelbare Umhüllung von Reliquien
dar, bevor diese in Schreine, Körper- oder Körperteilreliquiare
eingeschlossen wurden. Der Beitrag untersucht verschiedene textile
Reliquienhüllen und deren Qualitäten, die im mittelalterlichen
Reliquienkult die Wahrnehmung der Gebeine als heilig sicherten. Das
Spektrum der behandelten Phänomene ist breit: Die Oberflächenwirkung der
Stoffe konnte die „virtus“, die den Reliquien innewohnt, zum Ausdruck
bringen. Konnotationen von Gewebe und Bekleidung konnten auf die
historische Identifizierbarkeit der Gebeine abzielen. Die haptisch
erfahrbare stoffliche Qualität der Textilien konnte als Zeichen der
Echtheit und Unversehrtheit der Reliquien aufgefaßt werden - ein Hinweis
auf die taktile Bedeutung von Textilien im Mittelalter.
Sarah Khan
„Ego sum flos campi“. Die Blume als theologisches Konzept im Bild des
Mittelalters (S. 29-57)
Gab es im christlichen Kult in Europa eine Zeit, in der Blumen als
Ausdrucksformen Gottes verehrt wurden? Läßt sich durch eine derartige
Auffassung ein kultisches Verständnis der Blumenikonographie gewinnen? Und
können große, dekontextualisiert wirkende Blumenzeichen auf
spätmittelalterlichen Bildern, deren Funktion und Bedeutung bis heute
nicht erschlossen sind, mittels derartiger Anschauungen erklärt werden?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen wird das Phänomen dekontextualisierter
Blumenzeichen in spätmittelalterlichen Bildmedien, ausgehend vom
Franziskaneraltar in Fribourg, untersucht. Dargelegt wird, wie und in
welchem Maße kirchenväterliche Auslegungen des Inkarnationsgeschehens und
des Hohenlieds auf das Verständnis der differenziert ausgestalteten
Blumenikonographie einwirkten, einer Blumenikonographie, über die die
Gläubigen im Gebetskontext mit den Heiligen kommunizierten.
Gabriela Reuss
„La Dame à la licorne“. Tapisserien als Kunstform des aufstrebenden
Bürgertums (S. 59-89)
Die Tapisseriefolge „La dame à la licorne“ (Paris, Musée de Cluny) gehört
zu den bekanntesten Zeugnissen spätmittelalterlicher Prachtentfaltung. Der
Aufsatz versucht, über die Deutung der Bildteppiche als Allegorie der fünf
Sinne hinauszugehen und sie als Ausdruck der spezifischen Ambitionen des
Auftraggebers zu verstehen. Ausgehend von den beiden Bildteppichen
„Sehsinn“ und „A mon seul désir“ wird die Serie in dreifacher Hinsicht
kontextualisiert: Zunächst wird die Teppichfolge in den Kontext
fürstlicher Macht- und Prachtdemonstration im ausgehenden 15. Jahrhundert
eingeordnet, dann wird ihre Heraldik und schließlich ihre Gartenmetapher
analysiert. Diese Herangehensweise erlaubt es, zu einer neuen
Gesamtdeutung zu gelangen: Der Hauptzweck, den die Tapisserien erfüllen
sollten, war die Selbstdarstellung eines Landadeligen mit eigenem
Herrschaftsgebiet.
Verena Krieger
Die Farbe als „Seele“ der Malerei. Transformationen eines Topos vom 16.
Jahrhundert zur Moderne (S. 91-112)
Während die argumentative Bindung der Linie an den Geist in der
Kunstliteratur seit dem 16. Jahrhundert eingehend erforscht wurde, blieb
weitgehend unbekannt, daß zeitlich parallel eine Konnotation von
Farbe/Kolorit und Seele entstand, die gleichfalls bis in die Moderne
tradiert worden ist. Durch das Hinzutreten traditioneller
Geschlechtszuschreibungen entstand ein komplexer Dualismus mit
weitreichenden Implikationen. Der Aufsatz zeichnet die Entwicklung des
dualistischen Argumentationsmusters von der italienischen Renaissance über
die Pariser Akademiedebatte der 1660er Jahre, die Diskurse des
Klassizismus, der Romantik und der klassischen Moderne bis zum Ende des
topischen Konflikts in der Mitte des 20. Jahrhunderts nach.
Marianne Koos
Amore dolce-amaro. Giorgione und das ideale Knabenbildnis der
venezianischen Renaissancemalerei (S. 113-174)
Anders als die Bildnisse der „belle donne“ oder die vielbeachteten
Jünglingsbildnisse von Caravaggio sind die venezianischen Darstellungen
idealer Knabenschönheit des frühen Cinquecento bislang kaum untersucht
worden. Das mag in erster Linie der schlechten Überlieferung des Materials
geschuldet sein, das zumeist nur in Form von Nachahmungen, Umzeichnungen
in Inventarkatalogen oder über schriftliche Quellen dokumentiert ist. All
diese Zeugnisse lassen jedoch deutlich erkennen, daß es sich keineswegs um
ein marginales Phänomen gehandelt hat. Unter besonderer Berücksichtigung
von Giorgiones Wiener „Knaben mit Pfeil“, dem am besten erhaltenen
Beispiel, untersucht der Artikel aus ikonographischer, kunsttheoretischer
und kulturhistorischer Perspektive die Wirkung und Bedeutung des idealen
Knabenbildnisses der venezianischen Renaissance.
Annette Kranz
Zum „Herrn mit der Pelzmütze“ von Hans Holbein dem Älteren. Das Bildnis
des Augsburger Kaufmanns Philipp Adler (S. 175-195)
Das „Bildnis eines Herrn mit Pelzmütze“ (Kunstmuseum Basel) von Hans
Holbein d. Ä. gilt als eines der wenigen erhaltenen und zugleich besonders
aufwendig ausgestatteten Porträts des Augsburger Malers. Von Beginn an war
die Forschung bemüht, die Identität des Dargestellten zu klären - bislang
jedoch ohne Erfolg. Übereinstimmend wurde geurteilt, daß es sich um ein
prominentes Mitglied der Augsburger Oberschicht handeln müsse. Neuere
prosopographische Untersuchungen der reichsstädtischen Eliten des 16.
Jahrhunderts und eine systematische Kontextualisierung des Porträts im
historischen Umfeld erlauben es nun, den Dargestellten als den Augsburger
Kaufmann Philipp Adler (1460-1532) zu identifizieren, einen einflußreichen
und vermögenden Handelsherrn, der nicht nur Kaiser Maximilian I. zu seinen
Gästen zählte, sondern sich auch auf anderen künstlerischen Gebieten
engagierte.
Lothar Sickel
Zwei römische Privatsammler des frühen Seicento. Ippolito Gricciotto,
Paolo Mercati und die Nachfolger Caravaggios (S. 197-223)
Gegenstand der Untersuchung ist der Kunstbesitz der beiden römischen
Sammler Ippolito Gricciotto und Paolo Mercati in den Jahren um 1630. Auf
der Basis zumeist unbekannter Inventare wird der Bestand der jeweiligen
Sammlungen erschlossen und im Hinblick auf das kulturelle Umfeld ihrer
Eigentümer analysiert. Obwohl Gricciotto und Mercati als Angehörige des
Bürgertums nur über geringe Finanzmittel verfügten, gelang ihnen der
Aufbau bedeutender Kabinette, in denen sich vorwiegend Werke von Künstlern
in der Nachfolge Caravaggios fanden. Neue Nachweise betreffen insbesondere
Gemälde von Giovanni Lanfranco, Orazio Riminaldi und Carlo Saraceni. Die
Aktivitäten Gricciottos und Mercatis zeugen von einem engen Austausch
zwischen Künstler und Sammler und liefern so ein selten prägnantes
Beispiel für die noch unzureichend erschlossene Rolle, die das private
Sammlertum wahrer Amateure innerhalb des römischen Kunstmarktes des frühen
Seicento spielte.
Rouven Pons
„Gemälde von Gedanken leer ...“. Überlegungen zu Reiterporträts des
ausgehenden 18. Jahrhunderts (S. 225-251)
Aus sozial- und kulturhistorischem Blickwinkel untersucht der Beitrag das
Phänomen, daß Bildnisse im Herrensattel reitender Damen in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts gehäuft auftraten. Durch Einbettung in die
Geschichte der Gattung „Reiterbildnis“ im 17. und 18. Jahrhundert und
durch Hinzuziehung von kunsttheoretischen Texten und adligen
Korrespondenzen werden soziokulturelle Erkenntnisse über das
Selbstverständnis und die Selbstverortung des Adels kurz vor dem Ausbruch
der Französischen Revolution gewonnen. Dabei wird ersichtlich, daß der
wachsende Ästhetizismus und die zunehmende Privatheit auf vordergründig
offiziösen Staatsporträts als Indifferenz gegenüber der Vermittlung des
eigenen adligen Standpunktes in der Gesellschaft gewertet werden können.
Marcus Kiefer
Kirchenkonkurrenz in Marburg: Idee und Planung einer katholischen
Elisabethkirche. Bauentwürfe und Aktenstücke aus wilhelminischer Zeit (S.
253-299)
1907 jährte sich der Geburtstag der hl. Elisabeth zum siebenhundersten
Mal. Im Vorfeld der 700-Jahr-Feier reifte der Plan, für die katholische
Minderheit in Marburg eine monumentale Pfarrkirche zu Ehren Elisabeths zu
errichten. Im Jubiläumsjahr 1907 wurde zu diesem Zweck ein
Planungswettbewerb veranstaltet, an dem sich u. a. der erfolgreiche
Kirchenarchitekt und spätere Mainzer Dombaumeister Ludwig Becker
beteiligte. Der Aufsatz rekonstruiert die Geschichte dieses gescheiterten
Bauvorhabens auf der Basis reichlich erhaltener Archivquellen. Das
Baugrundstück, das die Diaspora-Gemeinde erworben hatte, konfrontierte die
Verantwortlichen von vornherein mit der Frage, was man dem bedeutendsten
Baudenkmal der Stadt, der gotischen Elisabethkirche, baulich
entgegenzusetzen habe: In ergänzender und konkurrierender Nachbarschaft
sollte die katholische Pfarrkirche St. Elisabeth neben die Grabeskirche
der Heiligen treten, die seit geraumer Zeit allein für lutherische
Gottesdienste genutzt werden durfte.
Claudia Hattendorff
Alchemie und Geschichte. Zur Malerei Sigmar Polkes in den 1980er Jahren
(S. 301-320)
Im Zentrum des Beitrags steht das Stoffbild „Monopoli“, eine Arbeit Polkes
von 1989, die - wie eine Reihe anderer Werke dieser Zeit - Allusionen an
die Französische Revolution enthält. Vor dem Hintergrund einer
ausführlichen Analyse der bildnerischen Mittel wird das Gemälde als
„offenes Kunstwerk“ beschrieben. Zum Informationsreichtum, den ein solches
offenes Kunstwerk aufweist, zählen, so wird argumentiert, die Aspekte
„Spiel“ und „Alchemie“. Sie repräsentieren das gesamte Spektrum der
Sinnproduktion zwischen konkreter gegenständlicher Bedeutung und der
Öffnung in weite Felder der Information und sind zugleich selbstreflexiv,
vermögen das Vorgehen Polkes also zu kommentieren und das in Rede stehende
Bild in größere Zusammenhänge einzuordnen.
Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft. Marburg: Verlag des
Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg. ISSN
0342-121X
Internetseite:
http://www.uni-marburg.de/fb09/khi/forschung/zeitschriften1/jahrbuch/index_html
Redaktion Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft
Philipps-Universität Marburg
Kunstgeschichtliches Institut
Biegenstr. 11
35037 Marburg / Lahn
E-Mail: kieferfotomarburg.de
Reference:
TOC: Marburger Jahrbuch f. Kunstwissenschaft 33 (2006). In: ArtHist.net, Feb 20, 2007 (accessed Dec 22, 2024), <https://arthist.net/archive/28986>.