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Urbane Schweiz. Urbanistische Konzepte für die Schweiz von 1930 bis heute
Von Sonja Hildebrand, Institut für Geschichte und Theorie der
Architektur (gta), ETH Zürich
E-Mail: <sonja.hildebrandgta.arch.ethz.ch>
Urbanität ist, wie jeder Begriff, Definitionssache. In ihr spiegeln sich
soziale, wirtschaftliche, infrastrukturelle, materielle und kulturelle
Realitäten wider. Herstellen, gestalten oder in Bahnen lenken lässt sich
Urbanität, als Planungsaufgabe verstanden, nur sehr beschränkt; das
haben die Erfahrungen des planungsbegeisterten 20. Jahrhunderts gelehrt.
Eher schon funktionierte das Gegenteil: Sichtbare Erfolge brachte vor
allem das Ausscheiden von Freihalte-, Grün- und Landwirtschaftszonen.
Dass Urbanität ein wissenschaftlich-theoretisch fundiertes oder auch
metaphorisch eingesetztes Begriffswerkzeug ist, mit dem Wahrnehmungen
beschrieben oder Planungsziele formuliert werden, lässt sich
exemplarisch am Beispiel der schweizerischen Landesplanung zeigen. Es
geht dabei nicht darum, den Begriff des Urbanen zu verabschieden oder
neu zu definieren. Das Interesse gilt vielmehr den Motiven, die zu
seinem Gebrauch führten, sowie den mit ihm historisch und gegenwärtig
verbundenen Bedeutungen und Bewertungen. Das Beispiel der Schweiz ist
dafür deshalb gut geeignet, weil das Land seit den Anfängen der
Landesplanung um 1930 als Stadtgebilde begriffen und beschrieben wurde.
Diese Übertragung des Begriffs des Urbanen auf einen geografischen
Großraum macht die Funktion des Begriffs als Denkfigur besonders
augenscheinlich. Dass die Schweiz zudem eine über das Fallbeispiel
hinausgehende Relevanz im europäischen und globalen Kontext besitzt,
entspricht zumindest dem heutigen Konsens in Schweizer Planerkreisen.
Als Begründung des Modellcharakters dienen vor allem der ausgeprägte
Föderalismus und die damit verbundene Struktur eines "räumlich und
funktional eng verwobenen, mehrkernigen Verdichtungs- und
Ballungsraum[s]"[1] sowie die kulturelle Vielfalt und die im Rahmen der
Globalisierung erbrachten (alltags)kulturellen Adaptionsleistungen.[2]
Großstadt Schweiz
Schon Rousseau hat die Schweiz als Stadt begriffen. Das Land sei
"gewissermaßen eine einzige, große Stadt, in dreizehn Quartiere
aufgeteilt, von denen einige in Tälern, andere in hügeligem Gelände und
wieder andere in den Bergen liegen […]; die einen sind dicht, andere
weniger dicht besiedelt, dicht genug jedoch, als daß man sich immer noch
in der Stadt wähnt." Überall in der Schweiz fand Rousseau Spuren
städtischer Kultur, die bei ihm auch ländliche Elemente umfasst und
damit an dieser Stelle für verschiedene Formen menschlicher Zivilisation
steht: "[…] man hat nicht mehr das Gefühl, eine Einöde zu durchstreifen,
wenn man zwischen den Tannen Kirchtürme, auf den Felsen Herden, in den
Schluchten Fabriken und über den Wildbächen Werkstätten antrifft".[3]
Die für die Schweiz charakteristische, einzigartige politische
Kleinteiligkeit und das hohe Maß an Gemeindeautonomie mit einer
entsprechend kleinräumigen Besiedlung und dezentralen Industrialisierung
bildeten die faktische Grundlage für eine solche Übertragung des
Stadtbegriffs auf ein ganzes Land.
Die eigentliche Etablierung der Vorstellung von der Schweiz als Stadt
fällt mit den Anfängen der schweizerischen Landesplanung in den 1930er
Jahren zusammen. Dass die ersten Landesplaner ihr Planungsgebiet als
Stadt begriffen, lässt sich zunächst mit ihrer fachlichen Ausbildung
erklären. Obwohl der Hinweis auf englische und deutsche Vorbilder in
kaum einer der frühen Schriften zur Schweizer Landesplanung fehlt, ging
es zuerst vor allem darum, ein geeignetes Instrumentarium zu finden,
Methoden zu entwickeln und Ziele zu definieren. Für die ausgebildeten
Architekten lag es dabei offenbar nahe, von architektonischen und
städtebaulichen Konzeptionen und Vorgehensweisen auszugehen.[4] Eine
solche letztlich auf Alberti zurückgehende Übertragung von Strukturen,
Aufgaben und Methoden von einer kleineren auf eine größere
Planungseinheit war im Kreis der CIAM (Congrès Internationaux
d'Architecture Moderne), aus dem viele der ersten Landesplaner stammten,
für den Städtebau geläufig. Auch Armin Meili, der erste Präsident der
1943 gegründeten Schweizerzischen Vereinigung für Landesplanung,
verglich das "kollektive Leben einer Stadt" mit "dem Leben in einem
einzelnen Hause".[5] Der "Stadtorganismus" wiederum konnte für die
Mitglieder der CIAM nur als Teil eines größeren Wirtschaftsgebiets
behandelt werden; Regionalplanung sollte an die Stelle der herkömmlichen
Stadtplanung treten. Aus dieser Sicht ergab sich gleichsam folgerichtig
das Engagement der Schweizer CIAM-Gruppe bei der fachlichen Grundlegung
und institutionellen Etablierung der nationalen Landesplanung.
Bild:
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Abb. 1: Armin Meili, Karte der Schweiz als "dezentralisierter
Großstadt", 1933 (Die Autostrasse 2, 1933, S. 21)
1933 formulierte Armin Meili das planerische Leitbild der Schweiz als
"dezentralisierte[r] Großstadt Mitteleuropas".[6] Ziel war eine
"schweizerische Großstadtzone, die sich in ihrer ganzen Auflockerung von
St. Gallen bis nach Genf hinzieht".[7] Meili skizzierte eine spezifisch
"schweizerische Großstadtbildung" [ebd.] in Form von strahlenförmig
aufgebauten, "ländlich infiltrierte[n]" Satellitenorten, die, zu
Bandstädten verbunden, gemeinsam eine dezentralisierte Großstadt bilden,
die sich wie "eine Reihe von Perlschnüren dahinzieht".[8] Die hinter
diesem Konzept stehende Motivation machte Meili in aller Klarheit
deutlich: "Es wird dabei vor allem der Großstadt der Kampf anzusagen
sein".[9] Die Erfahrung lehre, dass es ein "räumliches Optimum" gebe,
jenseits dessen Verkehrsprobleme, eine nicht mehr zu regelnde
hochkomplexe Infrastruktur und hohe Grundstückspreise das technische und
soziale Funktionieren einer Stadt unmöglich machten.[10] Der 1939 für
die Freisinnigen in den Nationalrat gewählte Architekt negierte die
wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung großer Städte dabei nicht. Ein
Exportland wie die Schweiz sei auf eine Konzentration von
Produktionsstätten und damit auch der Wohnflächen angewiesen; auch
herausragende kulturelle Leistungen bräuchten die große Stadt mit ihren
Einrichtungen für Kultur und Wissenschaft. "Die Ueberwindung des
Kleinlichen, Provinzlerischen ist nur durch die Stadt möglich".[11] Dies
aber sollte die skizzierte "weit-dezentralisierte Großstadt" leisten, in
der Stadt und Land verschmelzen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund von
Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg bot eine solche Stadt für Meili zudem
den Vorteil der Möglichkeit zur teilweisen Selbstversorgung.
Meilis Paradox der antiurbanen Großstadt prägte über Jahrzehnte hinweg
die Zielvorstellungen der schweizerischen Landesplanung; so
beispielsweise das von der Eidgenössischen Wohnbaukommission 1963
aufgestellte Leitprinzip der "Dezentralisation mit Schwerpunkten" oder
das von einer Chefbeamtenkonferenz aus den 1973 formulierten
Landesplanerischen Leitbildern des Instituts für Orts-, Regional- und
Landesplanung der ETH Zürich abgeleitete raumplanerische Leitbild CK-73
mit seiner Forderung einer "dezentralen Konzentration". Kennzeichnend
für alle Konzeptionen ist die ihnen zugrunde liegende Verbindung
konservativer und moderner Vorstellungen und Zielsetzungen.[12] Ein
entscheidendes Element der Verkoppelung war das moderne,
universalistische Raumverständnis. Die Vorstellung einer prinzipiellen
Gleichheit des Raums dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, das Ziel
einer geordneten Integration von Land und Stadt konsensfähig zu machen.
Die erwünschten Funktionen einer Großstadt ließen sich so scheinbar mit
der Bewahrung 'helvetischer Eigenart' und damit vor allem der
föderalistischen Struktur und der mit dieser einhergehenden
kleinteiligen Besiedlung verbinden.
Konrad Hippenmeier, der Chef des stadtzürcher Bebauungsplanbureaus und
einer der Pioniere der Regionalplanung, beschrieb die Verbindung von
Stadt und Land als notwendig und folgerichtig: "Was nützt es mit den
Händen in den Taschen um das endlose Wachsen der Stadt zu jammern und
künstlich den Gegensatz zwischen Stadt und Land zu konstruieren? Schon
der Dezentralisation als solcher haftet die Tendenz an, Stadt und Land
zu verweben." Die sich daraus für den Stadtplaner ergebende Aufgabe sah
Hippenmeier vor allem in "der Sicherung eines Landwirtschaftsgürtels am
Rande der Stadt, der bisweilen tief in die Stadtzone eingreift".[13] Die
Erhaltung des Grüngürtels rund um Zürich gilt als großes Verdienst des
zürcher Stadtbaumeisters Albert Heinrich Steiner (1943–1957), der in den
1940er Jahren die entsprechenden Nutzungspläne ausarbeitete. Auf die
bewahrten "grosszügige[n] Grün- und Erholungsräume […] des Lebens- und
Wirtschaftsraums Zürich"[14] sind die Zürcher Planer bis heute stolz.
Dem Blick des Ausländers Kees Christiaanse, Städtebauprofessor an der
ETH Zürich, erscheint das "Urige der Kulturlandschaft" geradezu
"endemisch im Städtischen verankert […]: Haustüren sind nicht
abgeschlossen, Feuer im Freien scheint ein Grundrecht zu sein, die aus
Weiden geflochtenen Postkarren stehen nachts unüberwacht an den
Strassenecken, der Metzger lässt einen bei fehlendem Wechselgeld später
bezahlen, Leute kommen in Wanderkleidung zur Arbeit, Gartenpflege kann
von den Steuern abgezogen werden, und beim Bauern neben der ETH kann man
frische Milch trinken".[15]
Urbanisierte Schweiz
Jenseits lokaler Errungenschaften und Eigenheiten beschreibt Konrad
Hippenmeiers frühe Forderung an die Stadtplaner den bis vor wenigen
Jahren unangefochten zentralen Teil des Pflichtenhefts der
schweizerischen Landesplanung: die Ausscheidung von Landwirtschaftszonen
aus dem bis dahin als reine Bauzone behandelten Gemeindegebiet.
Übertragen auf die gesamtschweizer Politik bedeutete dieser Ansatz die
Konzentration auf den Schutz und die Förderung von Berggebieten und
Randregionen. Mitte der 1980er Jahre aber begann sich der politische und
planerische Fokus zunehmend auf die urbanen Zentren und Agglomerationen
zu verlagern. Dort ist er bis heute geblieben. Seinen Niederschlag fand
diese Verlagerung in nationalen Planungskonzeptionen, die das Ziel einer
urbanen Schweiz in Form eines polyzentrischen vernetzten Städtesystems
vertreten.[16]
Den Ausschlag für die Verschiebung mag das offensichtlich nicht zu
bremsende Wachstum der Agglomerationen und Metropolitanregionen in der
Schweiz gegeben haben. Mit der Wahrnehmung und Beschreibung dieser
Entwicklung verbindet sich aber auch ein grundlegender Bedeutungswandel
des Urbanitätsbegriffs. Schon 1943 hatte die schweizerische
Landesplanungskommission auf das Phänomen der zunehmend flächendeckenden
Urbanisierung hingewiesen, die sich aus dem Bevölkerungswachstum, der
Erhöhung des Lebensstandards, der fortschreitenden Industrialisierung
und verbesserten Verkehrsverbindungen ergebe.[17] Als theoretische
Grundlage planerischer Analysen und Forderungen hat sich die Vorstellung
einer weitgehenden Urbanisierung der Schweiz aber erst in den letzten
Jahren etabliert. Nach dieser Vorstellung ist Urbanität primär an
dynamische Relationen und die städtische Mentalität der Einwohnerschaft
gebunden. Die "schweizerische Megalopolis", so der Städtebautheoretiker
André Corboz, ergebe "sich nicht einfach aus der Besetzung von Grund und
Boden", sondern vor allem aus der Dichte des Austauschs, dem Verkehr und
"jegliche[r] Art von Verbindungen". Die geforderte "dynamische
Betrachtungsweise" ist für Corboz mit der Verabschiedung der Newtonschen
Vorstellung vom immer gleichen, immobilen 'absoluten Raum' verbunden:
"[…] fast hundert Jahre nachdem die Quantentheorie alle überkommenen
Vorstellungen zur Materie zunichte gemacht und die Relativitätstheorie
dem Newtonschen Konzept vom Universum ein Ende gesetzt hat, ist es
eigentlich an der Zeit, daß die Architekten und Planer zur Kenntnis
nehmen, daß Newton tot ist und der absolute Raum ausgedient hat".[18]
Auf phänomenologischer Ebene beschreibt Corboz eine weitgehende
Urbanisierung der Landschaft, der Bevölkerung, ihrer Mentalität und
ihrer Lebensweise: "[…] die Städte haben sich nicht darauf beschränkt,
sich rund um ihren Kern auszubreiten; sie sind auch ausgeschwärmt, um
Orte zu erschließen, die noch vor dem 19. Jahrhundert als unbewohnbar
gegolten hätten. Sie waren es, die die Meeresufer kolonisierten, was zu
deren Betonierung geführt hat, und sie waren es, die Sommer- und
Wintersporteinrichtungen in bislang öden Gebieten entstehen ließen. Sie
waren es auch, die begonnen haben, gierig das Hinterland an
Küstenstrichen zu verschlingen, sobald diese übersättigt waren. Und das
alles für einige Wochen Belegung im Jahr!" Der "Ausbreitung der 'Stadt'
auf ein ganzes Territorium" entspreche ein fast überall anzutreffender
städtischer respektive neuartiger "megalopolitaner" Lebensstil[19] -
"'Stadt' ist also nicht unbedingt dort, wo eine dichte Bebauung
vorherrscht, sondern dort, wo sich die Bewohner eine städtische
Mentalität angeeignet haben".[20]
Corboz' Interpretation von Urbanität entspricht heute einem breiten
Konsens in der Stadt- und Landesplanung, aber auch in benachbarten
Fachgebieten wie der Landschaftsarchitektur oder der
Landschaftstheorie.[21] Franz Oswald fasst das "Verschmelzen von Stadt
und Landschaft" mit jenem Begriff der "Neuen Urbanität"[22], der in
Deutschland zur Beschreibung der neuen Attraktivität alter Stadtzentren
geläufig ist. Für den 1994 gegründeten Verein Metropole Schweiz und die
in ihm vertretenen namhaften Planer ist eine solche Sicht auf das Land
ein Programm, das geradezu in der Diktion einer Beschwörungsformel
vorgetragen wird: "Fast alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz
pflegen heute ein städtisches Leben. Egal, ob sie in einem Stadtzentrum,
in der Agglomeration, in einer Ferienstadt-Landschaft wie St. Moritz
oder im so genannten Grünen wohnen. Sie kleiden sich ähnlich, reisen an
die gleichen Badeküsten, benützen Fax, E-Mail und Handy und holen über
Radio und Fernsehen die Welt in ihre Wohnstuben. Stadtflucht ist in der
Metropole Schweiz zur Illusion geworden. Unsere Zukunft ist
städtisch".[23] Gleichsam aus der entgegen gesetzten Richtung kommt der
'landscape urbanism', der eine 'neue Natur' als integralen Bestandteil
des urbanen Raums behandelt.[24] Auch vor diesem Hintergrund wird es
verständlich, dass mit dem ETH-Professor Christophe Girot ein
Landschaftsarchitekt Zürichs neue Bildungs- und Kulturmeile zwischen
ETH, Universität und Kunsthaus plant.[25]
Mit der weitgehenden Urbanisierung des gesamten Landes hat die Realität
den Begriff der urbanen Schweiz scheinbar eingeholt. Gleichzeitig führt
die Beobachtung sich entwickelnder neuartiger Stadtgebilde zur
Verabschiedung des traditionellen Stadtbegriffs. Angelus Eisinger und
Michel Schneider etablierten für die durch "neuartige
räumlich-multifunktionale Gebilde" geprägte "schweizerische
Siedlungsrealität", die sich als "Collage städtischer, vorstädtischer
und ländlicher Elemente" beschreiben lasse, den Begriff "Stadtland
Schweiz".[26] Eine besondere Tragweite hat der Abschied vom
traditionellen Stadtbegriff im "städtebaulichen Portrait" der Schweiz
von Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron und
Christian Schmid. Prinzipiell konstatieren die vier Architekten und der
Geograf Schmid vom ETH Studio Basel/Institut Stadt der Gegenwart: Da
sich Stadt nicht mehr als objekthafte "abgrenzbare Einheit" erfassen
lasse, müsse der Urbanisierungsprozess selbst analysiert werden.[27]
Anders als früher sei dieser Prozess heute ungerichtet, Zentralität, die
Eigenschaft und Funktion der traditionellen Stadt, sei "polymorph",
prinzipiell "allgegenwärtig und doch flüchtig" geworden.[28]
Bild:
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Abb. 2: ETH Studio Basel, Thesenkarte einer zukünftigen
Siedlungstypologie der Schweiz mit Gliederung in Metropolitanregionen,
Städtenetze, Stille Zonen, Alpine Brachen und Alpine Resorts, 2005 (©
ETH Studio Basel, 2005,
<http://www.ethlife.ethz.ch/articles/tages/staedtebauportraet.html>
[17.07.2006])
Auf der Basis des soziologischen Modells von Henri Lefebvre, der die
Qualität des Städtischen in dem "urbanen Gewebe", das alle
industrialisierten Länder überziehe, mit Hilfe der Kategorien
"Zentralität", "Differenz" und der "Mediation" zwischen privater und
globaler Sphäre bestimmt, zeichneten die Autoren des ETH Studio Basel
ihr "städtebauliches Portrait" und das daraus abgeleitete "Projekt"
einer aus den fünf Urbanisierungstypen Metropolitanregion, Städtenetz,
Stille Zone, Alpines Resort und Alpine Brache aufgebauten Schweiz.[29]
So macht die Entkoppelung von Urbanisierung und gebauter Stadt zwar den
Weg für eine Analyse der Schweiz als urbanes Gebilde frei. Indem aber
das Interesse nicht einer "urbane[n] Kultur des Alltags" gilt, sondern
einer durch Kategorien wie Dichte, Höhe, Masse, Konzentration und Zufall
bestimmten "spezifischen Urbanität", und die Analysen letztlich in ein –
zeichnerisch dargestelltes – städtebauliches "Projekt" münden,
ermöglicht der soziologisch, ökonomisch, kulturell und infrastrukturell
fundierte Urbanisierungsbegriff am Ende doch eine Behandlung der Schweiz
als städtisches Gefüge.[30] Während André Corboz fordert, man müsse die
Stadt dringend als "Ort des Unzusammenhängenden, des Heterogenen, des
Bruchstückhaften und der ununterbrochenen Umgestaltung" begreifen [31],
gewinnen die Autoren des ETH Studio Basel auf diese Weise für die Stadt
ein Stück weit Kohärenz zurück. Der Wunsch nach (notwendigem)
Zusammenhalt schwingt auch im Begriff des "vernetzten Städtesystems" der
offiziellen Planungskonzeptionen mit. Und wenn Marcel Meili die Arbeit
am "Städtebaulichen Portrait" als Operieren am eigenen Körper
beschreibt[32], benutzt er eine ähnliche biologische Metapher wie die
CIAM-Architekten mit dem Begriff des "Stadtorganismus'".
Die Mitglieder der CIAM forderten für das "Stadtgebilde", dass es "in
seinen einzelnen Teilen entwicklungsfähig" ist und in "jedem Stadium der
Entwicklung […] Gleichgewicht zwischen den Funktionen [Wohnen, Erholung,
Arbeit, Verkehr] der einzelnen Teile" herrsche.[33] Das Modell eines
dynamischen Gleichgewichts zwischen Teilen wiederum legt die Vorstellung
differenter Teile nahe. Eine solche Differenzierung nun unterscheidet
das Modell des ETH Studio Basel von den meisten anderen
landesplanerischen Leitbildern seit Armin Meili: Während Städte durch
die "grösste Verdichtung von Netzwerken", die Verwandlung von Grenzen in
eine "Zone des Austausches" und eine durch die "Wirkungen des Feldes
zwischen den Differenzen" entfachte "urbane Dynamik" gekennzeichnet
seien[34], müssten die Stillen Zonen als "Nationalparks oder grosse
Central Parks" verstanden werden, als "grüne Löcher im urbanen Gewebe",
in denen "der Urbanisierungsprozess langsam ausläuft", die sich aber
auch "aktiv der Urbanisierung" widersetzten.[35] Alpine Ressorts werden
als "temporäre und polyzentrische Flächenstädte der Freizeit"
definiert.[36] Die größte politische Brisanz besitzt der
Urbanisierungstyp der Alpinen Brache. Analog zu Franz Oswalds Forderung
nach einer "urbanen Brachenpolitik"[37] plädiert das ETH Studio Basel
dafür, die "Zonen des Niedergangs und der langsamen Auszehrung" der
Natur zu überlassen, um auf diese Weise ihr "mögliches Potenzial für
zukünftige Generationen" zu erhalten.[38]
Wie die älteren landesplanerischen Raumvorstellungen geht auch die
Typologie des ETH Studio Basel von einen Zusammenhang und Zusammenhalt
der Bestandteile aus. Was die Ansätze von Corboz, Eisinger/Schneider und
dem ETH Studio Basel von den früheren unterscheidet, ist die Abkehr vom
Glauben an die Planbarkeit des urbanen Gebildes Schweiz. Niemand könne
heute mehr "Struktur und Veränderungen dieser [Agglomerations-] Räume
modellieren"[39]; der Städtebau sei der "Spieltheorie zugehörig, der
zufolge die Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten
des Problems zu kennen, von denen einige bekannt sind, andere
zufallsbedingt, wieder andere unbestimmbar".[40] Die Autoren des ETH
Studio kompensierten den Verlust an Planbarkeit jedoch zumindest
teilweise, indem sie auf Trennschärfe zwischen Bestandsaufnahme und
Entwurf verzichteten, sich die beobachtete urbane Wirklichkeit zur
Verbündeten machten und ihr "Projekt" als Verstärkung bereits laufender
Transformationsprozesse deklarierten.
Fazit
Überblickt man die Geschichte der Denkfigur der "urbanen Schweiz", so
wird deutlich, welche unterschiedlichen Konzeptionen und
Zielvorstellungen damit verbunden waren und sind. Armin Meili wollte mit
seiner Idee der dezentralisierten Großstadt Schweiz eine moderne,
wirtschaftlich und kulturell leistungs- und konkurrenzfähige Schweiz der
kleinen und mittelgroßen Städte in Kombination mit funktionierenden
ländlichen Zonen. Überspitzt gesagt heißt das: Die Rede von der Stadt
sollte vor allem dem Land zugute kommen. Auf der politischen Ebene waren
damit das Ziel einer flächendeckenden Bereitstellung von
Infrastruktureinrichtungen und eine entsprechende wirtschaftliche
Förderung von Berg- und Randregionen verbunden.
Den entgegen gesetzten Pol besetzt das "Städtebauliche Portrait" des ETH
Studio Basel. Ausgehend von dem großen städtischen Ganzen, als das die
Schweiz dargestellt wird, fordern die fünf Autoren eine Abkehr von der
Praxis der flächendeckenden Versorgung zum Wohl des Gesamtorganismus.
Unter dem Vorzeichen der Stadt, unter dem letztlich auch die Stillen
Zonen und Alpinen Brachen betrachtet werden, wird das Land als
eigenwertige Kategorie weitgehend aufgegeben.
Ob das eine richtig oder das andere falsch sei, war nicht das Thema
dieses Beitrags. Diese Frage lässt sich nur auf
politisch-gesellschaftlicher Ebene diskutieren. Es ging vielmehr darum,
einmal mehr den Blick auf die Interessen und Ziele zu lenken, die mit
der Verwendung oder der Verabschiedung von Begriffen wie Urbanisierung
und Stadt verbunden sein können.
Dr. Sonja Hildebrand arbeitet als Forschungsassistentin am Institut für
Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich. E-Mail:
Sonja.hildebrandgta.arch.ethz.ch
Literaturempfehlungen:
Agglomerationspolitik des Bundes. Bericht des Bundesrates vom 19.
Dezember 2001, Bern 2001
Blöchiger, Hansjörg u. a., Baustelle Föderalismus. Metropolitanregionen
versus Kantone: Untersuchungen und Vorschläge für eine Revitalisierung
der Schweiz, Zürich 2005
Bundesamt für Raumentwicklung (Hg.), Raumentwicklungsbericht 2005, Bern
2005
Corboz, André, Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen
(Bauwelt Fundamente 123), Basel 2001
Diener, Roger u.a., Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, 3 Bde. +
Karte, Basel 2005
Eisinger, Angelus, Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung in der
Schweiz 1940–1970, Zürich 2004
Eisinger, Angelus; Schneider, Michel (Hgg.), Stadtland Schweiz.
Untersuchungen und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung
in der Schweiz, Basel 2003, 2., erw. Aufl. 2005
Kübler, Daniel, Wider eine Drei-Klassen-Schweiz. Drei Szenarien für das
verstädterte Land und was daraus zu folgern ist, in: Neue Zürcher
Zeitung, 15.03.2006
Meili, Armin, Allgemeines über Landesplanung, in: Die Autostrasse 2
(1933), S. 17–21
Meili, Armin, Landesplanung in der Schweiz, Zürich 1941 (Separatabdruck
aus der Neuen Zürcher Zeitung, 16.07.1941)
Meili, Armin, Durchführung der Landesplanung, in: E.T.H.-Tagung für
Landesplanung, Zürich 1943, S. 6–9
Oswald, Franz; Schüller, Nicola (Hgg.), Neue Urbanität – Das
Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich 2003
Planung in Zürich, Archithese 35 (2005), 6
Roth, Ueli, Chronik der Schweizerischen Landesplanung, (Beilage zur DISP
Nr. 56), Zürich 1980
Bundesamt für Raumplanung (Hg.), Bericht über die Grundzüge der
Raumordnung Schweiz, Bern 1996
Schneider, Markus, Lebe wild und gemütlich, in: Die Weltwoche,
03.11.2005
Spillmann, Werner; Eisinger, Angelus, Vom Wachsen und Schrumpfen der
Städte. Nachdenken über Zentrum und Peripherie – die Raumentwicklung
steht vor neuen Herausforderungen, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.05.2006
Verein Metropole Schweiz (Hg.), Metropole Schweiz. Charta für die
Zukunft einer urbanen Schweiz, Zürich 2002
Anmerkungen:
[1] Eisinger, Angelus; Schneider, Michel (Hgg.), Stadtland Schweiz.
Untersuchungen und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung
in der Schweiz, Basel 2003, S. 9.
[2] Diener, Roger u.a., Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, Bd.
1, Basel 2005, S. 137.
[3] Lettre au maréchal de Luxembourg, 1763, zit. nach Corboz, André, Die
Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen (Bauwelt Fundamente 123),
Basel 2001, S. 45.
[4] Vgl. Eisinger, Angelus, Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung
in der Schweiz 1940-1970, Zürich 2004, S. 81–90.
[5] Meili, Armin, Landesplanung in der Schweiz, Separatabdruck aus der
Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 1101 vom 16.07.1941, Zürich 1941, S. 3.
[6] Meili, Armin, Allgemeines über Landesplanung, in: Die Autostrasse 2
(1933), S. 17.
[7] Meili, Landesplanung (wie Anm. 5), S. 15.
[8] Meili, Armin, Durchführung der Landesplanung, in: E.T.H.-Tagung für
Landesplanung, Zürich 1943, S. 6–9.
[9] Meili, Landesplanung (wie Anm. 5), S. 15.
[10] Meili, Durchführung (wie Anm. 6), S. 17.
[11] Meili, Landesplanung (wie Anm. 5), S. 15.
[12] Diener u.a., Die Schweiz (wie Anm. 2), S. 187.
[13] Hippenmeyer [sic], Konrad, Der Architekt im Spiegel der
Stadtentwicklung, in: Das Werk 22 (1935), S. 196.
[14] Gabathuler, Christian; Peter, Sacha, Siedlungsentwicklung im Kanton
Zürich. Ein Rückblick auf 50 Jahre Raumplanung (Das kleine Forum in der
Stadelhofer Passage 23), Zürich 2001, S. 13.
[15] Christiaanse, Kees, Zwischen Metropolis und Arkadien. Ein Blick von
aussen auf Zürich, in: Archithese 35 (2005), 6, S. 33.
[16] Bundesamt für Raumplanung (Hg.), Bericht über die Grundzüge der
Raumordnung Schweiz, Bern 1996; Agglomerationspolitik des Bundes.
Bericht des Bundesrates vom 19. Dezember 2001, Bern 2001; Verein
Metropole Schweiz (Hg.), Metropole Schweiz. Charta für die Zukunft einer
urbanen Schweiz, Zürich 2002; Bundesamt für Raumentwicklung (Hg.),
Raumentwicklungsbericht 2005, Bern 2005.
[17] Schweizerische Regional- und Landesplanung. Bericht der
Schweizerischen Landesplanungskommission an das Eidgenössische
Militärdepartement, Zürich 1943, S. 29.
[18] Corboz, Die Kunst (wie Anm. 3), S. 30 u. 51.
[19] Ebd. S. 69f.
[20] Ebd. S. 146.
[21] Vgl. Franzen, Brigitte; Krebs, Stefanie (Hgg.), Landschaftstheorie.
Texte der Cultural Landscape Studies (Kunstwissenschaftliche Bibliothek
26), Köln 2005.
[22] Oswald, Franz; Schüller, Nicola (Hgg.), Neue Urbanität – Das
Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich 2003.
[23] Verein Metropole Schweiz, Metropole Schweiz (wie Anm. 16), S. 30.
[24] Institute for Landscape Architecture, ETH Zurich (Hg.), Landscape
Architecture in Mutation – Essays on Urban Landscape, Zürich 2005.
[25] Vgl. Oechslin, Werner (Hg.), Hochschulstadt Zürich. Bauten für die
ETH 1855–2005, Zürich 2005, S. 14-16.
[26] Eisinger; Schneider, Stadtland Schweiz (wie Anm. 1), S. 4 u. 9.
[27] Diener u.a., Die Schweiz (wie Anm. 2), S. 166.
[28] Ebd. S. 164.
[29] Ebd. S. 18 u. 165–167.
[30] Ebd. S. 17.
[31] Corboz, Die Kunst (wie Anm. 3), S. 72.
[32] Diener u.a., Die Schweiz (wie Anm. 2), S. 136.
[33] Die funktionelle Stadt, in: Weiterbauen 1 (1934), Beilage zur
Schweizerischen Bauzeitung 104, S. 12.
[34] Diener u.a. (wie Anm. 2), S. 42, 50 u. 116.
[35] Ebd. S. 157 u. 210.
[36] Ebd. S. 213.
[37] Oswald; Schüller, Neue Urbanität (wie Anm. 22), S. 43.
[38] Diener u.a. (wie Anm. 2), S. 216 u. 220.
[39] Eisinger; Schneider (wie Anm. 1), S. 12.
[40] Corboz, Die Kunst (wie Anm. 3), S. 73.
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