CFP 02.04.2019

Gegen die Ordnung (Munich, 13-14 Sep 19)

München, 13.–14.09.2019
Eingabeschluss : 02.06.2019

Bernhard Seidler
Interdisziplinärer Nachwuchsworkshop im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe 1986, Natur in politischen Ordnungsentwürfen, Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit, LMU München

In ihrem jüngst erschienenen Buch Gegen die Natur hat Lorraine Daston die Natur als bevorzugten „Modellkandidaten“, mithin als „Vorratskammer aller Ordnungen“ (Daston 2018, S. 78f.) gekennzeichnet: Es sei „schwierig – vielleicht unmöglich –, sich eine Ordnung vorzustellen, die nicht handgreiflich und prächtig im Schaukasten der Natur zu finden wäre“ (ebd., S. 86). Insofern auch die Topik als ein solches Ordnungssystem von Argumentationsmustern (in der Sprache ebenso wie im Bilde) fungiert und sich dabei auf das vorhandene kulturelle Gedächtnis bezieht, liegt auch hier eine unbewusste Verquickung mit oder ein bewusster Rückgriff auf die Natur bereits strukturell nahe und findet sich tatsächlich immer wieder realisiert. So bedarf es etwa nur einer schattenspendenden Linde inmitten einer Blumenwiese, eines leise rieselnden Bächleins, dazu Vogelsang und Blütenduft – und fertig ist der mustergültige locus amoenus nach dem Vorbild antiker und mittelalterlicher Topik. Was an diesem Ort geschieht und geradezu geschehen kann, scheint vorprogrammiert, Gestaltung und Funktion des Ortes erschöpfen sich scheinbar bereits in seiner Namensgebung. Ein Flecken Natur wird zu einem Inbegriff von Ordnung, zugleich die Kontingenz des Natürlichen im Regelhaft-Wiederkehrenden des Topos ‚gebändigt‘. Doch was geschieht, wenn sich die Natur dem Topos widersetzt, das aufgerufene Bild nicht oder nicht ganz die ‚einprogrammierte‘ Topik befriedigt und über seine Funktion hinauswächst oder hinter ihr zurückbleibt – in jedem Falle aber gegen die Ordnung des Topos rebelliert? Ausgehend von dieser Frage, möchte der Workshop verschiedene Modi solcher Brechungen untersuchen:

Eine der Pointen im bekannten Lai Laüstic der Marie de France (um 1180) beispielsweise liegt in einer solchen Bedeutungsverschiebung eines herkömmlichen Naturtopos: Eine ehebrecherische Dame gibt vor, dem nächtlichen Gesang der Nachtigall lauschen zu wollen, um heimlich mit ihrem Geliebten am Fenster sprechen zu können. Der Gatte, der die Codierung offenbar durchschaut, gibt sich ahnungslos und tötet einen entsprechenden Vogel, dessen Gesang sie sooft um den Schlaf gebracht habe. Aus dem beidseitigen Spiel mit dem Topos ist blutiger Ernst geworden. Auch im Falle eines Holzschnitts in Ulrich Molitors Hexentraktat De lamiis (1489) erwachsen aus einem untererfüllten Topos praktische Konsequenzen: Anstelle ikonographisch eindeutig ausgewiesener Hexen zeigt der Schnitt einfach nur drei Frauen an einem Tisch und unterläuft so nicht nur den bildhaften Topos selbst, sondern wird auch die Möglichkeit ihrer Identifizierung verunsichert. Überspitzt formuliert: Wenn alle Frauen mit Kopftuch an Tischen potentiell Hexen sind, dann wirkt das Bild nicht als soziales Ausgrenzungsinstrument, zu welchem Molitor es wohl gebrauchen möchte, sondern unterstellt prinzipiell alle Frauen dem Hexenverdacht und hinterfragt doch – post absurdum sozusagen – dessen Verdächtigung und rationale Verdächtigungsmaschinerie.

Eine Brechung, wie wir sie betrachten wollen, liegt aber auch bei einem Topos vor, dem ‚seine Natur kommt‘, bei dem also die Re-Naturalisierung ein neues Bedeutungsspektrum eröffnet, das von jenem des gängigen Topos abweicht: Wenn so etwa auf Gemälden des 15. und 16. Jahrhunderts Eremiten scheinbar ihrer wilden Natur gemäß an Quellen dargestellt werden, mag das zentral mit der Symbolfunktion von Wasser und Quelle als Repräsentanten der Taufe, Christi und des Heiligen Geistes verbunden sein; doch bereits, wenn ein solcher Eremit eine Flasche, Kanne oder einen Krug in der Hand hält, wird die Bildbedeutung um den Diskurs über Askese und Diätetik erweitert, also um die Möglichkeit, das Wasser auch (ganz ‚unsymbolisch‘) einfach zu trinken. Den Extremfall markiert eine Zeichnung Albrecht Dürers (1521), auf welcher der Hl. Antonius einer durch die erotische Versuchung bewirkten Erhitzung seiner spiritus tatsächlich Wasser schöpfend und damit – rein physiologisch gedacht – abkühlend begegnet. Analoges lässt sich bei Bernardus Silvestris beobachten, der die Schaffung des Menschen im zweiten Buch seiner Cosmographia (um 1140) in den Garten Gramision verlagert, der grosso modo der eingangs skizzierten Stereotype eines locus amoenus entspricht und dessen Pflanzen zum Lob der ‚Natura‘, die als Personifikation auftritt, nur umso heftiger blühen. Damit aber wird zugleich der stumme Protest der ‚Physis‘ überspielt, die mit ihrer Aufgabe – der Schaffung des Menschen aus den kärglichen Resten der Urmaterie – an ihre Grenzen gerät, ja der topisch murmelnde Bach, der durch den Paradiesgarten fließt, übertönt sogar im vermeintlich gleichen Artikulationsmodus das Murmeln der Klagenden und verhindert eine hörbare Kritik an Bernardus’ neuplatonisch-delegierender Schöpfungsordnung.

Anhand solcher konkreter Fallbeispiele (u-/dys-)topischer Transgression in Bildern und Texten der Vormoderne möchten wir im Rahmen eines interdisziplinären Workshops die Frage nach der Funktion von Naturtopoi noch einmal neu perspektivieren: Im Zentrum unseres Interesses stehen dabei Probleme und Möglichkeiten, die sich für einen Topos qua Natürlichkeit (Naturgewalt / Naturgesetz / Lebendigkeit) ergeben können, und damit sein Potential für die künstlerische Auseinandersetzung, zumal im Kontext mit anderen Wissensdiskursen.
Interessierte Nachwuchswissenschaftler*Innen der Kunstgeschichte sowie Literaturwissenschaften und angrenzender Disziplinen sind herzlich eingeladen, ein Abstract für einen 20minütigen Vortrag (ca. 500 Wörter) bis zum 02.06.2019 einzureichen.

Reise- und Übernachtungskosten können aus Mitteln der Forschungsgruppe übernommen werden.

Organisatoren:

Bernhard Seidler (LMU München): b.seidlercampus.lmu.de

Maximilian Wick (LMU München): maximilian.wicklmu.de

Quellennachweis:
CFP: Gegen die Ordnung (Munich, 13-14 Sep 19). In: ArtHist.net, 02.04.2019. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/archive/20530>.

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