Die Zukunft der europäischen Stadt
Von Friedrich Lenger, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität
Gießen
E-Mail: <friedrich.lengergeschichte.uni-giessen.de>
Die Frage nach der Zukunft der europäischen Stadt wird im Kontext der
vielerorts diagnostizierten Krise der Stadt oder des Endes der
Urbanisierung gestellt. Derlei Krisendiskussionen sind zunächst also
keineswegs exklusiv auf Europa bezogen. Das gilt für die durch den
Begriff der "Zwischenstadt" lediglich deutsch imprägnierte Debatte um
die Auflösung des älteren Stadt-Land-Gegensatzes, die ohne die ja nicht
auf Europa begrenzte Suburbanisierung und Automobilisierung kaum
vorstellbar ist.[1] Das gilt erst recht aber für die intensiv
diskutierte Frage, inwiefern und inwieweit die rasanten Veränderungen
der Kommunikations- und Informationstechnologie die Stadt als zentralen
Ort obsolet machen (werden).[2]
In der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Stadt erfährt gleichwohl
gerade der Typus der europäischen Stadt eine neue Konjunktur.
Architekten wie Fred London (Thompson & Partners), der in diesen Tagen
vor den Toren Moskaus ein gigantisches Wohnungsbauvorhaben für
wohlhabende Moskowiter plant, entdecken die Historizität der
europäischen Stadt als selling point: "Wir wollen eine europäische Stadt
bauen. An deren geschichtlicher Entwicklung haben wir uns
orientiert".[3] Ob sich diese historische Entwicklung so ohne weiteres
planerisch einholen und eine Altstadt am Reißbrett entwerfen lässt, sei
dahingestellt. Für die Zentralität eines spezifisch europäischen
Städtetypus in der gegenwärtigen urbanistischen Diskussion ist die
Planung von Rubljowskoje-Archangelskoje jedenfalls bezeichnend. Das
heißt nun nicht, dass es eine klare Definition dieses Städtetypus gäbe,
zumal mit Max Webers Idealtypus der okzidentalen Stadt angesichts
fehlender Autonomie und Autokephalie der Kommunen für das 21.
Jahrhundert wenig anzufangen ist. An die Stelle klarer Definitionen und
Theorie geleiteter Konzepte sind daher zunehmend bloße Merkmalskataloge
getreten, die in der Regel neben der geringeren Verstädterungsdynamik,
eine gleichfalls begrenzt bleibende Suburbanisierung, eine deutlich
stärkere Wertschätzung des Stadtzentrums sowohl als Wohnviertel als auch
als Standort repräsentativer öffentlicher Bauten, weit reichende
stadtplanerische Kompetenzen der Städte, ein entwickeltes System
wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Unterstützungsleistungen sowie
die Präsenz historischer Bauten im Stadtbild auflisten. Dabei deutet die
häufige Verwendung des Komparativs auf dieser keinesfalls vollständigen
Merkmalsliste bereits darauf hin, dass der so umschriebene Typus der
europäischen Stadt als Gegenbild der amerikanischen Stadt bestimmt
worden ist, die ihrerseits oft vorschnell mit einer globalisierten Stadt
gleichgesetzt wird. Inwieweit das Bild, das sich Europa von der
amerikanischen Stadt gemacht hat, oder umgekehrt das Bild, das sich
Amerika von der europäischen Stadt gemacht hat, ein Zerr- oder gar ein
Trugbild ist, soll hier nicht interessieren.[4]
Die wechselseitige Fixierung ist zum Verständnis der gegenwärtigen
Debatten aber ebenso unverzichtbar wie zur Bestimmung ihrer Grenzen.
Denn zum einen führt die Konzentration auf Europa und die USA zur
Ausklammerung gerade der Weltregionen, in denen der
Urbanisierungsprozess zur Zeit seine größte Dynamik und vielleicht auch
interessanteste Form angenommen hat und in denen von einem Ende der
Urbanisierung nicht die Rede sein kann.[5] Zum anderen lässt sie
Entwicklungstendenzen, die Europa und den USA gemein sind, wie die
Eventisierung der Städte, die Revitalisierung von Hafenvierteln oder den
massiv geförderten Städtetourismus, als weniger interessant erscheinen
als gegenläufige Entwicklungen. Und schließlich drängt die Fixierung auf
europäisch-nordamerikanische Gegensätze die Frage nach innereuropäischen
Unterschieden allzu sehr in den Hintergrund, obwohl doch erst zu zeigen
wäre, ob etwa der Verlauf der englischen Suburbanisierung dem der
kontinentaleuropäischen ähnlicher als dem der nordamerikanischen
Suburbanisierung ist oder ob die Wachstumsprozesse an der Peripherie von
Rom oder Athen und die dort geringe Bedeutung des sozialen Wohnungsbaus
überhaupt zum (nordwest-) europäischen Muster passen, um von der
Kompatibilität der ehemals sozialistischen Städte Osteuropas erst gar
nicht zu reden.
In diesen Hinsichten scheint die Debatte um die Zukunft der europäischen
Stadt begrenzt. Gleichwohl werden hier Prozesse von unbestreitbarer
Relevanz für unser aller Zukunft verhandelt. Schließlich beschwören hier
die einen die Kompaktheit der europäischen Stadt und ihre
vergleichsweise hohe städteplanerische Gestaltung als Gegenbild zu der
von der Suburbanisierung der städtischen Peripherie wie der
Urbanisierung des Landes gleichermaßen vorangetriebenen gänzlichen
Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes. Andere sehen in ihr das
verteidigungswürdige Gegenmodell zur Amerikanisierung oder
Globalisierung der Städte, als deren Hauptkennzeichen eine der
europäischen Stadt fremde, äußerst schroffe soziale Polarisierung
angesehen wird. In der politischen Nutzanwendung ist also die Rede von
der europäischen Stadt recht regelmäßig von der Behauptung einer sich
rasch vollziehenden Amerikanisierung bzw. Globalisierung begleitet.
Dieses bedrohlich klingende "de te fabula narratur!" entbehrt aber
weitestgehend einer historischen Tiefendimension oder auch nur einer
empirisch gehaltvollen Bestandsaufnahme der Entwicklungen der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA.[6] Wie eine solche
vergleichende Bestandsaufnahme aussehen könnte, möchte ich für drei auf
beiden Seiten des Atlantiks heftig diskutierte Wandlungsprozesse
skizzieren, die keinen Anspruch auf Repräsentativität oder gar
Vollständigkeit erheben. Da, wie ausgeführt, die Debatte um die Zukunft
der europäischen Stadt ganz maßgeblich eine um die Konvergenz mit
Wesenszügen der amerikanischen Stadt ist, liegt es nahe, jeweils mit
einer knappen Skizze jüngster amerikanischer Entwicklungstrends
einzusetzen und diese als Folie für eine vergleichende Einschätzung der
europäischen Situation zu benutzen.
Suburban Sprawl - das Ende städtischer Zentralität?
"Die eigentliche Entwicklungsdynamik der Stadt wird seit Jahrzehnten
durch Suburbanisierung bestimmt - einen globalen Trend, für den es kaum
Ausnahmen zu geben scheint."[7] Diese in ihrem ersten Teil kaum zu
bestreitende Feststellung Rudolf Stichwehs erscheint in ihrer
Qualifizierung als ausnahmeloser Globaltrend aus
europäisch-amerikanischer Vergleichsperspektive problematisch. Das gilt
zunächst hinsichtlich Ausmaß und Form der Suburbanisierung. Schließlich
lebt seit 1990 eine Mehrheit der US-Bürger in metropolitan regions von
mehr als einer Million Einwohnern und innerhalb dieser vor allem in
suburbs. Diese als Vororte zu übersetzen, würde die enormen Unterschiede
im Ausmaß der Flächenzersiedelung verwischen. Man muss nicht das
Extrembeispiel Los Angeles bemühen, um zu demonstrieren, dass der -
aufgrund der späteren Automobilisierung ohnehin verzögerte - suburban
sprawl in Europa bislang kein vergleichbares Ausmaß angenommen hat. Das
gilt selbst für England und gerade auch für das dünn besiedelte
Skandinavien. Das Unverständnis amerikanischer Besucher gegenüber einer
durchaus anerkannten Planung hoch verdichteter Satellitenstädte in
Schweden oder Finnland belegt dies besser als jede Kennziffer.[8] Es ist
angesichts fortbestehender Lenkungsmechanismen auch nicht ersichtlich,
warum die hier nur angedeuteten Unterschiede in Ausmaß und Form der
Suburbanisierung nicht fortbestehen sollten, die der Analyse des sich
auch in Europa rasch wandelnden Stadt-Land-Verhältnisses nichts von
seiner Dringlichkeit nimmt.[9]
Dies gilt insbesondere, wenn man die jüngste Dynamik des
Suburbanisierungsprozesses betrachtet. Zwar ist auch in Europa der
Suburbanisierung der Wohnbevölkerung die Suburbanisierung von Handel und
Gewerbe gefolgt und dies - wie in Ostdeutschland nach 1989/90 - in
gelegentlich sehr krassem Ausmaß. Und doch ist der
Suburbanisierungsprozess in Europa sehr viel stärker auf die städtischen
Zentren ausgerichtet geblieben, denen ein erheblicher Teil der Freizeit-
und Kulturangebote vorbehalten geblieben ist. Dagegen haben sich
Restaurants, Kinos und Theater in den USA häufig in großen
Einkaufszentren fernab der städtischen Zentren angesiedelt. Dabei
handelt es sich um mehr als einen bloß quantitativen und in Zukunft an
Bedeutung verlierenden Unterschied, weil in den Vereinigten Staaten
zugleich die Zentrumsorientierung vieler suburbs aufgehoben oder doch
zumindest deutlich geschwächt worden ist. In der amerikanischen
Diskussion firmieren sie als technoburbs oder edge cities.[10] Sie
wachsen typischerweise an den Knotenpunkten wichtiger Autobahnen im
weiteren Umfeld städtischer Zentren heran. Damit ändern sie die
Verkehrsflüsse, die nicht länger primär aus dem Speckgürtel ins Zentrum
der Metropolen gehen, sondern die suburbs untereinander verbinden. Ihren
vielleicht wichtigsten Ursprung haben sie im Auszug der sog. back
offices, welche die Verwaltungsroutinen großer Firmen erledigen. Einen
ökonomischen Anreiz zum Auszug in die technoburbs bieten den sich dort
ansiedelnden Firmen nämlich nicht allein die niedrigeren
Grundstückskosten, sondern das Reservoir vergleichsweise gut
ausgebildeter Ehefrauen, die zu eher bescheidenen Löhnen bereit sind,
Büroarbeiten auszuführen. Dass dies im eigenen Haushalt geschieht, ist
auch in den USA eine seltene Ausnahme. Diese technoburbs entstehen also,
wenn nach den Bewohnern, den industriellen Arbeitsplätzen und den
Geschäften auch die Büros die Innenstädte verlassen.
Ähnliche Standortverlagerungen der back offices an die städtische
Peripherie sind auch in Europa unübersehbar, doch scheinen sie nur in
Ausnahmefällen ähnliche siedlungsräumliche Konsequenzen zu haben. Der
verkehrsmäßigen Anbindung scheint bei der Entstehung und Expansion
solcher technoburbs in den USA zudem sehr viel entscheidendere Bedeutung
zuzukommen, die im zuvor ländlichen Nordvirginia am Autobahnring um
Washington ebenso aus dem Boden geschossen sind wie im südkalifornischen
Orange County. Es sind die die Zentren umfahrenden beltways, an denen
sich die Standortentscheidungen orientieren und die es möglich machen,
dass die verschiedenen technoburbs vielleicht stärker aufeinander als
auf das großstädtische Zentrum bezogen sind. Ähnliche Muster haben sich
in Europa kaum herausgebildet, weil von durchaus vergleichbaren
Standortentscheidungen großer Unternehmen und ihrer verstärkten
Orientierung an Autobahnkreuzen und Flughäfen keine starken Impulse für
die Errichtung neuer Siedlungen ausgegangen sind. Dafür dürfte es eine
Reihe von Gründen geben, nicht zuletzt den, dass die ungleich höhere
Verdichtung europäischer Agglomerationsräume (einschließlich der
dazugehörigen Vorortsiedlungen) und die aufgrund des stärker ausgebauten
öffentlichen Nahverkehrs bessere Erreichbarkeit auch peripherer
Standorte eine solche weniger dringlich gemacht hat. In den USA dagegen
sind die edge cities nicht nur ungemein wachstumsstark, sondern zugleich
Gegenstand des Optimismus einiger Architekten, die das Programm eines
New Urbanism für sie entwickelt haben - Visionen, in denen sogar
Fußgänger wieder einen Platz finden sollen. Aber auch diese nicht selten
an Idealbildern der europäischen Stadt orientierten Visionen belegen
keine europäisch-amerikanische Konvergenz. Denn es scheint Skepsis
gegenüber der Planungseuphorie der im internationalen Congress for the
New Urbanism zusammengeschlossenen Architekten und Städteplaner
angebracht. Und das nicht allein wegen der Halbherzigkeit der
Grundkonzeption, die von einer Besiedlungsdichte ausgeht, die keinen
öffentlichen Nahverkehr tragen kann und deshalb auf das Auto angewiesen
bleibt, sondern vor allem weil dem Verhältnis privaten und öffentlichen
Raums zueinander keine hinreichende Beachtung geschenkt wird.[11]
Städtischer Raum - städtische Öffentlichkeit
Denn öffentliche Räume kennen die neuen technoburbs ebenso wenig wie die
klassischen suburbs. Optimistische Betrachter der amerikanischen
Entwicklung haben dagegen argumentiert, die - seit den 1950er Jahren
auch wegen veränderter Abschreibungsbedingungen für gewerblich genutzte
Immobilien allerorten aus dem Boden geschossenen - shopping malls seien
längst an die Stelle von downtown getreten.[12] Und wenn man schaut,
welche funktionelle Vielfalt amerikanische shopping malls aufweisen,
leuchtet ein, dass die Einkaufszentren mit ihren Geschäften,
Restaurants, Hotels, Kinos, Eisbahnen, Theatern, Fitnesscentern und
Museen über ein Konsum- und Freizeitangebot verfügen, das mit mancher
Innenstadt konkurrieren kann, ja inzwischen häufig darüber
hinausgeht.[13] Aber Größe und funktionelle Vielfalt, welche die größten
amerikanischen Einkaufszentren zu touristischen Zielen und ernsthaften
Konkurrenten von Disneyland haben werden lassen, ersetzen keinen frei
zugänglichen öffentlichen Raum, ohne den eine Stadt so wenig denkbar
scheint wie ein demokratisches Gemeinwesen. Auch im größten
Einkaufszentrum bleibt, wie der supreme court 1976 entschied, die
verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit Beschränkungen unterworfen,
und das Recht des freien Zugangs der einzelstaatlichen Regelung
überlassen. Im Ergebnis verteidigen ganze sechs einzelstaatliche
Verfassungen die Redefreiheit gegen die Eigentumsrechte der privaten
Eigentümer und selbst in diesen Staaten ist die geschützte politische
Betätigung auf das Verteilen von Flugblättern begrenzt.[14] Über
Zugangsbeschränkungen aber entscheiden die Betreiber und die zahlreich
von ihnen beschäftigten Sicherheitskräfte.
Das ist in europäischen Einkaufszentren ähnlich, doch treten diese in
der Regel eben nicht an die Stelle frei zugänglichen Stadtraums, sondern
fügen sich in diesen ein. Dabei mögen die ubiquitären Fußgängerzonen der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ästhetisch häufig einiges zu
wünschen übrig lassen. Doch bieten die Ramblas in Barcelona genauso wie
zentrale Einkaufsstraßen in Stuttgart oder Florenz freien öffentlichen
Zugang für Konsumenten, Demonstranten, Artisten, Trickbetrüger oder
Taschendiebe. Tendenzen zur Kommerzialisierung, Privatisierung und
Militarisierung potentiell öffentlichen Raums gibt es auch hier, doch
sind sie in den Vororten und Stadtzentren der USA sehr viel stärker
ausgeprägt: Vorortsiedlungen werden immer häufiger als gated communities
angelegt, zu denen der gewöhnliche Bürger ohne Einladung eines Bewohners
keinen Zugang hat.[15] So hat sich die Zahl der Beschäftigten in den
Sicherheitsdiensten des county von Los Angeles allein in den 1980er
Jahren mehr als verdreifacht.[16] Ein ähnliches Ausmaß kann die
Beschränkung öffentlichen Raums in den städtischen Zentren selbst nicht
annehmen. Doch schreiten Privatisierung und Militarisierung auch hier
voran. Für erstere steht die gesamte Drive-in-Kultur, die inzwischen
längst auch Gottesdienste auf dem riesigen Parkplatz eines Autokinos
mitumfasst, wo Zehntausende von Besuchern die Predigt des Geistlichen,
dem sie zuschauen, per Autoradio in ihren geschlossenen und überwiegend
klimatisierten Limousinen hören.[17] Neben solchen selbst gewählten
Formen der Isolation steht der Ausschluss vor allem der armen
Bevölkerung, wie den immer zahlreicher werdenden Obdachlosen, z.B. durch
die Schließung von Parkanlagen außerhalb der Geschäftszeiten oder
mittels Privatisierung öffentlicher Parks.[18]
Postfordismus, Neoliberalismus, soziale Polarisierung
Das führt zu einem dritten Bereich, für den häufig eine Konvergenz der
nordamerikanischen und der europäischen Entwicklung behauptet worden ist
- den der sozialen Polarisierung der städtischen Bevölkerung. So haben
nicht zuletzt die gewalttätigen Unruhen des Vorjahres in Paris und Lyon
zu voreiligen Parallelisierungen mit Unruhen in Los Angeles oder Chicago
geführt, wobei mehr übersehen worden ist als nur die für Europa im
Gegensatz zu den USA typische Verortung der sozialen Spannungszonen in
den Hochbauten des sozialen Wohnungsbaus an der städtischen Peripherie.
Auch sonst scheint es fraglich, ob man für das für die USA zentrale
Problem einer schwarzen underclass in den innerstädtischen Ghettos, die
durch die Deindustrialisierung und die Suburbanisierung der verbliebenen
industriellen Produktionsstätten weitgehend vom Arbeitsmarkt
abgeschnitten ist, ein europäisches Pendant findet.[19] Vorliegende
Fallstudien sprechen dagegen.[20] Ohnehin scheint gegenüber den von
einer europäisch-amerikanischen Konvergenz ausgehenden Konzepten einer
Stadtsoziologie, die gerne von den neoliberalen Tendenzen in der
postfordistischen Stadt spricht, Skepsis angebracht. Zwar deuten auch
Studien zu europäischen Städten auf eine verstärkte soziale
Polarisierung der städtischen Bevölkerung hin, doch rechtfertigt dies
keine Gleichsetzung mit der nordamerikanischen Situation.[21] Denn der
aus der Globalisierung abgeleitete Prozess eines neoliberalen Abbaus
sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Stadt- und Wohnungspolitik wird gerne
übertrieben. Zum einen war diese Stadt- und Wohnungspolitik in großen
Teilen Südeuropas ohnehin weit weniger ausgeprägt als in den vorschnell
zur europäischen Norm erhobenen Industriestaaten des Nordwestens. Zum
andern sind dort die Bastionen des Wohlfahrtsstaats wohl nicht
durchgängig in dem Maße geschliffen, wie uns seine Verteidiger unter den
Stadtsoziologen aus verständlichen Gründen glauben machen wollen.[22]
Die angeführten Beispiele, die aus Platzgründen nicht vertieft werden
können, begründen Zweifel an den verbreiteten Thesen vom Aufgehen des
Typus der europäischen Stadt in der amerikanischen oder globalisierten
Stadt des 21. Jahrhunderts. Dieser Befund sollte indessen nicht
Beruhigung stiften. Vielmehr belegen die obigen Ausführungen eine
doppelte Notwendigkeit, nämlich zum einen konzeptionell und regional den
aus der simplen Gegenüberstellung (vermeintlicher) europäischer und
nordamerikanischer Charakteristika der Stadtentwicklung resultierenden
Schematismus zu überwinden und zum anderen den diesen Schematismus
gleichfalls fördernden Dichotomien von Stadtsoziologie und
Gegenwartspolitik eine differenzierte historische Analyse des
demografischen und ökonomischen, des stadträumlichen und sozialen,
baulichen und kulturellen Wandels der europäischen Städte des 20.
Jahrhunderts gegenüber zu stellen. Ohne selbst Prognosen zu umfassen,
könnte eine solche Analyse der Debatte um die Zukunft der europäischen
Stadt eine Tiefendimension geben, die man bislang schmerzlich vermisst.
Prof. Dr. Friedrich Lenger lehrt Neuere Geschichte am Historischen
Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen und beschäftigt sich zur
Zeit vor allem mit der Geschichte der europäischen Stadt im 20.
Jahrhundert sowie mit der Medien- und Kommunikationsgeschichte seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts. E-Mail:
<friedrich.lengergeschichte.uni-giessen.de>
Literaturempfehlungen:
Bronger, Dirk, Metropolen - Megastädte - Global Cities. Die
Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004
Castells, Manuel, Das Informationszeitalter, Bd. 1: Der Aufstieg der
Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001
Davis, Mike, City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles, New
York 1992
Häußermann, Hartmut u.a. (Hgg.), An den Rändern der Städte. Armut und
Ausgrenzung, Frankfurt am Main 2004
Lenger, Friedrich, Urbanisierung als Suburbanisierung. Grundzüge der
nordamerikanischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, Bochum 2003
Lenger, Friedrich; Tenfelde, Klaus (Hgg.), Die europäische Stadt im 20.
Jahrhundert. Wahrnehmung - Entwicklung - Erosion, Köln 2006
Sassen, Saskia, The Global City: New York, London, Tokyo, 2. Aufl.,
Princeton 2001
Scott, Allen J.; Soja, Edward (Hgg.), The City. Los Angeles and Urban
Theory at the End of the Twentieth Century, Berkeley 1996
Siebel, Walter (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004
Wilson, William Julius, When Work Disappears. The World of the New Urban
Poor, New York 1996
Anmerkungen:
[1] Vgl. knapp: Sieverts, Thomas, Die Kultivierung von Suburbia, in:
Siebel, Walter (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004, S.
85-91.
[2] Vgl. nur die vielleicht drei prominentesten Figuren: Sassen, Saskia,
The Global City: New York, London, Tokyo, 2. Aufl., Princeton 2001;
Castells, Manuel, Das Informationszeitalter, Bd. 1: Der Aufstieg der
Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001 und Soja, Edward W., Postmetropolis.
Critical Studies of Cities and Regions, Oxford 2000.
[3] Zit. in: Ochs, Birgit, Stadt der Millionäre, Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung, 07.05.2006, V 13.
[4] Hierzu veranstalte ich gemeinsam mit meinem Darmstädter Kollegen
Dieter Schott auf dem Konstanzer Historikertag 2006 die Sektion "Die
europäische und die amerikanische Stadt seit dem späten 19. Jahrhundert:
Geschichtsbilder - Leitbilder - Trugbilder". [5] Vgl. dazu: Bronger,
Dirk, Metropolen - Megastädte - Global Cities. Die Metropolisierung der
Erde, Darmstadt 2004.
[6] Vgl. hierzu auch meine Einleitung zu: Lenger, Friedrich; Tenfelde,
Klaus (Hgg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung -
Entwicklung - Erosion, Köln 2006. In diesem Band finden sich zahlreiche
aktuelle Beiträge zu den hier diskutierten Themen.
[7] Stichweh, Rudolf, Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie, in:
Ders., Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main
2000, S. 184-206, bes. S. 203.
[8] Vgl. etwa: Berry, Brian J.L., Comparative Urbanization. Divergent
Paths in the Twentieth Century, 2. Aufl., London 1981, 145ff.
[9] Dazu zahlreiche Beiträge in Lenger; Tenfelde, Europäische Stadt (wie
Anm. 6).
[10] Vgl. auch zum Folgenden: Fishman, Robert, Bourgeois Utopias. The
Rise and Fall of Suburbia, New York 1987, bes. Kap. 7; Garreau, Joel,
Edge City. Life on the New Frontier, New York 1991 und Teaford, Jon C.,
Post-Suburbia. Government and Politics in the Edge Cities, Baltimore
1997.
[11] Vgl. hierzu die bei Feinstein, Susan S.; Campbell, Scott, Readings
in Urban Theory, 2. Aufl., Oxford 2002, S. 362-385 dokumentierte
Diskussion.
[12] Zum steuerrechtlichen Hintergrund vgl. Hanchett, Thomas W., U.S.
Tax Policy and the Shopping-Center Boom of the 1950s and 1960s, American
Historical Review 101 (1996), S. 1082-1110.
[13] Vgl. exemplarisch Rybczynski, Witold, The New Downtown, wieder in:
LeGates, Richard T.; Stout, Frederic (Hgg.), The City Reader, 2. Aufl.,
London 2000, S. 171-179.
[14] Vgl. Cohen, Lizabeth, From Town Center to Shopping Center. The
Reconfiguration of Community Marketplaces in Postwar America, American
Historical Review 101 (1996), S. 1050-1081, bes. S. 1068ff.
[15] Vgl. z.B.: Davis, Mike, City of Quartz. Excavating the Future in
Los Angeles, New York 1992, S. 244 oder Gelinsky, Katja, Schöne neue
Musterwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.2002, S. 9.
[16] Vgl. nur: Davis, City (wie Anm. 15), S. 250.
[17] Vgl. Jackson, Kenneth T., Crabgrass Frontier. The Suburbanization
of the United States, Oxford 1985, S. 264f.
[18] Vgl. als Fallstudie Wolch, Jennifer, From Global to Local. The Rise
of Homelessness in Los Angeles during the 1980s, in: Scott, Allen J.;
Soja, Edward W. (Hgg.), The City. Los Angeles and Urban Theory at the
End of the Twentieth Century, Berkeley 1996, S. 390-425 sowie zur
Einführung eines Eintrittsgeldes von 12 Dollar pro "nonresident" Familie
in einem Park im südkalifornischen San Marino: Davis, Mike, Magical
Urbanism. Latinos Reinvent the U.S. City, London 2000, S. 73.
[19] Vgl. nur: Katz, Michael (Hg.), The "Underclass" Debate. Views from
History, Princeton 1993 sowie meinen Beitrag zu den USA in: Lenger;
Tenfelde, Europäische Stadt (wie Anm. 6).
[20] Vgl. nur: Wacquant, Loic J.D., Roter Gürtel, Schwarzer Gürtel.
Rassentrennung, Klassenungleichheit und der Staat in der französischen
städtischen Peripherie und im amerikanischen Ghetto, in: Häußermann,
Hartmut u.a. (Hgg.), An den Rändern der Städt. Armut und Ausgrenzung,
Frankfurt am Main 2004, S. 148-200.
[21] Vgl. aus der Fülle neuerer Sammelbände nur: O`Loughlin, John;
Friedrichs, Jürgen (Hgg.), Social Polarization in Post-Industrial
Metropolises, Berlin 1996, oder Marcuse, Peter; van Kempen, Ronald
(Hgg.), Globalizing Cities. A New Spatial Order?, Oxford 2000 sowie
differenzierend Burgers, Jack; Kloosterman, Robert, Dutch Comfort.
Postindustrieller Übergang und soziale Ausgrenzung in Spangen,
Rotterdam, in: Heitmeyer, Wilhelm u.a. (Hgg.), Die Krise der Städte.
Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das
ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Frankfurt am Main 1998, S. 211-230.
[22] Vgl. nur: Lehto, Juhani, Different Cities in Different Welfare
States, in: Bagnasco, Arnoldo; Le Galès, Patrick (Hgg.), Cities in
Contemporary Europe, Cambridge 2000, S. 112-130.
URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=772>
Quellennachweis:
FORUM: Das Ende der Urbanisierung? (Lenger). In: ArtHist.net, 11.09.2006. Letzter Zugriff 15.01.2025. <https://arthist.net/archive/28519>.